Menschenrechtsverletzungen in Kurdistan / Türkei

von Sertaç Bucak

Sertac Bucak vom lnternationalen Verein für Menschenrechte in Kurdistan (IMK) hielt beim Kurdistan-Hearing des Netzwerkes einen ausführlichen Vortrag zu den Menschenrechtsverletzungen in Kurdistan. Sein Bericht umfasst den Zeitraum Januar-September 1993. Im Folgenden geben wir seinen Bericht stark gekürzt (Ganzfassung kann angefordert werden gegen 2,- DM Porto) wieder. Sertac Bucak wird im März eine aktualisierte Bilanz vorlegen, die ebenfalls im Netzwerk-Büro bestellt werden kann.

Menschenrechte und Grundfreiheiten der über 15 Millionen Kurden in der Türkei, wie sie in den internationalen Standards definiert und geschützt sind, werden eklatant verletzt. Die kurdische Sprache ist weiterhin in Amtsstuben, im Erziehungs- und Schulwesen verboten; im Rundfunk und Fernsehen dürfen Beiträge in kurdischer Sprache nicht ausgestrahlt werden.                   

Das gesetzliche Verbot, ethnische und religiöse Anliegen zur Grundlage politischer Organisation zu machen, läßt eine legale Vertretung kurdischer Interessen im öffentlichen und politischen Leben der Türkei weiterhin nicht zu. Zuletzt wurde "Halkin Emek Partisi-HEP" (Partei der Arbeit des Volkes), die auch im türkischen Parlament mit 18 Abgeordneten vertreten war, nach einer Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts in Ankara vom 14. Juli 1993 verboten. Grund: Verstoß gegen die Verfassung und das Parteiengesetz.

Bis zum Verbot wurden 48 Parteifunktionäre von HEP auf offener Straße von "unbekannten Personen" ermordet. Jetzt sind die Mitglieder der neu gegründeten "Partei der Demokratie-DEP“ Zielscheibe der Repressionen und Ermordungen.

Der Ausnahmenzustand in den 10 kurdischen Provinzen gilt weiterhin, für weitere drei Provinzen hat der Ausnahmezustandsgouverneur besondere Vollmachten. Dies bedeutet: Einschränkungen demokratischer Rechte und Verdoppelung der zulässigen Höchstdauer der Polizeihaft auf 30 Tage,  was für Festgenommene in der Regel längere Folter bedeutet.

Nach Angaben der türkischen Presse befinden sich über 100 Kampfflugzeuge, 40 Cobra-Hubschrauber, 35 Skorksy-Hubschrauber und 230  UH1 und Bell 212 Hubschrauber, über 120.000 Soldaten, 32.000 Dorfwächter und 2.500 Spezial-Einheiten in Kurdistan im Einsatz. Unter Verweis auf den andauernden Widerstand der "Arbeiterpartei Kurdistans-PKK" hat die Regierung den Militärs das Feld vollständig überlassen.

Die Bilanz der achtmonatigen Lage der  Menschenrechte (Januar-August 1993) ist bedrückend:

  • 720 tote Zivilisten
  • 760 Tote von der PKK
  • 472 Tote Militärs
  • 212 zerstörte Dörfer und Weiler

Hinzu kommen tausende Festnahmen, über tausend Verletzte. Es herrscht faktisch Krieg. Dies bedeutet eine Bankrotterklärung gegenüber allen politischen und moralischen Wertvorstellungen. Durch den Militäreinsatz wird der Krieg als Mittel der Politik eingesetzt. Der Krieg gegen das kurdische Volk hat das Kurdenproblem in der Türkei nicht lösen können, im Gegenteil: Er hat es vertieft und neue Probleme geschaffen. Während des einseitigen Waffenstillstands der PKK (20. März bis 25. Mai 1993) und der Unterbreitung der Vorschläge der kurdischen Parteien für eine friedliche und politische Lösung hat sich die Lage der Menschenrechte in Kurdistan verhältnismäßig verbessert, obwohl die Regierung darauf nicht konkret reagierte. Dies beweist auch die Bilanz während dieser Zeit.

