Ukraine: Ein geschichtlicher Rückblick

Im Schnellgalopp durch 1.300 Jahre

von Christine Schweitzer
Schwerpunkt
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Das Gebiet der Ukraine teilt das Schicksal des gesamten mittel- und osteuropäischen Raums, was die Wanderungsbewegungen in der Zeit der Völkerwanderung und das Entstehen frühmittelalterlicher Reiche anging. Die heute gerne von Putin beschworene Einheit der Völker Russlands und der Ukraine geht auf die Zeit der sog. Kiewer Rus zurück, einem im 9. Jahrhundert von ostslawischen Völkern errichtetes Reich mit Kiew als Hauptstadt. Es löste sich im 12. Jahrhundert beim Einfall der Mongolen und im Rahmen von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Fürstentümern der Region auf. Die Folgezeit war von Machtkämpfen, bei denen auch die Zugehörigkeiten zu Ost- bzw. Westkirche eine Rolle spielten, geprägt.

Eine nationalistisch interpretierte ukrainische Identität entstand erst im 19. Jahrhundert, parallel zu gleichartigen Bewegungen in ganz Europa. Bis Ende des 18. Jahrhunderts gehörten Teile der Ukraine zu Polen, andere zu Russland, danach fiel der Großteil der bislang polnischen Gebiete im Rahmen der drei Teilungen Polens an Russland.

Das 20. Jahrhundert

Im ersten Weltkrieg kämpften Ukrainer auf beiden Seiten. Nach der Februarrevolution in Russland 1917 und dem Sturz des Zaren kam es zu einer kurzen Zeit der Unabhängigkeit der Ukraine. Es folgte ein Bürgerkrieg, den die Bolschewiken gewannen; im März 1919 wurde die Ukraine zu einer Sowjetrepublik und 1922 zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Die Krim war nicht Teil der Ukraine, sondern besaß einen Autonomiestatus innerhalb Russlands.

Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft unter Stalin führte 1932/33 zu einer Hungersnot und Verfolgung all derjenigen, die sich wehrten, den hohen Getreideabgaben an Moskau Folge zu leisten. Große Zahlen hungernder Menschen flohen in die Städte, aber wurden gewaltsam aufs Land zurückgeschickt. Es wird geschätzt, dass allein in der Ukraine 3,5 bis 4 Millionen Menschen an Hunger und Verfolgung starben. Insgesamt forderte diese - in der Ukraine als „Holodomor“ bezeichnete - Zeit geschätzt fünf bis sechs Millionen Opfer, keineswegs nur in der Ukraine, diese war aber besonders betroffen.

Im zweiten Weltkrieg nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion war die Ukraine eines der Hauptschlachtfelder. Die Ukraine war bis 1944 unter deutscher Kontrolle, und viele Ukrainer*innen und Krimtartar*innen kämpften auf der Seite Deutschlands, einschließlich der Beteiligung an den Massenmorden an der jüdischen Bevölkerung, denen bis 1944 mindestens 1,5 Millionen Jüd*innen zum Opfer fielen. Einer der Anführer war Stepan Bandera, der heute noch oder wieder in der Ukraine verehrt wird. Andere Ukrainer*innen schlossen sich den sowjetischen Partisanen an.

Nach dem Sieg über Deutschland wurden vom stalinistischen Regime fast 190.000 Krimtartar*innen wegen des Vorwurfs der Kollaboration mit den Deutschen von Stalin nach Zentralasien deportiert, wobei bis zur Hälfte der Deportierten ihr Leben verlor. 1954 wurde die Krim vom Regierungschef der UdSSR, Nikita Chruschtschow, der Ukraine überlassen. Erst nach 1989 kehrten Krimtartar*innen in größerer Zahl auf die Krim zurück.

1986 brannte das AKW Tschernobyl. Diese erste große zivile Atomkatastrophe traf auch die Nachbarländer – besonders Belarus und Polen – schwer.

Unabhängigkeit 1991

Ende der 1980er Jahre entstand eine Volksbewegung, die die Souveränität der Ukraine, zunächst als Souveränität innerhalb der Sowjetunion, forderte. 1991 beschloss der Oberste Rat der Ukraine den Austritt aus der Sowjetunion. Nach der Auflösung der Sowjetunion in demselben Jahr bildeten die Ukraine zusammen mit Russland und Belarus die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Die auf ukrainischem Territorium lagernden Atomwaffen wurden an Russland zurückgegeben. Die Krim wurde 1992 zur Autonomen Republik innerhalb der Ukraine. 1997 wurde ein russisch-ukrainischer Freundschaftsvertrag geschlossen, der die Grenzen der Ukraine bestätigte und in dem Russland auf alle territorialen Forderungen bezüglich der Krim einschließlich Sewastopols verzichtete, aber dort seinen Marinehafen weiter betreiben durfte.

