Kein Asyl: Verhungern im "sicheren Drittstaat"?

Hintergrund
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Nachfolgend veröffentlichen wir ein Interview, das das Komitee für Grundrechte und Demokratie mit einem türkischen Flüchtling aus Köln führte. In dem Text wird deutlich, wie es auch bei weniger spektakulären Abschiebefällen zu Situationen äußerster Unmenschlichkeit kommen kann. Offensichtlich ist in der Tschechischen Republik der Mindest­standard für den Aufenthalt von Flüchtlingen nicht gewährleistet; den­noch benutzt die Abschieberepublik Deutschland dieses Land als soge­nannten sicheren Drittstaat. Das nachstehend geschilderte Schicksal spricht für sich.

Komitee: Seit wann leben Sie in Deutschland?

Mustafa C.: Ich bin vor 2 1/2 Jahren nach Deutschland gekommen und dann vor 1 1/2 Jahren als asylberechtigt aner­kannt worden, zusammen mit meiner Frau und drei kleinen Kindern. In der Türkei wurde ich politisch verfolgt.

Komitee: Zusammen mit einem Freund von Ihnen, der ebenfalls als Flüchtling Asyl erhalten hat, haben Sie nun Erfah­rungen mit dem neuen deutschen Asyl­recht, insbesondere mit der sogenannten "Sichere Drittstaaten"-Regelung ge­macht. Was war denn vorgefallen?

Mustafa C.: Der Bruder dieses meines Freundes floh ebenfalls vor der politi­schen Verfolgung in der Türkei, er hatte Repressalien erfahren, da sein Bruder ja bereits wegen politischer Betätigung verhaftet worden war und er selbst den Kriegsdienst in der türkischen Armee verweigern wollte. Er floh über die Tschechische Republik und wurde so­fort an der Grenze von deutscher Grenzpolizei erkennungsdienstlich be­handelt und zurückgeschoben. Er durfte keinen Asylantrag stellen. Nach der Rückschiebung ging er an anderer Stelle erneut über die Grenze und gelangte bis nach Köln, wo sein Bruder wohnt.

Komitee: Wie ging es dann in Köln weiter?

Mustafa C.: In Köln stellte er am Dienstag (Datum der Red. bekannt) einen Antrag auf Asyl. Dabei wurde er von einem Freund begleitet, der jedoch bald wieder weg mußte, so daß er dann alleine bei der Kölner Ausländerbehörde war. Niemand half ihm, er durfte weder seinen Bruder noch seinen Rechtsanwalt benachrichtigen. Am Mittwoch, also einen Tag später, wurde er unter Poli­zeibegleitung in einem Zug wieder über die tschechische Grenze zurückge­bracht, ohne daß irgendjemand seinen Anwalt oder seinen Bruder verständigt hatte. Wegen der ersten Einreise über die Tschechische Republik, wo er ja von deutschen Grenzbeamten aufgegriffen worden war, ging die Behörde offen­sichtlich davon aus, daß er wieder über dieses Land eingereist sei. Daher wurde er wegen der Klausel der "sicheren Drittstaaten" des neuen Asylrechts so­fort wieder abgeschoben, ohne daß sein Antrag entgegengenommen oder geprüft wurde. In der Tschechischen Republik verhörte ihn die dortige Grenzpolizei; danach ließ sie ihn frei.

Komitee: Hatte die Polizei ihm Adres­sen gegeben, wo er sich nun hinwenden sollte?

Mustafa C.: Nein, sie kümmerten sich überhaupt nicht um ihn; sie sagten, er solle weggehen und er könne irgendwie in der Tschechischen Republik leben. Aber er hatte ja keinerlei Mittel und keinerlei Kontakt, auch konnte er sich gar nicht verständigen. Daher ging er nun ein drittes Mal illegal über die Grenze nach Deutschland, um zu sei­nem Bruder zu gelangen. Wieder wurde er festgenommen und von der deutschen Polizei sofort zurückgeschoben. Aller­dings nahm ihm diesmal die tschechi­sche Grenzpolizei sein restliches Geld ab (für eine Fahrkarte angeblich) und schickte ihn mit dem Zug nach Prag. Er hatte jetzt nur noch 30 Kronen (ca. DM 2,-).

Komitee: Was konnte er denn nun in Prag tun? Hatte die Grenzpolizei ihm Adressen gegeben oder erklärt, wie ein Asylantrag zu stellen ist?

Mustafa C.: Nein. Er war völlig hilflos. Mit dem letzten Geld telefonierte er am Freitag, also 2 Tage nach der ersten Ab­schiebung aus Köln, mit seinem Bruder in Köln und sagte ihm, er sei in Prag in der Nähe eines großen Turmes bei ei­nem Park, er solle kommen und ihm helfen. Wegen des fehlenden Geldes war das Gespräch so kurz, daß der Bru­der die Ortsangaben nicht hinreichend verstanden hatte.

