Bundesregierung

Leitlinien der Krisenprävention

von Christiane Lammers

Relativ unbemerkt von der Öffentlichkeit verabschiedete die Bundesregierung der großen Koalition im Juni 2017 das Regierungsdokument „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern. Leitlinien der Bundesregierung“. Das Dokument löst den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ von 2004 ab.

Welche Bedeutung diesem Aktionsplan von zivilgesellschaftlichen Organisationen aus der Entwicklungs-, Menschenrechts- und Friedensarbeit zugemessen wurde, lässt sich auch an der intensiven Beteiligung am Konsultationsprozess für das neue Dokument bemessen.

Ein Blick 20 Jahre zurück hilft dies zu verstehen: 1998 war die erste rot-grüne  Koalition angetreten, um „sich mit aller Kraft um die Entwicklung und Anwendung von wirksamen Strategien und Instrumenten der Krisenprävention und der friedlichen Konfliktregelung [zu] bemühen. Sie [wollte] sich dabei von der Verpflichtung zur weiteren Zivilisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, zu einem ökonomischen, ökologischen und sozial gerechten Interessenausgleich der Weltregionen und zur weltweiten Einhaltung der Menschenrechte leiten lassen“ (1). Viel Hoffnung legten Friedensorganisationen darauf, dass Abrüstungs-, Entspannungspolitik und nichtmilitärische Konfliktbearbeitung einen sicheren Platz in der Regierungspolitik bekommen würden. Erwartet wurde, dass die damalige Bundesregierung nun auch bereit wäre, die Arbeit zivilgesellschaftlicher Initiativen und Projekte, wie z.B. den Zivilen Friedensdienst, in Konfliktgebieten und Nachkriegsgesellschaften strukturell und nachhaltig zu fördern. Und tatsächlich: Nach zwei Jahren Vorarbeit stand ein Dokument mit über 180 Aktionen. Auch im internationalen Vergleich stellte es ein Novum dar. Parallel wurden Projektförderungslinien für zivilgesellschaftliche Arbeit sowohl im Auswärtigen Amt, die sogenannten zivik-Mittel, eingerichtet, als auch z.B. die Förderung des Zivilen Friedensdienstes durch das Entwicklungsministerium aufgenommen. Die zivil-staatliche Zusammenarbeit in der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung (FriEnt) wurde aus der Taufe gehoben und die Deutsche Stiftung Friedensforschung gegründet.

Natürlich: Auch Rot-Grün hat damals keinen "Frieden auf Erden" geschaffen: Der Verteidigungshaushalt blieb der drittstärkste Einzelhaushalt des Bundes, systemische Konfliktursachen von Kriegen wurden nicht grundsätzlich angegangen, die Gültigkeit der Menschenrechte vor einzelstaatlichen Interessen immer wieder durch Realpolitik in Frage gestellt. Und nicht zuletzt: Ausgerechnet diese Bundesregierung hat die Bundesrepublik durch die Beteiligung am Kosovo-Krieg erstmals militärisch in einen Krieg geführt.

Und trotzdem: Der Aktionsplan war ein positives und konstruktives Beispiel für Regierungshandeln, staatliche und zivilgesellschaftliche Friedensarbeit und -politik zu strukturieren und zu fördern. Die konkreten Schwachstellen des Aktionsplans wurden im Kontext der zweijährlich erschienenen Umsetzungsberichte immer wieder aufgezeigt. Trotz des vielfach kritisierten fehlenden strategischen Bindeglieds zwischen langfristiger Perspektive und kurzfristiger Einzelaktion blieb der Aktionsplan bis Mitte dieses Jahrzehnts einer der wichtigsten Ankerpunkte für die friedenspolitische Advocacy-Arbeit. Keine Regierung stellte ihn in Frage, die Berichtspflicht führte zur parlamentarischen Befassung mit ziviler Konfliktbearbeitung, ein Unterausschuss des Bundestags arbeitet seit 2010 auf Grundlage des Aktionsplans,  Haushaltsforderungen konnten u.a. mit ihm begründet werden usw.

Die Leitlinien
Dieser Aktionsplan wurde nun also im Juni abgelöst durch die neuen sogenannten „Leitlinien zu Krisenverhinderung, Konfliktbewältigung und Friedensförderung“. Den Kern des oben erwähnten Konsultationsprozesses bildeten Workshops von Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaft und Ministerien. Begleitet wurde der Prozess unter dem Stichwort Peace-lab 2016 durch eine Webseite, in der kurze, prägnante Beiträge von ExpertInnen und PolitikerInnen nachzulesen sind. (2) Das Dokument selbst wurde in einer ressortübergreifenden Schreibgruppe mit wesentlicher Beteiligung des Auswärtigen Amts, des Entwicklungsministeriums, des Innenministeriums wie auch des Verteidigungsministeriums erstellt. Entgegen anderer Dokumente mit ähnlichen Konsultationsprozessen, wie der Aktionsplan 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit oder die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie zur Umsetzung der Agenda 2030, wurden die Leitlinien nicht im Entwurf zur öffentlichen Diskussion gestellt. Die Verabschiedung durch das Kabinett verzögerte sich dieses Frühjahr um mehrere Monate. Grund hierfür waren wohl strittige Punkte insbesondere zwischen dem Außenminister und der Verteidigungsministerin, die die Vorrangigkeit des Zivilen vor dem Militärischen im Grundsatz wie auch in Detailfragen betrafen. Hierfür wurden dann schließlich Kompromissformeln gefunden, wie  „Vorrang der Prävention“ statt „Vorrang des Zivilen“, rotierender Vorsitz des ressortübergreifenden Koordinationsgremiums statt ausgestaltetem Vorsitz des Auswärtigen Amtes. Die politische Verschiebung zu Ungunsten einer friedenspolitischen Eindeutigkeit drückt sich auch im Dokument selbst aus, z.B. durch die mehrfachen Bezüge zur sicherheitspolitischen Analyse des ein Jahr zuvor verabschiedeten sicherheitspolitischen Weißbuches.

