Inländer ohne deutschen Paß

Heiner Geißler, CDU-Präsidiumsmitglied und stellvertretender CDU-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, äußerte sich in einem Interview der Wochenzeitung "Freitag" gegenüber zum Thema "Einwanderungsland Deutschland", wobei er auch die Mehrheitspositionen in seiner eigenen Partei angriff.

Frage: Herr Geißler, Sie werben seit gut drei Jahren für die "multikulturelle Gesellschaft". Eine zu späte Erkenntnis?

Heiner Geißler: Leider hat man überall, auch in meiner Partei, die ersten großen Warnungen seinerzeit nicht ernst genug genommen. Wenn wir jetzt in der Ausländerfrage nicht nachdenken und bereit sind, Positionen zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, passiert dasselbe wie bei der Ökologie: Wir kommen zu spät. Der Begriff der multikulturellen Gesellschaft ist eine Zukunftskonzeption, ein gedanklicher Stolperstein, der zur breiten Diskussion darüber anregen soll, wie wir in Zukunft mit immer mehr Ausländern zusammenleben wollen.

Frage: Warum setzen Sie sich in Ihrer Partei mit Ihren Thesen nicht durch? Besonders der CDU kommt es nicht in den Sinn, die Bundesrepublik als Einwanderungsland anzuerkennen.

Heiner Geißler: Deutschland war bisher von seinem Selbstverständnis her kein Einwanderungsland, ist aber de facto eins geworden. Der eigentliche Realitätsverlust besteht in einem Ignorieren dieser Tatsache. In Deutschland leben zurzeit fünf Millionen Ausländer. Ab 1. Januar 1993 wird der gemeinsame europäische Markt geschaffen. Die Grenzen werden beseitigt. Wir bekommen nicht nur Freizügigkeit der Waren und der Dienstleistungen, sondern auch der Unternehmen, der Arbeitnehmerin¬nen und Arbeitnehmer. Diese Entwicklung ist unaufhaltbar, und sie ist auch notwendig, wenn wir gegenüber den großen Wirtschaftsmärkten Nordamerikas und der ostasiatischen Staatengemeinschaft konkurrenzfähig bleiben wollen. Ein Einwanderungsland müssen wir auch bleiben, denn durch den Bevölkerungsrückgang werden die Deutschen ein schrumpfendes Volk. Die Deutschen haben im Durchschnitt der letzten beiden Jahrzehnte das größte Geburtendefizit aller Länder der Welt. Damit entwickelt sich der Altersaufbau wie eine auf dem Kopf stehende Pyramide. Bis zum Jahr 2000 werden in den alten Bundesländern nur noch 55 Millionen Deutsche leben, bis 2030 sogar weniger als 40 Millionen. Auch in den neuen Ländern muß vom Jahr 2000 an mit mehr Rentnern und weniger arbeitsfähigen Bewohnern gerechnet werden. Im Jahr 2020 wird nicht, wie heute, jeder fünfte, sondern jeder dritte Deutsche im Rentenalter sein. Gleichzeitig stehen immer weniger junge Menschen als Arbeitskräfte und Beitragszahler für die Rentenversicherung zur Verfügung. Wenn wir auf deutsche Beitragszahler angewiesen wären, könnten wir schon ab dem Jahr 2015 die Renten nicht mehr finanzieren.

Frage: Die quasi per Quote, also geregelt angeworbenen "Gastarbeiter" waren und sind "Konjunkturpuffer". Kriselt es, verlieren sie ihren Arbeitsplatz als erste. Anfang der 80er Jahre versuchte die CDU/FDP-Regierung, Zehntausende per "Rückkehrprogramm" vor die Tür zu setzen. Ist es da ein Wunder, wenn die Deutschen Einwanderer als Menschen zweiter Klasse betrachten?