Komitee: Was hat sein Bruder aus Köln denn dann unternehmen können?

Mustafa C.: Sein Bruder und ich, wir sind zusammen noch am Abend dessel­ben Tages mit dem Auto nach Prag los­gefahren, denn wir wussten, daß er in Prag völlig hilflos war. Bei Tagesan­bruch am Samstag waren wir in Prag. Es gibt 700 Parks in Prag und wir wussten nicht, an welchem Park mit Turm in der Nähe wir suchen sollten.

Komitee: Haben Sie sich an eine Be­hörde oder an die Polizei gewandt und Hilfe erbeten?

Mustafa C.: Ja, wir versuchten, mit der Polizei zu sprechen, aber es war un­möglich, es war einfach kein Gespräch möglich; sie interessierte sich überhaupt nicht für Ausländer, die Fragen hatten. Gegen 14.oo Uhr fanden wir dann die Ausländerpolizeistelle, die allerdings schon geschlossen war und erst Montag wieder öffnete. So entschieden wir uns, zu bleiben und weiterzusuchen.

Komitee: Hat Ihnen denn die Auslän­derpolizei am Montag helfen können?

Mustafa C.: Sie haben gar nichts getan und konnten uns auch nicht sagen, wie wir ihn finden könnten. Ein Versuch, über das türkische Konsulat etwas zu er­reichen, schlug auch fehl. Wir telefo­nierten nach Köln und erfragten bei ei­nem Anwalt Adressen von Menschen­rechtsorganisationen in Prag. Darüber erfuhren wir die Anschrift von UNHCR, wo wir dann am Montagnachmittag Frau Delly trafen, die sehr freundlich war. Sie erläuterte uns einiges über die Situation von Flüchtlingen in der tsche­chischen Republik. Wer kein Geld hat, muß auf der Straße von nichts leben. Die minimalen Standards würden nicht eingehalten. Tschechische Behörden tun so, als gäbe es gar kein Flüchtlingspro­blem. Sie ignorieren die Flüchtlinge. Sie gab uns schließlich die Adresse eines Platzes, auf dem kostenlos Suppe aus­gegeben würde, der Nadeje-Platz. Der Bruder meines Freundes habe wahr­scheinlich im Hauptbahnhof übernach­tet, meinte sie.

Wir sind dann zum Nadeje-Platz gefah­ren, der nahe am Hauptbahnhof liegt. Am Nadeje-Platz dürfen jedoch nur Tschechen kostenlos essen. Ausländer bräuchten eine Bescheinigung. Aber die Polizei verweigert Ausländern oft will­kürlich die Ausstellung solcher Be­scheinigungen, wie wir erfahren haben. Weil wir ausländisch aussahen, fragten sie uns dort sofort nach einer solchen Bescheinigung. Wir wollten jedoch nur nach dem Bruder meines Freundes fra­gen.

Schließlich fanden wir ihn drei Stunden später zufällig auf dem Prager Haupt­bahnhof. Er sah hungrig und krank aus. Er ist erst Anfang zwanzig und war völ­lig hilflos. Er hatte am Turm gegenüber des Bahnhofs gewartet und gehofft, daß sein Bruder am Samstag gekommen wäre. Jetzt hatte er fast alle Hoffnung verloren. Seit der Abschiebung am Mittwoch bis zu diesem Montag hatte er nichts gegessen, so daß er auch jetzt nur eine Suppe vertragen konnte.

Komitee: Was konnten Sie denn nun tun? Er konnte doch nicht mit nach Deutschland?

Mustafa C.: Für meinen Freund war klar, daß sein Bruder mitfahren mußte. Lieber gingen beide in Deutschland ins Gefängnis, als daß er seinen Bruder in Prag allein ließe und er womöglich ver­hungerte. Also mußten wir ihn im Kof­ferraum im Auto verstecken. Mit riesi­ger Angst fuhren wir über die Grenze, doch zum Glück klappte alles. Unter­wegs träumte ich davon, daß ich mit meiner ganzen Familie abgeschoben würde - ein Alptraum, den viele von uns Flüchtlingen haben.

Komitee: Wie soll es aber nun weiter­gehen?

Mustafa C.: Es gibt keine Chance, einen Asylantrag zu stellen, er würde ja sofort wieder abgeschoben werden; er kann nur weiter hier in der Illegalität bleiben oder wir müssen irgendwann eine andere Lösung in einem anderen europäischen Land finden. Aber wir se­hen keine Chancen und haben kaum Hoffnung. Das sind die Konsequenzen des neuen Asylrechts für uns.

Komitee: Vielen Dank für das Ge­spräch.

 

(Für das Komitee führte das Gespräch Martin Singe am 30.8.1994 Der Name des Gesprächspartners sowie die Daten sind aus verständlichen Gründen anonymi­siert. F.d.R. (Martin Singe)

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