Zur Grundstruktur der Leitlinien
Die Leitlinien gliedern sich in drei Hauptkapitel:

I. Einer Analyse unter dem Titel “Weltordnung im Umbruch: Verantwortung übernehmen in schwierigen Zeiten“, die sich auf fünf Schwerpunkte konzentriert: Fragile Staatlichkeit, Nationalismus/Fundamentalismus/Extremismus, Internationalisierte Konflikte, Bevölkerungsdynamik/ Klimawandel/Naturkatastrophen, Flucht/Migration.

II. Der Erläuterung des Leitbilds  unter den Fragestellungen warum, wie, mit wem und wo gehandelt werden soll.

II. Dem Kapitel zu Zielen, Ansätzen und Instrumenten der Friedensförderung.

Lässt man den im Dokument mitschwingenden Grundwiderspruch zwischen ziviler Friedenspolitik und militärischer Sicherheitspolitik außer Acht, so sind die Leitlinien durchaus ein Dokument, das friedenspolitisch unterstützenswerte Anknüpfungspunkte enthält. Exemplarisch zu nennen sind hier:

- Die auch gesellschaftliche Dimensionen einschließenden Ziele der inklusiven Gestaltung von Friedensprozessen, der sozialen Kohäsion, des Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt, Ausbeutung, Missbrauch und Rekrutierung.

- Die Hervorhebung zivilgesellschaftlicher Ansätze, wie z.B. den Zivilen Friedensdienst, den Menschenrechtsschutz oder das Zivile Peacekeeping.

- Der formulierte Willen zu einer besseren  Abstimmung zwischen den einzelnen Politikfeldern, zur Fortentwicklung der personellen Friedenskompetenzen durch Aus- und Weiterbildung in den Ministerien und zu einer Öffentlichkeitsarbeit für Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung.

Kritik
Ein grundsätzlicher Kritikpunkt an den Leitlinien ist, dass die von vielen RezipientInnen positiv hervorgehobene Problemanalyse, die skizzierten Grundprinzipien und die Hinweise auf konstruktive Handlungsansätze schon wie im Aktionsplan ohne eine strategische Verbindung im Raum verhallen. Es werden keine mittelfristigen Ziele benannt, auf die man hinsteuert, keine Indikatoren aufgeführt, mit denen man die Zielannäherung überprüfen könnte, keine finanziellen, personellen und strukturellen Ressourcen benannt, die zur Zielerreichung zukünftig als notwendig erachtet werden. Letzteres übrigens ein wesentlicher Unterschied zum Weißbuch, in dem eindeutig und sogar fast unhinterfragbar Personalstärken und Haushaltsaufwüchse aufgeführt sind. Dies gilt auch für die im Anhang der Leitlinien zusammengefassten 50 Selbstverpflichtungen.

Werden die bisherigen Programme der „Demokratieförderung“ auf den Prüfstand gestellt? Wie wird sichergestellt, dass es sich hier um ein „inklusives“ Engagement handelt, also die Gesellschaften vor Ort in ihrer Selbstbestimmung gestärkt werden? Welche Widersprüche ergeben sich schon jetzt aus dem eigenen Handeln bspw. in Libyen durch die Aufbauhilfe für die Küsten“sicherung“ und der damit verbundenen Fluchtverhinderung, was wahrlich nichts mit Demokratieförderung und schon gar nicht mit dem Menschenrecht auf Asyl zu tun hat? Was sind plausibel aufeinander aufbauende Teilziele und daraus folgende Schritte?

Diese Fragen zu beantworten wäre der naheliegende nächste Schritt in Sachen Leitlinien: Mit der Erarbeitung eines Umsetzungsplans, in dem diese Leerstellen gefüllt werden. Wünschenswert wäre, wenn die im Peacelab-Prozess sichtbar gewordene Expertise hierfür genutzt würde. Und wenn dieser Umsetzungsplan tatsächlich auch zur Diskussion gestellt würde. Ob die neue Bundesregierung den politischen Willen hierzu aufbringt, wird sich erst noch zeigen müssen. Zu Recht wurde in der Kommentierung des Wahlkampfs kritisiert, dass die drängenden internationalen und globalen Fragen ausgeklammert wurden. Dies kann sich der neu gewählte Bundestag nicht mehr leisten. Der Druck, dass kurzfristiger Pragmatismus nachhaltiger Problemlösung weichen muss, wird schon durch die äußeren Gegebenheiten hergestellt. Schließlich sind die Leitlinien nicht aus einer Laune des Ministeriums heraus initiiert worden, sondern weil die Realität das Scheitern des bisherigen Handelns vor Augen führte. Denn wie soll es mit Europa, dem Nahen und Mittleren Osten, mit Afghanistan, mit den nordafrikanischen Ländern seitens deutscher Politik weitergehen? Und vor allem: Wie will man, den Menschenrechten verpflichtet, die mannigfache Gewalt gegen Menschen verhindern helfen?

Anmerkungen

1 Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bonn, 20. Oktober 1998.

2 http://www.peacelab2016.de/

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