Heiner Geißler: Gemessen an der Wirklichkeit in Deutschland ist der Begriff "Ausländer" ein schlechter Witz. In Wahrheit handelt es sich bei den meisten um Inländer ohne deutschen Paß. Die große Mehrheit der Ausländer in der Bundesrepublik ist entweder hier geboren oder lebt schon seit mehr als zehn Jahren bei uns. Und trotzdem haben wir die niedrigste Einbürgerungsquote aller vergleichbaren europäischen Länder. Nur rund 14.000 Ausländer werden jährlich eingebürgert, aber allein 1988 wurden 73.000 Kinder ausländischer Eltern in unserem Land geboren. Barbara John, die Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, hat 1989 darauf hingewiesen, daß wir eines Tages von Ausländern der 25. Generation sprechen müßten, wenn es mit der Einbürgerung so weiterginge wie bisher. Ich weiß, daß es manche in unserem Land unerträglich finden, mit Menschen auf Dauer zusammenzuleben, die aus einer anderen Kultur kommen. Für mich ist es dagegen unerträglich, daß in unserem Land Millionen von Mitbürgern mindere Rechte haben. Die Gesetze, die regeln, wer Deutscher ist oder werden darf, sind ohnehin fragwürdig und widersprüchlich. Es liegt jedoch in der Hand der Bundesrepublik, diese Gründe zu beseitigen, und zwar dadurch, daß den Ausländern über die im jetzigen neuen Ausländerrecht vorgesehenen Härtefälle hinaus die deutsche Staatsangehörigkeit ermöglicht wird, so wie dies auch in den Vereinigten Staaten der Fall ist.

Frage: Wenn Christdemokraten von der Parteibasis auf türkische Jugendliche treffen - so etwas kann man manchmal erleben -, wundern sie sich, daß ihre Gesprächspartner Deutsch als Muttersprache sprechen. Wie ist so viel Unkenntnis oder Ignoranz im Jahre 35 nach der ersten Nachkriegseinwanderung zu erklären?

Heiner Geißler: Vor Jahren war die CDU eine Partei, bei der es zahlreiche Ortsverbände gegeben hatte, die mit Ausländern gemeinsame Vereine gegründet und Patenschaften übernommen haben. Dieses Miteinander ist leider verlorengegangen und wir täten gut daran, die Ausländer wieder für die politische Arbeit zu entdecken... Es gibt zwar Angst vor Ausländern, aber sie ist nicht begründet. Die Menschen kommen oft mit der Komplexität unserer Gesellschaft nicht zurecht und suchen Sicherheit in einfachen Antworten. Umso notwendiger ist die Aufklärung über die wirklichen Sachverhalte, denn Informationen und Wissen sind die Feinde des Radikalismus und der Angst und damit das beste Mittel gegen sie. Wer die ethische Dimension des Zusammenlebens mit Ausländern nicht versteht, sollte wenigstens die ökonomische begreifen. Ich sage es noch einmal: Schon heute würde die deutsche Wirtschaft kollabieren, gäbe es nicht fünf Millionen Ausländer bei uns. Das Nachfragevolumen der Ausländer in Deutschland betrug 1989 über 50 Milliarden DM; die Zahlungen in die Rentenkasse jährlich über 10 Milliarden DM, mindestens das Doppelte an Lohnsteuer kommt dazu, und insgesamt tragen sie zu unserem Sozialprodukt weit über 300 Milliarden DM bei. Schon heute fehlen bei der Feuerwehr, der Polizei, den karitativen Organisationen, den Rettungsdiensten, der Altenpflege zehntausende von jungen Leuten. Dem Handwerk fehlen nach neusten Angaben in diesem Jahr 230.000 Lehrlinge in fast allen Lehrlingsberufen, von den Schreinern angefangen bis zu den Bäckern. Die bayrische Staatsregierung wirbt ausländische Pflegekräfte an, um damit den Pflegenotstand abzumildern.

Frage: Wie würden Sie diese Hürde nehmen, was ist zu tun?

Heiner Geißler: Natürlich können bei uns nicht alle Menschen Zuflucht finden, die in Not sind. Deshalb müssen wir die Ausländerfrage regeln. Das ist aber eine Gesamtaufgabe der reichen Länder, insbesondere der westeuropäischen. Wir müssen schon aus eigenem Interesse jährlich eine begrenzte Zahl von Ausländern zu uns hereinlassen. Dazu brauchen wir entsprechende Einwanderungsgesetze und Immigrationskonzepte.