Politisch kam das Land, das darüber hinaus durch eine hohe Korruptionsrate geplagt wurde (und wird), nicht zur Ruhe. Zwischen den Menschen in der landwirtschaftlich geprägten Westukraine und der durch Schwerindustrie gekennzeichneten Ostukraine scheint immer ein Graben bestanden zu haben. Das war aber kein „ethnischer“ Konflikt – Russisch und Ukrainisch wurden parallel benutzt und in vielen Familien war Russisch die Erstsprache. Enge Beziehungen zu Russland biografischer und familiärer Art waren nicht untypisch. Aber das Land fand sich zerrissen zwischen der Frage, ob man sich eher an Russland oder am Westen orientieren sollte. Zweimal, 2004 und 2013/14, kam es zu zivilem Widerstand gegen pro-russische Präsidenten. 2004 ging es in der sog. Orangenen Revolution um den Vorwurf der Wahlmanipulation durch Wiktor Janukowitsch, der gegen den vorherigen „pro-westlichen“ Wiktor Juschtschenko angetreten war. Der sog. „Euromaidan“ 2013/14 hatte eine ähnliche politische Konstellation. Janukowitsch, inzwischen wieder an der Macht, lehnte die Unterzeichnung eines Abkommens mit der EU ab, woraufhin die Menschen zuerst in Kiew, dann auch in anderen Städten auf die Straße gingen. Der Aufstand ging bekanntlich mit der Flucht von Janukowitsch zu Ende; kurz danach folgte ein von Russland unterstützter und wohl auch gesteuerter – hier gehen die Interpretationen auseinander - Aufstand in bestimmten Teilen der Ost- und Südukraine (dem Donbas) und der Krim.

2014-2022

Zwei Vereinbarungen zwischen Russland, der Ukraine und Sprechern der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk, vermittelt von Frankreich, Deutschland und Belarus, sollten nicht nur u.a. einen Waffenstillstand und dessen Überwachung durch die OSZE festschreiben, sondern auch einen Prozess der Beilegung des Konflikts einleiten. „Minsk 1“ vom September 2014 und „Minsk 2“ vom Februar 2015, das nach neuen massiven Kämpfen geschlossen wurde und das erste Abkommen ergänzte, sind jedoch nie vollständig umgesetzt worden. Die Waffen haben nie geschwiegen, sondern beide Seiten haben sich immer wieder Gefechte geliefert, die bis zum Angriff Russlands im Februar 2022 über 14.000 Menschen das Leben gekostet haben. Eine Sicherheitszone zu Russland wurde nicht eingerichtet. Wahlen nach demokratischen Spielregeln fanden in den Separatistengebieten nicht statt. Die Ukraine konnte sich nicht durchringen, ihre Verfassung zugunsten einer föderativen Struktur zu ändern, und sie war nicht bereit, direkt mit den Vertretern der sog. Volksrepubliken zu verhandeln, sondern betrachtete diese als „Terroristen“. Zudem rüstete die Ukraine zwischen 2014 und 2022 massiv auf und man erklärte immer wieder, die verlorenen Gebiete wieder eingliedern zu wollen.

Ukraine und NATO

Als wichtiger Faktor in der Genese des russisch-ukrainischen Konflikts wird immer wieder die NATO-Osterweiterung angeführt. Die russische Regierung verweist immer wieder darauf, dass in den „2+4“-Gesprächen, in denen die Wiedervereinigung Deutschlands möglich gemacht wurde, US-Außenminister James Baker, Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher bei ihren Moskauer Gesprächen mit Michail Gorbatschow und Eduard Schewardnadse am 8./9. und 10. Februar 1990 mündlich das Versprechen gegeben haben, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Der Journalist Andreas Zumach hat dazu verschiedene Quellen zusammengetragen, die es plausibel machen, dass dieses Versprechen – das Politiker*innen heute gerne leugnen - tatsächlich gegeben wurde, auch wenn es seltsam anmutet, dass diese Vereinbarungen nicht verschriftlicht wurden.

Es muss allerdings auch angemerkt werden, dass Russland zumindest die erste Erweiterungswelle der NATO scheinbar akzeptierte, denn noch 1997 unterzeichnete Russland die NATO-Russland-Grundakte. Im gleichen Jahr wurden auf dem NATO-Gipfel in Madrid Polen, Tschechien und Ungarn Beitrittsverhandlungen angeboten. Das müsste Russland bei der Unterzeichnung der Grundakte bekannt gewesen sein.

2008 begann die NATO auf ihrem Gipfel im April, Georgien und der Ukraine grundsätzlich einen Beitritt in Aussicht zu stellen, auch wenn das nie wirklich Konsens war. 2020 und 2021 unternahm die NATO Schritte, die Ukraine näher an sich zu binden: Im Juni 2020 wurde sie als „Enhanced Opportunities Partner" anerkannt und die Ukraine nahm das Ziel der NATO-Mitgliedschaft in ihre Verfassung auf. Als NATO-Partner hat die Ukraine auch Truppen für Operationen der Alliierten bereitgestellt, darunter in Afghanistan und im Kosovo. Seit 2021 erhielt sie Unterstützung im Rahmen des „Individual Partnership Action Plan“, der die Zusammenarbeit nochmal vertieft und vom NATO-Gipfel im Juni 2021 als Schritt des Prozesses zur Mitgliedschaft bezeichnet wurde.

Zu den verwendeten Quellen gehören neben der Bundeszentrale für Politische Bildung und Wikipedia die Serie der Ukraine-Analysen (https://www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/),: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2022/03/analys..., https://www.swp-berlin.org/publications/products/studien/2019S03_fhs.pdf, https://www.lpb-bw.de/ukraine-eu-nato, https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Presse/pdf/Rechtsextre..., https://www.deutschlandfunk.de/asow-regiment-stepan-bandera-ukraine-100....,

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.