Unsere Autorin war im Juli 91 mit einer Gruppe der Hilfsorganisation medico International in iraktisch Kurdistan

Kurdistan wieder aufbauen

von Angelika Beer

Ein Jahr nach dem Überfall auf Kuwait: Die Langzeitfolgen des „sauberen“ Golfkriegs, die zivilen Opfer, die ökologische Zerstörung, sind noch nicht zu bilanzieren. Der Sabah-Familien-Clan regiert wieder in Kuwait und auch im Irak kann von Demokratisierung nicht die Rede sein. Das Konzept der bevorstehenden Nahost-Konferenz macht deutlich: sie findet ohne die Betroffenen statt. Von Kurdistan ist gar nicht erst die Rede.

In der heutigen Berichterstattung über die Ereignisse von Kriegsbeginn bis zur Massenflucht der irakischen Kurden im Frühjahr 91 klafft eine Lücke: Das Schweigen der „internationalen Gemeinschaft“ angesichts der blutigen Niederschlagung des Aufstandes im Süden und Norden Iraks. Wie schon in den Jahren zuvor wurde Saddams Vernichtungspolitik gegen die Opposition im eigenen Land ignoriert. Erst als die Fernsehbilder der Massenflucht Aufmerksamkeit erregten und Kritik laut wurde, daß die USA den Hubschrauberangriffen mit Phosphor- und Napalm­bomben tatenlos zusahen, wurde Widerspruch eingelegt und die Operation „Provide Comfort“ gestartet. Der Untätigkeit internationaler Hilfsorganisationen und westeuropäischer Regierungen folgte ein Wettkampf nach dem Motto „Wer hilft am schnellsten“. Heute ist das Interesse am Schicksal der Kurden wieder verebbt. Parallel zum Rückzug der „Alliierten“ aus der sog. Schutzzone verlassen Hilfsorganisationen wie Rotes Kreuz, Malteser u.v.m. dieses Gebiet.

Nur wenige NGOs wie z.B. die Frankfurter  Hilfsorganisation medico international sind noch vor Ort. Aktiv in der Hilfe für Kurdistan bleiben v.a. jene Organisationen, die sich bereits seit Jahren für die Wahrung der Menschenrechte in Irak, Iran, Türkei und Syrien einsetzen, deren Warnungen vor der Vernichtungspolitik Husseins vor dem 2.8.90 ebenso ignoriert wurden wie die heutigen Appelle, der Politik der Folter, Ermordung und Deportation am kurdischen Volk durch die türkische Regierung nicht länger tatenlos zuzusehen.

Im Juli 91 bringen wir Medikamente (sog. Health-Kits) und Geld für Lebensmittel und Medikamente in die au­tono­me Region Kurdistans, die außerhalb der „Schutzzone“ liegt und allein von Peshmergas verwaltet wird. Die Installierung eines direkten Funkkontaktes in die BRD soll eine bessere Koordinierung und Absprache ermöglichen. Am Grenzübergang (von der Türkei) nach Zakho sehen wir die Überreste eines 2-Mann-hohen in Stein gemeißelten Standbilds Saddam Husseins. Diese Überreste wie auch umgekippte und zerstörte Fahrzeuge der irakischen Armee im gesamten Nordirak zeugen vom Widerstand und Aufstand der Kurden gegen das Regime. Der Personenkult Saddams muß Milliarden verschlungen haben. In Zakho selbst gibt es seit vier Tagen wieder Strom, in den Straßen herrscht munteres Treiben, spanische Armeefahrzeuge und offene Wagen, auf denen sich bewaffnete Peshmerga dröngen, gehören zum Straßenbild. Zwischen Zakho und Dehok stehen in Straßennöhe und in den kleineren kurdischen Dörfern die Zelte derjenigen Flüchtlinge, die kein Geld haben und deren Häuser zerstört sind. Neben den teuren Waren, die es auf den Märkten zu kaufen gibt, gehören die Hilfslieferungen der „Operation Provide Comfort“ zur Hauptnahmrung. Auf die Anwesenheit der „Alliierten“ angesprochen, bekommen wir überwiegend positive Rückmeldung. Die Erinnerung an die Angriffe Saddams, die Flucht und den harten Kampf ums Überleben in den Bergen, die späteren Hilfslieferungen und Abwürfe aus Hubschraubern haben zunächst vergessen lassen, daß es die gleichen Flugzeuge sind, die zuvor Bomben über dem Irak abgeworfen haben.

