Gewaltfreie Nachbarschaftshilfe ist machbar, Frau Nachbarin!

von Anne Dietrich
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Als Frau kannst Du doch abends nicht mehr alleine vor die Tür gehen, und als erkennbar ausländische Person erstrecht nicht - viel zu gefähr­lich. Die Furcht ist allenthalben zu hören und greift um sich: Angst um die eigene Sicherheit und Angst, Mitmenschen in einer Gewalt- oder Bedrohungssituation anzutreffen und hilflos zu sein, unfähig, einzugrei­fen und zu helfen. Heißt das nun, daß wir uns künftig mehr und mehr in den eigenen vier Wänden einbunkern müssen? Daß wir Kontakte nach draußen besser sein lassen und immer einsamer werden? Und daß da­durch, daß wir unsere Nachbarn nicht mehr kennen und nichts mehr über sie wissen, der Deckmantel der Anonymität als Nährboden für Un­sicherheit und mögliche Gewaltverbrechen immer dicker wird? Ja, so sei es eben, wird oft gesagt, da könne man nichts dran machen. Wirk­lich nicht?

"Man kann ja doch was tun!", dieser neugierig machende Slogan prangt über der ersten Ausgabe des Praxis-Hand­buchs "Gewaltfreie Nachbarschafts­hilfe". Das Konzept stammt aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten und öffnet den LeserInnen die Augen für Handlungs-Alternativen zum Nichtstun und zur Gegengewalt ange­sichts zunehmender Gewalt im Wohnumfeld und für die Vorbeugung gegen fremdenfeindliche Übergriffe. Mit Beispielen aus den USA, Großbri­tannien und Deutschland werben die AutorInnen für gewaltfreies Handeln in Situationen direkter oder drohender körperlicher Gewalt und für den Aufbau von Nachbarschafts-Initiativen für ein sicheres Wohnumfeld. Das Konzept sei aus der Sorge um das Leben bedrohter ausländischer Mitmenschen entwickelt, aber nicht darauf beschränkt, heißt es in der Broschüre, "sondern kann überall dort umgesetzt werden, wo im Wohnumfeld Gewalt droht".

Es bleibt aber nicht bei der Schilderung des Konzepts und wie es andere umge­setzt haben, sondern es werden viele praktische Tipps gegeben für LeserInnen, die von Theorie die Nase voll haben und endlich wissen wollen, was mensch wirklich tun kann. Dies beginnt bei der Frage, wie überhaupt ein Kontakt mit der Nachbarschaft hergestellt werden kann, wie eine Initiative organisiert und bekannt gemacht wird. Erfahrungsberichte, Checklisten und methodische Hinweise zeigen, wie das Ziel der ge­waltfreien Nachbarschaftshilfe zu errei­chen ist: "NachbarInnen lernen einander kennen und schaffen dabei Voraussetzungen, um sich wieder in 'ihrem' Wohngebiet heimisch und sicher zu fühlen. Man weiß voneinander, daß man sich im Notfall aufeinander verlassen kann."

Darüber hinaus wird ein Trainingskonzept zum gewaltfreien Eingreifen in Gewalt-Situationen vorgestellt. Das Ziel: Herausfinden und Trainieren von Möglichkeiten, sich in bedrohlichen und gewalttätigen Situationen "das Heft nicht völlig aus der Hand nehmen zu lassen, sondern unbeirrbar immer wieder neue Anläufe zu machen, um die Situation aktiv so zu definieren, daß auch für das gewaltbereite Gegenüber Gewalt keine angemessene Handlungsmöglichkeit darstellt". Das heißt: Ran­dalierer sollen dazu gebracht werden, zu reden statt draufzuhauen und zu grölen? Vergewaltiger sollen sich mit dem po­tentiellen Opfer unterhalten an statt ihm seinen Willen aufzuzwingen? Unmög­lich! mögen viele meinen. Und doch: Es gibt verblüffend einfache "kreative Antworten", die aus Gewalt-Situationen herausführen. Zur Illustration wird ein Training geschildert, in dem die Teil­nehmerInnen mit einer solchen Szene konfrontiert wurden und Reaktionen ausdenken sollten. Sie waren "meist von der unerwartet großen Zahl der in der Gruppe erarbeiteten Handlungsalterna­tiven zur Gegengewalt sehr überrascht".

Sympathisch, weil bescheiden und selbstkritisch, treten die VerfasserInnen dann aber einen Schritt zurück und betrachten selbst die Grenzen des Trai­ningskonzepts: Tiefergehende Konflikt- und Aggressionsursachen machen es nötig, so wird festgestellt, daß sich ei­nem Trainingsprogramm zum selbstsi­cheren Auftreten gegenüber einzelnen Gewalt-Situationen gesamtgesellschaftliche Maßnahmen hinzugesellen müs­sen: Erziehung zu gegenseitiger Ach­tung und Toleranz als Aufgabe für El­tern und Schule sind ebenso gefragt wie Schritte zu mehr sozialer Gerechtigkeit von unseren PolitikerInnen.

Die Broschüre ist Aufforderung für jedeN einzelneN zum Hinsehen, Ermuti­gung zum Tun des Möglichen bei dro­hender oder stattfindender Gewalt ge gen Mitmenschen. Für mich wirkt sie wie die Entlarvung der Überholtheit des staatlichen Gewaltmonopols: Wo Poli­zei und schwarze Sheriffs Furcht und Gewalt durch die Drohung mit Gegen­gewalt nicht mehr eindämmen können, ergreifen jetzt NachbarInnen selbst die Initiative. Selber aktiv werdend und gemeinschaftlich handelnd können sie die Handlungsweisen bei der Bekämp­fung von Angst und Gewalt selbst be­stimmen und gleichzeitig mehr Le­bensqualität vor ihrer Haustür schaffen. Ist dieses Zurückbringen von staatlichen Funktionen des Schutzes und der Gegenwehr gegen Gewalt Risiko oder Chance? Könnte sie nicht zur Behaup­tung des Rechts des Stärkeren und im­mer neuer Gegengewalt führen, die schließlich in Banden-Kriegen enden könnte? Deshalb ist solche Initiative nur dann eine Chance, wenn die Beteiligten dabei gewaltfreie Handlungsweisen er­finden und durchsetzen und am Ziel der Beseitigung von Konfliktursachen ar­beiten.

Diese beiden Aspekte - Ermunterung zu eigener Initiative und Aufzeigen und Anbieten gewaltfreier Handlungsoptio­nen - zusammenzuführen, ist ein großes Verdienst des Praxishandbuchs. Mit den vielen Beispielen, Tipps und Übungsan­regungen ist es eine runde Sache, die ich nur wärmstens empfehlen kann. Für de­ren bescheidenen Preis von DM 24,80 kann mensch ruhig mal ein Abendessen im italienischen Restaurant sausen las­sen - und wird durch die spannende Lektüre dicke entschädigt.

"Man kann ja doch was tun! Gewalt freie Nachbarschaftshilfe: Kreatives Eingreifen in Gewaltsituationen und gemeinschaftliche Prävention fremden feindlicher Übergriffe". Hrsg. und Vertrieb: Bund für Soziale Verteidigung. Postfach 2110, 32378 Minden, DM 24,80 plus Versandkosten.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt