Krieg nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation

von Wolfgang Zellner

Gerade zehn Monate ist es her, daß die Staatschefs der KSZE-Mit­gliedsstaaten auf dem Pariser Gipfel ein neues Zeitalter der Demokra­tie, des Friedens und der Einheit proklamierten. So unzweifelhaft rich­tig dies als  C h a n c e  ist, so deutlich zeigt die reale Entwicklung seit­dem aber auch, daß Frieden und Zusammenarbeit nicht automatisch vorgezeichnet sind. Noch bevor Bush seine Unterschrift unter die Pari­ser Charta setzte, hatte er den Befehl gegeben, eine Offensivoperation gegen den Irak vorzubereiten, den Golfkrieg. Und seit diesem Sommer wissen wir, daß auch mitten in Europa ein blutiger Bürgerkrieg möglich ist.

Beide Kriege haben, so grundverschie­den sie ansonsten sind, eines gemein­sam: Sie sind auch Folge der Beendi­gung der Ost-West-Konfrontation und - was Jugoslawien betrifft - des Totalzusammenbruchs des Realsozialismus.

In Osteuropa und den sowjetischen Re­publiken brechen jetzt eine Menge Pro­bleme auf, die Jahrzehnte lang unter­drückt und verdrängt worden waren, vor allem ethnische Spannungen, ver­schlimmert durch das wirtschaftliche, soziale, ökologische und moralische De­saster, das das alte System hinterlassen hat. 76 ethnische Konfliktherde, bei denen es in den vergangenen drei Jahren Todesopfer gegeben hat, listete die Zeitung Moscow News allein für die Sowjetunion kürzlich auf. So gesehen, wirkt der Bürgerkrieg in Jugoslawien als Vorbote.

Der Golfkrieg ist in doppelter Hinsicht das Ergebnis einer Ent-Disziplinierung nach dem Ende der Ost-West-Konfron­tation. Zu Zeiten der Blockkonfrontation war man zu einer gewissen Konflikt-disziplin gezwungen, denn jeder Kon­flikt, der in vitale Interessenssphären der anderen Supermacht eingriff, barg das Risiko einer unmittelbaren Konfronta­tion und damit die Gefahr nuklearer Es­kalation. Gewiß waren (Stellvertreter-) Kriege -  auch große -  möglich, aber ein Nahost-Krieg mit amerikanischer Betei­ligung oder gar ein Krieg in Europa, das war so gut wie ausgeschlossen. Diese Bremsen funktionieren jetzt nicht mehr. Zu Zeiten der Konfrontation hätte die Supermacht Sowjetunion ihren Klienten Saddam erfolgreich daran gehindert, mit Kuwait einen Staat der westlichen Interessenssphäre zu annektieren, jetzt war sie dazu nicht mehr in der Lage. Und die USA hätten nie derart militärisch-offen­siv auf einen solchen Vorfall reagieren können, wie sie es diesmal taten. Erst das Ende der Ost-West-Konfrontation, der Zusammenbruch des östlichen Blocks und seiner Wirkungsmöglich­keiten  u n d  die amerikanisch-sowjeti­sche Nähe machten den Golfkrieg mög­lich.

Dies alles sei nicht deshalb gesagt, um wehmütige Reminiszenzen an die Zeiten der Blockkonfrontation heraufzube­schwören, wie es mancherorten gele­gentlich anklingt. Aber  a l l e  Folgen der Beendigung der Blockkonfrontation zu untersuchen, neben den ausführlich beschriebenen positiven auch die ande­ren, ist wichtig für das Begreifen der Chancen der heutigen Situation und erst recht für das der Gefahren. Zur Ent­spannungspolitik gab es wirklich keine Alternative, das hat Franz-Josef Strauß zehn Jahre nach den Ostverträgen mit dem Milliardenkredit deutlich gemacht - wofür er jetzt posthum Prügel bezieht. Jetzt aber gibt es wieder Alternativen oder wenigstens die Illusion, an solche zu glauben, wenn man nur kurz genug denkt: Für die herrschende politische Meinung in Europa ist die militärische Reaktion auf Bedrohungen und Risi­ken am Rande und innerhalb von Eu­ropa wieder zu einer sinnvollen, ja bisweilen moralisch gebotenen Alterna­tive geworden. Eines der schlimmsten Ergebnisse des Golfkrieges ist sein gei­stiger fall-out, der Glaube, daß Krieg wieder führbar und ein adäquates Mittel der Politik sein kann.

Am 29. Mai 91 wertete Prä­sident Bush in einer Rede vor der U.S. Luftwaffen­akademie in Colorado Springs den Golfkrieg aus: Neben einer zehnzeiligen Angekündigung einer neuen Rüstungs­export-Kontrollini­tiative eine seiten­lange Schwärmerei über die überra­gende Rolle der Luft­waffe und die Vor­züge von Stealth und Raketen­abwehr. Der Golfkrieg hat dem Trend zu einem neuen High-Tech-Rüsten mächtigen Schub ver­liehen: Kleinere, hochflexib­le Truppen, strategischer Lufttransport, (Forts. S. 35)

elektronische 'Force Multiplier', das sind jetzt die Stichworte, die die Branche bewegen. Und die NATO-Verteidi­gungsminister haben schon einmal vor­sorglich darauf hingewiesen, daß mit sinkenden Rüstungslasten in absehbarer Zeit nicht zu rechnen sei, High Tech ko­stet eben Geld. Auf ihrer Frühjahrsta­gung hat die NATO beschlossen, eine sog. Rapid Reaction Force einzurichten, eine schnelle Eingreiftruppe. Offiziell sagt noch niemand laut, daß sie für out-of-area-Einsätze konzipiert werden soll, aber wofür denn sonst? Die Reaktion der Europäer auf diesen amerikanisch-britischen Vorstoß war keineswegs Ab­lehnung, sondern allenfalls ein unter­gründiges Gemurmel, ob man solche Truppe nicht lieber unter einem EG/WEU-Schild laufen lassen sollte.

Und die Koalitionsmehrheit hat mit dem Haushalt 1991 den Verteidigungsmini­ster beauftragt, Optionen für ein euro­päisches militärisches Langstrecken­transportflugzeug zu prüfen.

Eine solche Politik kann nur zu einer weiteren Militarisierung des Nord-Süd-Konflikts führen. Alle Versuche, Rü­stungsexporte zu begrenzen, werden daran nichts ändern, zumal sich trotz aller hehren Proklamationen seit dem Golfkrieg ein neuer, noch größerer Waf­fenstrom in die Nahost-Region ergießt.

Und wie sollte eine militärische Inter­vention in Jugoslawien, an die der eine oder andere Politiker schon öffentlich denkt, dort positiv wirken? Wo sollten die Pufferzonen zwischen den kämp­fenden Parteien eigentlich liegen, von denen manche sprechen, wo Serben und Kroaten dort in weitgehend miteinander verschachtelten Siedlungsgebieten le­ben? Wohlgemerkt, nicht von Blau­helm-Aktionen ist hier die Rede, die können sinnvoll sein, setzen aber einen Waffenstillstand voraus und die Zu­stimmung aller streitenden Parteien. Ein militärisches Eingreifen aber führt zwangsläufig zu noch mehr Krieg und selbst wenn es gelänge, die Bundesar­mee zu entwaffnen - auf welcher Rechtsgrundlage eigentlich? - zu einem fortgesetzten Guerillakrieg, einem Nor­dirland in Potenz.

Der Friedensbewegung wird gelegent­lich Hilflosigkeit gegenüber dem Bür­gerkrieg in Jugoslawien vorgeworfen. Aber wer ist denn nicht hilflos in einer Situation, in der man außer politischer Streitschlichtung, der Nichtanerkennung gewaltsam verschobener Grenzen und wirtschaftlichen Sanktionen (die gibt es noch nicht einmal) schlechterdings nicht helfen kann?

Jede außenpolitische Frage und insbe­sondere die nach einer rationalen Frie­denspolitik stellt sich jetzt unter völlig neuen Bedingungen. Gewohnt, in bipo­laren Mustern zu denken, wie wir es wa­ren, werden wir noch lange brauchen, um das in allen Auswirkungen zu ver­stehen. Die Konfliktkonstellationen werden sich rasch ändern und es wird nur schwer, wenn überhaupt, möglich sein, Gut und Böse auseinanderzu­halten. Richtig bleibt, daß der Einsatz militärischer Gewalt im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen kein Mittel der Politik mehr sein kann und darf.

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund
Wolfgang Zellner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Katrin Fuchs, SPD MdB.