Wir brauchen drei Tage, um nach Shaqlawa, unserem ersten Ziel, zu gelangen. Während meines letzten Aufenthaltes in irakisch-Kurdistan, im November 1989, hatten mich irakische Sicherheitskräfte daran gehindert, die jetzige autonome Region Kurdistans zu betreten. Beim Anblick der gezielt von Saddam zerstörten kurdischen Dörfer und Städte wird das unermessliche Ausmaß der von ihm seit Jahren betriebenen Deportationspolitik deutlich. Die Barsan-Region gleicht einem Trümmerfeld, unbestellte Felder mit wild wachsendem Hafer sind die letzten Überreste des fruchtbaren Landstreifens, in dem Barsani früher seinen Hauptsitz hatte.

Die Versorgungslage wird, je weiter man nach Süd-Osten fährt, sichtbar schlechter. Während wir in der alliierten Schutzzone überall auf die Anwesenheit von UNHCR, Rotem Kreuz uvm. stoßen, ist von der internationalen Hilfskampagne in den autonomen Gebieten kaum etwas zu spüren. Ein Blick auf die Landkarte und die Grenzen der „Alliierten Schutzzone“ wirft die Frage auf, nach welchen Kriterien ihre Umrisse entschieden wurden. Die Frage der Flüchtlinge und wo die meisten von ihnen sind, kann es nicht gewesen sein. Maßstäbe sind eher die Bodenschätze, insbesondere das Öl, und der Wunsch der Türkei, sich zwar mit Hilfe der Schutzzone die ungeliebten irakisch-kurdischen Flüchtlinge vom Hals zu schaffen, aber durch deren enge Grenzen deutlich zu signalisieren, daß eine Autonomie der Kurden, egal in welchem Land, unerwünscht ist.

Von Shaqlawa, wo alle 8 Parteien der Kurdistan Front ihr Hauptquartier haben, geht es weiter nach Ranja. Dort gibt es eines der wenigen größeren Krankenhäuser, die von der Kurdish Relief Association (KRA) in Zusammenarbeit mit der Kurdistan Front organisiert werden. Die Ärztin führt uns im Schnellgang durchs Krankenhaus: 5 Zimmer, in jedem 8 Betten, die Familienangehörigen, die über ihre Kranken wachen, überfüllen die kleinen Räume. Dr. R. weist auf die Ausbreitung von Seuchen hin, auf Cholera, Typhus, Minenverletzte, unterernährte Säuglinge und Kleinkinder. Bis zu 1.000 Patienten pro Tag hoffen auf Hilfe. Die wenigen Kisten im Medikamentenvorratslager verdeutlichen den Notstand. Für 5 Tage hat die Ärztin noch Medikamente: „Danach ist Schluß, dann können wir zumachen. Und mit uns auch alle kleineren Krankenstationen, die von uns versorgt werden“. Die von der französischen Hilfsorganisation angekündigten Lieferungen stehen in Kisten in Amman. Es gibt - wie auch sonst - Probleme wegen des Embargos gegen Irak. Mehrmals wird uns berichtet, daß Nahrungsmittel und Medikamente, die über Bagdad nach Kurdistan gebracht werden sollen, dort z.T. zurückgehalten werden. „Die Hälfte aller Sachen kommt bei uns gar nicht an“.

