Kapitalismus heute: global und ohne Klassen?

von Joachim Hirsch
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Es ist eine alte Erkenntnis, daß Klassen nur im Klassenkampf existie­ren. Das heißt, sie werden nur dann geschichtlich wirksam, wenn sich im Rahmen berstender Ausbeutungs- und Herrschaftverhältnisse poli­tisch handelnde Gruppen herausbilden. Der Klassenbegriff umfasst weit mehr als bloße sozialstrukturelle Gegebenheiten. So gesehen, ist die "Klassenfrage" heute bemerkenswert einfach zu beantworten. Während das Wort "Klasse" aus der wissenschaftlichen und politischen Sprache erfolgreich geteilt wurde, tobt der Klassenkampf mit einer Härte wie schon lange nicht mehr.

Die aktuelle Globalisierungsoffensive ist nichts anderes als der strategisch ge­führte Angriff auf die demokratische und soziale Errungenschaft, die im Laufe dieses Jahrhunderts erkämpft worden sind. Bestimmender Akteur ist das internationalisierte Kapital, das in den vergangenen Jahrzehnten beherr­schend geworden ist. Es gibt heute tatsächlich so etwas wie eine internatio­nal verbundene Kapitalistenklasse, die in einem engen Koperationsverhältnis mit den "wettbewerbsstaatlichen "transformierten nationalen Staatsappa­raten steht. Angesichts des einzelstaatli­chen Organisationsprinzips fehlt ihr zwar eine übergreifende politische Form, aber sie kennt sehr gut ihre un­mittelbaren ökonomischen Interessen. Die Folge dieses Auseinanderklaffens von globalisiertem Weltmarkt und na­tionalstaatlicher politischer Form ist, daß die ökonomischen Prozesse und so­zialen Konflikte immer mehr die gesell­schaftlichen Grundlagen in Frage stel­len.

Auf der anderen Seite sind diejenigen, gegen die der Kampf geführt wird, heillos zersplittert, leben unter höchst unterschiedlichen ökonomischen, politi­schen und kulturellen Bedingungen und scheinen sich immer stärker in gegen­seitige nationalistische, rassistische und "fundamentalistische" Auseinanderset­zungen zu verstricken. In politischer Hinsicht ist es daher sinnlos, abstrakt von einer internationalen Arbeiter- oder Lohnabhängigenklasse zu spre­chen, zumal viele der am extremsten Ausgebeuteten nicht einmal einen Lohnarbeitsstatus haben. Damit ist auf die Spitze getrieben, was immer schon die Logik kapitalistischer Herrschaft war: die soziale Spaltung und politische Desorganisation der Unterdrückten.

Was mit dem harmlos anmutenden Be­griff "Globalisierung" beschreiben wird, ist im Kern nichts weiter als das. Dieser Prozess kann nur verstanden werden, wenn man zur Kenntnis nimmt, daß die gesellschaftliche Dynamik nach wie vor entscheidend von der Kapitalakkumula­tion bestimmt wird und daß Kapitalak­kumulation immer Klassenkampf ist - wenn auch in historisch unterschiedli­chen Formen und mit wechselnden Ak­teuren.

Gerade die aktuelle Entwicklung macht deutlich, wie unsinnig eine sich als kri­tisch wähnende Gesellschaftstheorie ist, die auf die Kritik der politischen Öko­nomie und damit auf den Klassenbegriff verzichten zu können glaubt. Deshalb existiert kritische Theorie im strikten Sinne heute praktisch kaum mehr. Al­lerdings gibt es dafür auch einen realen Hintergrund: Je schärfer der Klassen­kampf geführt wird, desto unsichtbarer werden seine konkreten Akteure. Die Zeiten der Ballonmützen-Proletarier oder der zylindertragenden und zigar­renrauchenden Kapitalisten sind vorbei. Die Klassenstruktur ist auf globaler Ebene extrem ausdifferenziert und wir immer stärker durch andere soziale Antagonismen und Konflikte, z.B. in Bezug auf das Natur- und Geschlechter­verhältnis überlagert. Zugleich sind die unmittelbaren Klassenkonfrontationen zumindest im Normalbetrieb der Metro­polen in den Hintergrund getreten. Sie sind hoch bürokratisiert, "verwissenschaftlicht" und versachlicht. An die Stelle von Barrikaden sind Ex­pertenschlachten und grüne Tische ge­treten. Der Kapitalismus hat die Gestalt einer abstrakten Maschinerie angenom­men, die nur noch anonyme, nach scheinbar objektiven Sachzwängen han­delnde Funktionäre zu kennen scheint.

Wenn diese Einschätzung stimmt, bleibt die Frage, was dies politisch heißt. Die linke Debatte, soweit sie sich überhaupt noch ernsthaft auf einen kritischen Ka­pitalismusbegriff einlässt, scheint immer mehr zu schwanken zwischen kruen Zu­sammenbruchs- und Katastrophenszena­rien und  der Hoffnung, aus den glo­balen Marginalisierungs- und Verelen­dungsprozessen würden sich irgend­wann einmal wieder "proletarische" Kämpfe entwickeln. Wer von der "Wiederkehr des Proletariats" träumt, müsste allerdings wissen, daß Armut und soziale Degradierung noch nie gute Voraussetzungen für politisch kompe­tentes Handeln dargestellt haben. Im Übrigen hat "das" Proletariat überhaupt noch nie gekämpft, nicht einmal in den heroischen Zeiten der Arbeiterbewe­gung. Die Klassenbewegung und -orga­nisationen waren ihrer realen sozialen Zusammensetzung nach kaum jemals eindeutig "proletarisch". Immer schon haben sie sich - wenn auch mit den so­zialen lagen in spezifischer Weise ver­mittelt - politisch-kulturell eigenständig konstituiert.