Frage: In Frankreich, Großbritannien, insbesondere in den USA ist das Staatsbürgerrecht längst republikanisch definiert, so wie Sie es endlich auch für die Bundesrepublik verlangen. Rassistisch motivierte blutige Konflikte wie in den französischen Vorstädten hat das nicht verhindern. Auch deutsche Juden waren Deutsche. Wie kann dem Rassismus wirkungsvoll begegnet werden?

Heiner Geißler: Zunächst, die Ausländerfeindlichkeit ist hier nicht größer als in anderen Ländern, eher im Gegenteil. Aber wir müssen dem rechtsradikalen Spuk ein Ende machen. Diejenigen, die Gewalttaten verübt haben, sind Verbrecher und gehören schwer bestraft und lebenslänglich hinter Gitter. Wir müssen ein Exempel statuieren, das abschreckende Wirkung hat. Wir haben den Nationalsozialismus und auch den Kommunismus besiegt, aber noch nicht den Rassismus. Karl Marx hatte in seiner Schrift über die "Judenfrage" gesagt, der Mensch, wie er geht und steht, sei nicht der eigentliche Mensch, sondern er müsse der richtigen Klasse angehören und das richtige gesellschaftliche Bewusstsein haben. Die Nazis haben gesagt, der Mensch müsse, um eigentlicher Mensch zu sein, der richtigen Rasse angehören. Was sagen wir als christliche Demokraten? Wir sagen doch hoffentlich: Der Mensch, wie er geht und steht, ist der eigentliche Mensch, unabhängig davon, ob er Deutscher oder Ausländer, ob er Schwarzer oder Weißer ist. Die Menschenwürde ist unteilbar.

Frage: Die Gleichberechtigung von Mann und Frau wird plötzlich gegen Einwanderung von Muslimen ins Feld geführt - Alarmsignal Kopftuch. Man tut so, als lebten zwei Millionen im Land, obwohl viele Einwanderer allenfalls aus einem muslimischen Elternhaus kommen. Eine Krankenschwester mit Kopftuch erschreckt Patienten, heißt es beispielsweise. Ist grenzenlose Ignoranz die Mutter der Warnungen vor "Überfremdung"?

Heiner Geißler: Frankreich hatte den Streit um die Frage, ob mohammedanische Mädchen in der laizistischen Schule den traditionellen muslimischen Schleier tragen durften. Der Tschador kann als Ausdruck der kulturellen, der religiösen Selbständigkeit und Identität der Menschen betrachtet werden, die sich zum Islam bekennen. Der elterliche und kirchliche Zwang, den Schleier zu tragen, kann aber auch ein Instrument der Unterdrückung der Frau durch die islamischen Männer sein. Die kulturelle Identität hat in der multikulturellen Gesellschaft eine Grenze. Muslime, Hindus, Freigeister und Agnostiker, Materialisten und Extremisten, Gottesleugner und Christen, sie alle müssen die universellen Menschenrechte, wie sie der europäischen Geistesgeschichte und damit der europäischen Kultur entsprechen, achten. Relgions- und Kulturimperialismus stoßen in einer freiheitlichen Gesellschaft an die immanenten Schranken der modernen Verfassung. Ich sage es noch einmal deutlich: Voraussetzung für ein Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft sind die Achtung der Verfassung, die Gewissens-und Religionsfreiheit und die Respektierung der Menschenwürde...Ist der Tschador nur Ausdruck eines religiösen Bekenntnisses, so mag es infolge der besonderen laizistischen Verfassung der französischen Schule in Frankreich zu beanstanden sein. In der Bundesrepublik Deutschland ist dies so wenig ein Problem, wie wenn eine Katholikin ein Kreuz an der Halskette und eine Grüne einen violetten Schal trägt.

Wir danken Herrn Geißler für die Abdruckgenehmigung. Das Interview wurde von Hans Engels geführt und er¬schien in "Freitag" am 1.11.91. Wir haben es leicht gekürzt.

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