Wir fahren auf der Straße von Ranja nach Quala Diza, die es vor 2 Jahren angeblich nicht gab. Vorbei an weggesprengten Dörfern. Unsere Begleiter, vier Peshmergas aus Shaqlawa, weisen auf ein vor uns liegendes riesiges Trümmerfeld: „Wir sind da, Qala Diza“. Jetzt ist mir endgültig klar, daß die Iraker vor 2 Jahren allen Grund hatten, die Straßen in dieser Region von der Landkarte zu streichen. Im Mai 1989 haben hier noch ca. 70.000 Menschen gelebt. Heute steht kein Stein mehr auf dem anderen. Rostige, verbogene Stahlträger ragen in die Luft, einige Bäume haben den Bombenangriff der irakischen Luftwaffe 1989 Überlebt. Erst gegen Abend, als die Hitze erträglich wird, kommt Leben in die Stadt. Etwa 20.000 KurdInnen leben hier unter den Trümmern. Ohne Strom, ohne Wasserversorgung, ohne .... Die meisten von ihnen sind Opfer der Deportationspolitik Saddam Husseins. „Am 10.04.89 haben wir den Befehl bekommen, die Stadt zu verlassen und in eines der neuen Lager zu ziehen. 6 Tage vor der Bombardierung haben 3 Divisionen die Stadt umstellt. Am 26.06.89 sind die letzten von uns gegangen“. Von den heute hier lebenden KurdInnen stammen etwa die Hälfte aus Quala Diza. Sie sind nach dem Angriff irakischer Truppen im März diesen Jahres bei der Niederschlagung des kurdischen Aufstandes aus Kirkuk, Arbil, Solemaniya und Dehok geflohen, hin zur iranischen Grenze, die nur 10 km von Quala Diza entfernt ist. „Weil wir wissen, daß wir im Iran auch unterdrückt werden, haben wir uns entschlossen, in unsere Stadt zurückzukehren“. Egal mit wem wir sprechen, sie alle sind fest entschlossen, Quala Diza wieder aufzubauen. Stolz zeigen sie uns Fotos einer kurdischen Stadt: das letzte Foto vor der Zerstörung, das bis auf die Umrisse der Berge keinerlei Ähnlichkeit mit dem vor uns liegenden Trümmerhaufen besitzt. Doch vor dem Wieder­aufbau müssen die Überreste weggeräumt werden. Hierzu fehlt das Gerät. Ohne internationale Hilfe für den Wiederaufbau Kurdistans kann diese Aufgabe nicht gelingen. In Kürze wird das erste Haus in Quala Diza wieder stehen: eine kleine Krankenstation und danach - vielleicht - eine Schule. Nach der Besprechung mit dem Komitee Quala Dizas, in dem alle Parteien und die KRA vertreten sind, lassen wir 400.000 DM hier, damit dringend benötigte Lebensmittel und Medikamente besorgt werden können. Ein Tropfen auf den heißen Stein.

Internationale Konferenz am 27./28. September, Bonn, Landesvertretung Niedersachsen:

Das kurdische Volk - keine Zukunft ohne Menschenrechte

Landesregierung Niedersachsen und die „Initiative für Menschenrechte in Kurdistan“ veranstalten die Konferenz, um auf die Lage der mehr als 25 Millionen Kurden in ihrer Heimat hinzuweisen und Perspektiven und Schwierigkeiten für eine friedliche und dauerhafte Lösung aufzuzeigen.  Die Veranstaltung schließt an die Bremer Konferenz vor 2 Jahren und die folgenden in Paris, Lausanne und Stockholm an.

Anmeldeformulare (bis zum 30.08.) bei: Initiative für Menschenrechte in Kurdistan, Postfach 10 45 51, W- 2800 Bremen 1, Tel. 0421/703932, Fax: 0421/7038885.