Fest steht, daß die Tatsache von "Ausbeutung" im politökonomischen Verständnis keineswegs unmittelbar das Bedürfnis nach gesellschaftlichen Ver­änderungen und schon gar nicht ge­meinsame Interessen schafft. Dies zeigt ein Vergleich zwischen, beispielsweise, hochbezahlten Computerexperten hier­zulande, mit Hungerlöhnen abgespeisten koreanischen Bandarbeiterinnen oder ih­rer einfachsten Existenzgrundalgen be­raubten lateinamerikanischen Campesi­nos. Zweifellos wird ihr aller Lebens­schicksal entscheidend vom "Weltmarkt", d.H. von globalen Profit­maximierungs- und Ausbeutungsstrate­gien bestimmt - aber was heißt das schon?

Die Bereitschaft zu Kampf und Revolte ist nicht nur eine Frage "objektiver", ökonomiekritisch entschlüsselbarer Strukturen und auch nicht allein vor­handener handlungsspielräume. Sie ist vor allem auch eine Frage der "moralischen Ökonomie". Entscheidend ist, wie die konkreten Lebensbedingun­gen und vor allem ihre Veränderungen wahrgenommen werden, in welchen so­zio-kulturellen Zusammenhängen man lebt, welche Vorstellungen von einem vernünftigen und guten Leben vorhan­den sind und ob es überhaupt zeugende Visionen von einer anderen, besseren Gesellschaft gibt.

Insofern war es gewiss kein Klassen-Selbstverrat, wenn sich in der Nach­kriegszeit die Massen der Lohnabhängi­gen hierzulande in das fordistisch-keynesianische Kapitalprojekt einbinden und damit ruhigstellen ließen. Immerhin versprach dieses etwas, was den damals herrschenden Vorstellungen von "Sozialismus" und den trivialisierten Utopien der alten Arbeiterbewegung recht nahe kam: Arbeit für alle, mehr soziale Gleichheit und Sicherheit, stetig wachsenden Warenkonsum. Das Deba­kel des Sozialismus beruht nicht zuletzt darauf, daß die mit ihm verbundenen Vorstellungen nie weit über das Bild ei­nes besseren Industriekapitalismus hin­ausgekommen sind.

Damit ist es nun vorbei, und selbst die schrumpfende Zahl derer, die in den prosperierenden Sektoren der Welt­marktökonomie verblieben sind, ist be­droht. Allmählich müssen alle die Ge­fahren realisieren, die mit der aktuellen Umwälzung der Klassenstrukturen und der Verschärfung der Ausbeutungsver­hältnisse im Zuge des Globalisierungs­prozesses verbunden sind. Aber was folgt daraus? Die alte industriegesell­schaftliche Utopie ist nicht nur ihrer ökonomischen Grundlagen beraubt, sondern hat auch an Legitimationskraft verloren. An ihre Stelle ist jedoch kein überzeugendes Bild von einer besseren Gesellschaft getreten. Es ist vor allem dieser Utopieverlust, der das Feld der sozialen Kämpfe heute entscheidend be­stimmt.

Wohl nicht zuletzt daraus resultiert auch der eigentümlich konservative Charakter der gegenwärtigen sozialen Konflikte. Immer noch wird zäh an der Vorstellung festgehalten, der industrielle Wachs­tumskapitalismus könne - nötigenfalls "ökologisch modernisiert - wiederherge­stellt werden. Während es also auf der einen Seite offensichtlich sehr schwer fällt, sich vom scheinbar "goldenen Zeitalter" des Fordismus zu verabschie­den, kämpfen die anderen - beispiels­weise die mexikanischen Zapatistas - schlicht darum, so zu leben, wie es möglich war, bevor das Kapital und der Weltmarkt über sie kam. Zwischen den jeweiligen Erwartungen und Interessen der IG Chemie und der EZLN legt wahrlich sehr viel mehr als nur eine geographische Distanz.

Möglicherweise kommt allerdings ei­nem gewissen Konservatismus heute sogar revolutionäre Qualität zu. Daß der globale Kapitalismus den Charakter ei­ner unkontrollierbaren, alles umwälzen­den und sich alle unterwerfen Maschine­rie angenommen hat, ist nicht nur von Marx vorausgesagt worden. Auch Max Weber sprach höchst weitblickend von einem sich entwickelnden "Gehäuse der Hörigkeit", das heißt, daß es heute nicht mehr nur um schlichte Eigentums- und Verteilungsprobleme, sondern stärker denn je um die Frage von Selbstbe­stimmung und Freiheit, um die Bedin­gungen geht, das eigene Leben leben und gestalten zu können. Ins Zentrum des sozialen Konfliktes rückt somit das, was in der Traditionellen Arbeiter­bewegung und in der herrschenden sozialistischen Theorie bestenfalls am Rande stand: Die Frage der Demokratie - allerdings nicht in der verhunzten Form der "Bürgergesellschaft", sondern als reale.

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Prof. Dr. Joachim Hirsch ist Hochschullehrer für Politikwissenschaften an der Johann-Wolgang-Goethe-Universität Frankfurt und Bundesvorsitzender von "medico international".