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Kapitalismus heute: global und ohne Klassen?
vonEs ist eine alte Erkenntnis, daß Klassen nur im Klassenkampf existieren. Das heißt, sie werden nur dann geschichtlich wirksam, wenn sich im Rahmen berstender Ausbeutungs- und Herrschaftverhältnisse politisch handelnde Gruppen herausbilden. Der Klassenbegriff umfasst weit mehr als bloße sozialstrukturelle Gegebenheiten. So gesehen, ist die "Klassenfrage" heute bemerkenswert einfach zu beantworten. Während das Wort "Klasse" aus der wissenschaftlichen und politischen Sprache erfolgreich geteilt wurde, tobt der Klassenkampf mit einer Härte wie schon lange nicht mehr.
Die aktuelle Globalisierungsoffensive ist nichts anderes als der strategisch geführte Angriff auf die demokratische und soziale Errungenschaft, die im Laufe dieses Jahrhunderts erkämpft worden sind. Bestimmender Akteur ist das internationalisierte Kapital, das in den vergangenen Jahrzehnten beherrschend geworden ist. Es gibt heute tatsächlich so etwas wie eine international verbundene Kapitalistenklasse, die in einem engen Koperationsverhältnis mit den "wettbewerbsstaatlichen "transformierten nationalen Staatsapparaten steht. Angesichts des einzelstaatlichen Organisationsprinzips fehlt ihr zwar eine übergreifende politische Form, aber sie kennt sehr gut ihre unmittelbaren ökonomischen Interessen. Die Folge dieses Auseinanderklaffens von globalisiertem Weltmarkt und nationalstaatlicher politischer Form ist, daß die ökonomischen Prozesse und sozialen Konflikte immer mehr die gesellschaftlichen Grundlagen in Frage stellen.
Auf der anderen Seite sind diejenigen, gegen die der Kampf geführt wird, heillos zersplittert, leben unter höchst unterschiedlichen ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen und scheinen sich immer stärker in gegenseitige nationalistische, rassistische und "fundamentalistische" Auseinandersetzungen zu verstricken. In politischer Hinsicht ist es daher sinnlos, abstrakt von einer internationalen Arbeiter- oder Lohnabhängigenklasse zu sprechen, zumal viele der am extremsten Ausgebeuteten nicht einmal einen Lohnarbeitsstatus haben. Damit ist auf die Spitze getrieben, was immer schon die Logik kapitalistischer Herrschaft war: die soziale Spaltung und politische Desorganisation der Unterdrückten.
Was mit dem harmlos anmutenden Begriff "Globalisierung" beschreiben wird, ist im Kern nichts weiter als das. Dieser Prozess kann nur verstanden werden, wenn man zur Kenntnis nimmt, daß die gesellschaftliche Dynamik nach wie vor entscheidend von der Kapitalakkumulation bestimmt wird und daß Kapitalakkumulation immer Klassenkampf ist - wenn auch in historisch unterschiedlichen Formen und mit wechselnden Akteuren.
Gerade die aktuelle Entwicklung macht deutlich, wie unsinnig eine sich als kritisch wähnende Gesellschaftstheorie ist, die auf die Kritik der politischen Ökonomie und damit auf den Klassenbegriff verzichten zu können glaubt. Deshalb existiert kritische Theorie im strikten Sinne heute praktisch kaum mehr. Allerdings gibt es dafür auch einen realen Hintergrund: Je schärfer der Klassenkampf geführt wird, desto unsichtbarer werden seine konkreten Akteure. Die Zeiten der Ballonmützen-Proletarier oder der zylindertragenden und zigarrenrauchenden Kapitalisten sind vorbei. Die Klassenstruktur ist auf globaler Ebene extrem ausdifferenziert und wir immer stärker durch andere soziale Antagonismen und Konflikte, z.B. in Bezug auf das Natur- und Geschlechterverhältnis überlagert. Zugleich sind die unmittelbaren Klassenkonfrontationen zumindest im Normalbetrieb der Metropolen in den Hintergrund getreten. Sie sind hoch bürokratisiert, "verwissenschaftlicht" und versachlicht. An die Stelle von Barrikaden sind Expertenschlachten und grüne Tische getreten. Der Kapitalismus hat die Gestalt einer abstrakten Maschinerie angenommen, die nur noch anonyme, nach scheinbar objektiven Sachzwängen handelnde Funktionäre zu kennen scheint.
Wenn diese Einschätzung stimmt, bleibt die Frage, was dies politisch heißt. Die linke Debatte, soweit sie sich überhaupt noch ernsthaft auf einen kritischen Kapitalismusbegriff einlässt, scheint immer mehr zu schwanken zwischen kruen Zusammenbruchs- und Katastrophenszenarien und der Hoffnung, aus den globalen Marginalisierungs- und Verelendungsprozessen würden sich irgendwann einmal wieder "proletarische" Kämpfe entwickeln. Wer von der "Wiederkehr des Proletariats" träumt, müsste allerdings wissen, daß Armut und soziale Degradierung noch nie gute Voraussetzungen für politisch kompetentes Handeln dargestellt haben. Im Übrigen hat "das" Proletariat überhaupt noch nie gekämpft, nicht einmal in den heroischen Zeiten der Arbeiterbewegung. Die Klassenbewegung und -organisationen waren ihrer realen sozialen Zusammensetzung nach kaum jemals eindeutig "proletarisch". Immer schon haben sie sich - wenn auch mit den sozialen lagen in spezifischer Weise vermittelt - politisch-kulturell eigenständig konstituiert.