Die Situation in Penjwin, weiter südlich ebenfalls an der Grenze zum Iran, ist vergleichbar. Zerstörung, Seuchen und vor allem: Minen! Während wir bei einer Familie dankend die Einladung zu einem Tee annehmen, hören wir 2 mal in einiger Entfernung einen dumpfen, explosionsartigen Knall. „Das sind Minen, da sind wieder welche auf diese Minen getreten. Vor drei Wochen, als wir hier angekommen sind, haben wir fast ununterbrochen dieses Geräusch gehört. Kinder, die spielen, Frauen, die nach Früchten suchen, Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkommen. Sie sind nicht tot, meistens nicht, aber die Beine und Füße ...“. Am Ortsrand finden wir das Minendepot - und den Sprengmeister. Das Entschärfen von Minen hat er bei der irakischen Armee gelernt. Jetzt ist er hier allein. In der Region um Penjwin sind etwa 1 Mio Minen gestreut worden. Ein Minenteppich Saddams, der damit die Rückkehr der deportierten Einwohner in die zerstörte Stadt verhindern wollte. Am Tag findet und entschärft der Sprengmeister bis zu 300 Minen. Die Forderung an Saddam, die Pläne der Verminung herauszugeben, ist Bestandteil der Forderungen der Kurdistan Front an Saddam Hussein. Sie ist bis heute abgelehnt worden. Die ärztliche Versorgung ist hier noch schlechter als in Quala Diza. Ein kleines Zelt, aufgestellt vom Roten Kreuz, und zwei übernächtigte Ärzte können nicht mehr als Erste Hilfe leisten. Impfstoffe haben sie vom UNHCR bekommen, aber sie haben keine Möglichkeit, Medikamente zu kühlen. Die Ärztin der KRA kritisiert das Fehlen internationaler Hilfe. Sie sei nie von den großen Hilfsorganisationen gefragt worden, was am dringendsten benötigt wird. Sie hat zwar einen elektrischen Kühlschrank bekommen, aber was hilft der, wenn es keinen Strom gibt. Sie brauchen dringend gasbetriebene Kühlgeräte. Denn Gas können sie besorgen. Wir entscheiden uns, hier in Penjwin ein längerfristiges Projekt aufzubauen. Ein kleines Krankenhaus, wie­derum in Zusammenarbeit mit der KRA, und der Belieferung mit Medikamenten für 2-3 Jahre. Ziel ist es, daß die KRA bis dahin in der Lage sein wird, das Projekt selbst zu tragen.

Diese zwei Beispiele stehen nur exem­plarisch für die autonome Region. Beispiele für die Dringlichkeit massiver Unterstützung beim Wiederaufbau Kurdistans. Vor allem der bundesdeutschen Regierung kommt eine besondere Verantwortung zu. Während unseres Auf­enthaltes in Halabja waren die Spuren des nun drei Jahre zurückliegenden Giftgaseinsatzes noch immer deutlich zu spüren. Giftgas, das mit bundesdeutscher Hilfe hergestellt wurde. Auch Halabja ist weitestgehend zerstört. Zu sehen sind noch die Massengröber der Giftgasopfer, die Keller, aus denen die Leichen gezogen wurden. Es ist kaum eine Familie anzutreffen, die nicht um einen Angehörigen trauert, der durch den Giftgaseinsatz oder während der Flucht gestorben ist. Aber die Berichte der Augenzeugen des Giftgaseinsatzes, die heute wieder nach Halabja zurückgekommen sind, um es wieder aufzubauen, klagen an. Frauen winken uns in ihre provisorisch aufgebauten Hütten und zeigen Narben, die sich über den ganzen Körper ziehen. Alles, was sie erleben mußten, macht ihre Rücken gebeugt. Aber ihre Augen haben den Stolz nicht verloren. Auch sie starren - wie die meisten Menschen in Kurdistan - auf die Verhandlungen mit Saddam. Sie wissen zu gut aus der eigenen Erfahrung, daß ein Versprechen Saddam Husseins keinen Wert hat. Die Zeit steht auf der Seite Saddams. Je länger die Verhandlungen dauern, um so unwahrscheinlicher wird ein akzeptabler Abschluß. Die brütende Hitze wird schnell wieder abgelöst werden von eisiger, mörderischer Kälte. Und sie wissen, vielleicht müssen sie noch einmal fliehen.

All diese Menschen haben ein Recht auf Entschädigung, von Wiedergutmachung kann nach all dem Leid keine Rede sein. Der Rückzug der Hilfsorganisationen und der Alliierten, deren Kooperation mit Bagdad und die Ausklammerung der kurdischen Frage aus den Nahostverhandlungen: das ist die Sprache der weiteren und erneuten Mitverantwortung der „Internationalen Gemeinschaft“ am fortgesetzten schleichenden Völkermord am kurdischen Volk.

Ex-MdB Angelika Beer ist Mitglied im Bundesvorstand der Grünen.

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Hintergrund
Angelika Beer ist Verteidigungspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.