Außergerichtliche Hinrichtungen

Vom 1. Januar bis 31. August 1993 wurden 388 Menschen in Türkisch Kurdistan ermordet (im entsprechenden Zeitraum waren es 200). In allen Fällen Wird der Vorwurf laut, daß es "staatliche Morde" seien. Bei den Opfern handelt es sich um Lokalpolitiker, Menschenrechtsaktivisten, kritische Journalisten, Gewerkschafter, Bürger, die sich offen zu ihrer kurdischen Identität bekannten und um Menschen, die verdächtigt werden, Verbindungen zu verbotenen kurdischen Parteien und Organisationen unterhalten zu haben. Immer häufiger werden die Opfer auf offener Straße aus dem Hinterhalt erschossen. Hinter zahlreichen Morden werden Todesschwadronen vermutet, die offenbar mit Duldung staatlicher Stellen operieren. Dabei spielt die paramilitärische Konterguerilla eine bedeutende Rolle, die dem Militär zugeordnet ist. Kurdische Quellen berichten, daß viele Morde durch "unbekannte Täter", die zu Beginn des Jahres verübt wurden, der "Hizbullah" zugeschrieben werden können. Die meisten der "Hizbullah Opfer" waren Menschen, die bereits früher von der Polizei festgenommen, verhört, bedroht und mißhandelt worden waren. Dies erhärtet den Verdacht, daß "Hizbullah" mit staatlichen Stellen zusammenarbeitet.

Foltervorwürfe

Die Türkei ratifizierte im Februar 1988 die Europäische Konvention zur, Verhütung von Folter und im August des gleichen Jahres die Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen. Dennoch kommt die Folter in den kurdischen Regionen weiterhin systematisch und weitverbreitet zur Anwendung. Das "Komitee zur Verhütung von Folter (CPT)" mahnte öffentlich am 21.12.1992 zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Türkei wegen "weitverbreiteter Folterpraxis und anderen Formen der Mißhandlungen von Personen während der Polizeihaft“ an und stellte fest, daß Folter in der Türkei "sowohl gegen die mutmaßlichen kriminellen als auch gegen die wegen des Anti-Terror-Gesetzes (ATG) festgenommenen Personen angewandt werde".

Seit Januar 1993 werden über Hunderte von Foltervorwürfen berichtet, die in einigen Fällen zum Tode geführt haben. Uns liegen Berichte vor, wonach die kurdische Landbevölkerung während der militärischen Operationen von Sicherheitskräften der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterzogen werden. Die militärischen Operationen laufen im allgemeinen nach folgendem Schema ab: Das Dorf wird morgens früh vom Militär mit gepanzerten Fahrzeugen umstellt und häufig von Hubschraubern überflogen. Die Dorfbewohner werden von ihren Häusern unter Gewaltanwendung abgeholt und auf dem Dorfplatz zusammengetrieben. Den Dorfbewohnern werden von Militärs, vor allem durch Angehörige der "Spezialeinheiten" (schwer bewaffnete und in einem speziellen Training für Nahkampf ausgebildete Sondereinheiten, die dem Innenministerium unterstellt sind) und Dorfwächtern vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt, sie werden eingeschüchtert, genötigt und wegen ihrer ethnischen Identität beschimpft. 'Die Dorfbewohner werden willkürlich in Gewahrsam genommen und in Polizei oder Gendarmeriewachen oder direkt im Dorf verhört. Die Verhöre führen zu Verletzungen oder zum Tode der Bewohner. Bei den militärischen Operationen ist keine Person der Judikative (Richter oder Staatsanwalt) anwesend. Die Dorfbewohner sind der Willkür der Sicherheitskräfte ausgeliefert.