Fest steht, daß die Tatsache von "Ausbeutung" im politökonomischen Verständnis keineswegs unmittelbar das Bedürfnis nach gesellschaftlichen Veränderungen und schon gar nicht gemeinsame Interessen schafft. Dies zeigt ein Vergleich zwischen, beispielsweise, hochbezahlten Computerexperten hierzulande, mit Hungerlöhnen abgespeisten koreanischen Bandarbeiterinnen oder ihrer einfachsten Existenzgrundalgen beraubten lateinamerikanischen Campesinos. Zweifellos wird ihr aller Lebensschicksal entscheidend vom "Weltmarkt", d.H. von globalen Profitmaximierungs- und Ausbeutungsstrategien bestimmt - aber was heißt das schon?
Die Bereitschaft zu Kampf und Revolte ist nicht nur eine Frage "objektiver", ökonomiekritisch entschlüsselbarer Strukturen und auch nicht allein vorhandener handlungsspielräume. Sie ist vor allem auch eine Frage der "moralischen Ökonomie". Entscheidend ist, wie die konkreten Lebensbedingungen und vor allem ihre Veränderungen wahrgenommen werden, in welchen sozio-kulturellen Zusammenhängen man lebt, welche Vorstellungen von einem vernünftigen und guten Leben vorhanden sind und ob es überhaupt zeugende Visionen von einer anderen, besseren Gesellschaft gibt.
Insofern war es gewiss kein Klassen-Selbstverrat, wenn sich in der Nachkriegszeit die Massen der Lohnabhängigen hierzulande in das fordistisch-keynesianische Kapitalprojekt einbinden und damit ruhigstellen ließen. Immerhin versprach dieses etwas, was den damals herrschenden Vorstellungen von "Sozialismus" und den trivialisierten Utopien der alten Arbeiterbewegung recht nahe kam: Arbeit für alle, mehr soziale Gleichheit und Sicherheit, stetig wachsenden Warenkonsum. Das Debakel des Sozialismus beruht nicht zuletzt darauf, daß die mit ihm verbundenen Vorstellungen nie weit über das Bild eines besseren Industriekapitalismus hinausgekommen sind.
Damit ist es nun vorbei, und selbst die schrumpfende Zahl derer, die in den prosperierenden Sektoren der Weltmarktökonomie verblieben sind, ist bedroht. Allmählich müssen alle die Gefahren realisieren, die mit der aktuellen Umwälzung der Klassenstrukturen und der Verschärfung der Ausbeutungsverhältnisse im Zuge des Globalisierungsprozesses verbunden sind. Aber was folgt daraus? Die alte industriegesellschaftliche Utopie ist nicht nur ihrer ökonomischen Grundlagen beraubt, sondern hat auch an Legitimationskraft verloren. An ihre Stelle ist jedoch kein überzeugendes Bild von einer besseren Gesellschaft getreten. Es ist vor allem dieser Utopieverlust, der das Feld der sozialen Kämpfe heute entscheidend bestimmt.
Wohl nicht zuletzt daraus resultiert auch der eigentümlich konservative Charakter der gegenwärtigen sozialen Konflikte. Immer noch wird zäh an der Vorstellung festgehalten, der industrielle Wachstumskapitalismus könne - nötigenfalls "ökologisch modernisiert - wiederhergestellt werden. Während es also auf der einen Seite offensichtlich sehr schwer fällt, sich vom scheinbar "goldenen Zeitalter" des Fordismus zu verabschieden, kämpfen die anderen - beispielsweise die mexikanischen Zapatistas - schlicht darum, so zu leben, wie es möglich war, bevor das Kapital und der Weltmarkt über sie kam. Zwischen den jeweiligen Erwartungen und Interessen der IG Chemie und der EZLN legt wahrlich sehr viel mehr als nur eine geographische Distanz.
Möglicherweise kommt allerdings einem gewissen Konservatismus heute sogar revolutionäre Qualität zu. Daß der globale Kapitalismus den Charakter einer unkontrollierbaren, alles umwälzenden und sich alle unterwerfen Maschinerie angenommen hat, ist nicht nur von Marx vorausgesagt worden. Auch Max Weber sprach höchst weitblickend von einem sich entwickelnden "Gehäuse der Hörigkeit", das heißt, daß es heute nicht mehr nur um schlichte Eigentums- und Verteilungsprobleme, sondern stärker denn je um die Frage von Selbstbestimmung und Freiheit, um die Bedingungen geht, das eigene Leben leben und gestalten zu können. Ins Zentrum des sozialen Konfliktes rückt somit das, was in der Traditionellen Arbeiterbewegung und in der herrschenden sozialistischen Theorie bestenfalls am Rande stand: Die Frage der Demokratie - allerdings nicht in der verhunzten Form der "Bürgergesellschaft", sondern als reale.