Pressefreiheit

Das New Yorker "Committee to protect Journalists"  bezeichnete in ihrem Jahresbericht von 1992 die Türkei  als das gefährlichste Land für Journalisten. 12 Journalisten, die über die Menschenrechtsverletzungen in der Region berichteten, wurden 1992 in den kurdischen Regionen von "unbekannten Personen" ermordet. Auch 1993 wurde die Presse, die von Kurden herausgegeben wird, Zielscheibe der staatlichen Repressionen. Die Zeitungen und Zeitschriften "Özgür Gündem" ("Freie Tagesordnung" -Tageszeitung), die Wochenzeitungen "Azadi"("Freiheit"), "Medya Günesi" ("Sonne der Meder"),"Newroz", "Deng“ (''Stimme'') u.a. werden öfters beschlagnahmt, deren Vertrieb verhindert, Büros überfallen, Herausgeber, Redakteure und Korrespondenten in Untersuchungshaft genommen, zu langen Freiheits- und hohen Geldstrafen wegen des Verstoßes gegen das Anti-Terror-Gesetz (ATG) verurteilt. Während der 36 Monate wurden 33 der 68 Ausgaben der Wochenzeitung "Azadi" vom Staatsicherheitsgericht (DGM) in Istanbul beschlagnahmt . Es laufen mehrere Verfahren gegen die Herausgeber von Azadi. In zwei Verfahren beantragte der Staatsanwalt des DGM Istanbul das Verbot von "Özgür Gündem" und der Zeitschrift "Deng". 1993 wurden drei kurdische Journalisten ermordet und eine Journalistin gilt seit dem 7. August 1993 als "verschwunden".

Zerstörung der Dörfer und Vertreibungen

Von Januar einschließlich August 1993 wurden 212 Dörfer und Weiter von Militärs total oder teilweise zerstört. Nach den militärischen Operationen wird die Bevölkerung aufgefordert, innerhalb einer gesetzten Frist ihre Dörfer zu verlassen. Die Aufforderung zum Verlassen der Dörfer basiert nicht auf irgendeinem Gesetz oder Erlaß, wie es in der Vergangenheit in den kurdischen Regionen der Fall war. Manchmal werden die Dorfbewohner ohne Vorankündigung zum Verlassen ihrer Dörfer gezwungen. Sie werden durch Folter und erniedrigende Behandlungen während der militärischen Operationen so stark genötigt und eingeschüchtert, daß ihnen keine andere Wahl bleibt, als ihren Heimatort zu verlassen. Die Militärs scheuen nicht vor physischer Gewalt zurück. Meistens werden die "Spezialeinheiten" eingesetzt. Dabei wird massive Gewalt sowohl gegen die Menschen als auch gegen Unterkünfte, Tiere und Ernte angewandt. Bei den Operationen werden die Menschen aufgefordert, "Dorfwächter" zu werden. Sie haben dabei nur zwei Möglichkeiten. Entweder arbeiten sie mit den Sicherheitskräften zusammen, oder sie werden zwangsdeportiert. Daher sind einige Dörfer nur teilweise zerstört und entvölkert, weil ein Teil unter dem staatlichen Druck keine andere Wahl sieht,  "Dorfwächter" zu werden. Die zwangsdeportierten Menschen werden nicht entschädigt. Ihnen werden auch keine alternativen Orte oder Unterkünfte angewiesen. Zuerst finden die Menschen nur eine Bleibe bei Verwandten oder Bekannten in den benachbarten Orten oder sie hausen im Freien. Mit diesen Maßnahmen will die Türkei erreichen, die demographische Struktur, politische, kulturelle und andere spezifische Eigenschaften Kurdistans zu verändern.

PKK-Guerillas und die Menschenrechte

Während der achtmonatigen Zeit wurden  Menschen bei Angriffen des bewaffneten Arms der PKK (ARGK) getötet. Die ARGK warf ihnen die "Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften" vor. Dabei kamen unbeteiligte Zivilisten, vor allem die Familienangehörigen der Dorfwächter ums Leben. Es wurden Menschen bei den Straßenkontrollen oder bei den Überfällen auf die Häuser mitgeschleppt und getötet. Bei bewaffneten Konflikten, wie sie in Türkisch Kurdistan existieren, fordert der Internationale Verein für Menschenrechte in Kurdistan -IMK e.V. sowohl die  türkische Regierung als auch die PKK auf, international festgelegte humanitäre  Standards einzuhalten. IMK e.V. verurteilt daher  die Verletzung  der Menschenrechte, die sowohl von Regierungen als auch von bewaffneten Oppositionsgruppen begangen werden.

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Sertaç Bucak ist Direktor des Interna¬tionaler Verein für Menschenrechte in Kurdistan e.V., Bonn.