Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen in der UdSSR

von Kalle Seng

Am 5. März 1987 nahm die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen eine Resolution mehrheitlich an, die das Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen als eine legitime Ausübung des universell anerkannten Rechts der Freiheit der Meinung, des Gewissens und der Religion anerkannte. Die Resolution beinhaltete auch eine Empfehlung an alle Mitgliedsstaaten einen alternativen zivilen Dienst einzuführen. Vertreter von 26 Staaten sprachen sich für die Annahme der Resolution aus; Iran und Mozambik lehnten sie ab. Mit Stimmenthaltung votierten 14 Staaten, darunter die Vertreter der UdSSR und der DDR. Da die Sowjets in der Vergangenheit in der Menschenrechtskommission immer gegen eine derartige Anerkennung opponiert hatten, deutet die Stimmenthaltung auf eine Wandlungsbereitschaft hin. Im Zuge von Glasnost und Perestroika öffnet sich die heutige sowjetische Reformpolitik einem Thema, des¬sen traditionelle Wurzeln bis in die Vorzeit der sozialistischen Revolution von 1917 reichen.

1763 bot Katharina II religiös und politisch Verfolgten aus anderen Ländern an, sich unter der Zusicherung der Befreiung vom Militärdienst - in Russland anzusiedeln, um unerschlossene Gebiete zu erschließen. Eine Einwanderungswelle von Menschen der mennonitischen Glaubensgemeinschaft aus Danzig und Preußen setzte ein, deren Zahl bis 1914 auf 100.000 anwuchs. 1800 bestätigte Zar Paul I den Einwanderern das Privileg der Freistellung vom Militärdienst "für alle Zeiten".
1874 wurde mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht den Mennoniten ein Ersatzdienst (Waldarbeiten) zur Auflage gemacht. Mitgliedern anderer christlicher Glaubensgemeinschaften wurde keine Befreiungsmöglichkeit vom Militärdienst gewährt. Im 1. Weltkrieg gab es zwischen 1914 und 1916 nach offiziellen Statistiken 837 Fälle von Militärdienstverweigerung durch Menschen, die nicht den Mennoniten angehörten, darunter 329 Tolstoianer, Quäker und andere.
Die Februar-Revolution von 1917 führte zur Freilassung aller inhaftierten Verweigerer durch die provisorische Regierung. Die neue Sowjetregierung schuf 1919 den "Erlaß des Rates der Volkskommissare über die Befreiung vom Militärdienst aus Gewissens¬gründen", der auch eine Regelung für totale Verweigerer vorsah.
Bis 1920 gab es in Moskau allein 30.000 registrierte Fälle von Verweigerung. Die Militärgesetzgebung von 1939 sah keinerlei Regelung mehr für Verweigerer vor unter dem Hinweis, daß in den letzten zwei Jahren kein Antrag auf Freistellung vom Militärdienst aufgrund religiöser Oberzeugung gestellt worden sei. In den 60er Jahren wurden Verurteilungen gegen Verweigerer von drei bis sechs Jahren Arbeitslager bekannt. Daneben wurden religiöse Verweigerer auch für verhandlungsunfähig erklärt und in psychiatrischen Kliniken untergebracht.
Am 21. März 1987 veröffentlichten mehr als 400 Personen aus sechs kommunistischen Staaten Europas eine Appell an die in Wien tagenden Delegierten des dritten KSZE-Folgetreffens für die Anerkennung des Rechts auf Militärdienstverweigerung und die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes in ihren Ländern; am 13. Oktober 1987 trat die sowjetische Bürgerrechtsinitiative "Gruppe für Vertrauen zwischen Ost und West" mit einem Appell "Für das Recht auf Pazifismus" in Moskau an die Öffentlichkeit.
Im Zusammenhang mit dem sowjetischen Militärengagement in Afghanistan wurden Anfang 1988 verschiedene Fälle bekannt, in den junge Wehrdienstpflichtige den Einsatz in Afghanistan verweigerten. Der politisch Verantwortliche der an Afghanistan angrenzenden Militärregion Turkestan, General Stefanowskij, kritisierte die Verbreitung von "pazifistischen Gedankengut" bei den Wehrdienstleistenden und forderte intensive propagandistische Arbeit in den usbekischen Truppen, um die jungen Soldaten von der "Notwendigkeit zu überzeugen, sich zielstrebig auf den Militärdienst vorzubereiten und dem Vaterland treu zu dienen". In der sowjetischen Militärzeitung "Roter Stern" beklagte sich ein Oberst und Leiter einer Wehrdienststelle nahe Moskau, daß "in den letzten Jahren die Zahl der jungen Leute zugenommen habe", die sich "vor dem Armeedienst drücken wollten". Um nicht zur Armee zu müssen, würden "alle Mittel bis zur Simulierung von psychischen Krankheiten" benutzt. Zur Neuregelung mit dem Ziel der Liberalisierung der Beziehung zwischen Staat und Kirche kündigte Michail Gorbatschow am 29. April 1988 einen Entwurf für ein Gesetz über Gewissensfreiheit an Konstantin Chartschew, Vorsitzender des Rates für religiöse Angelegenheiten, überreichte Mitte Februar 1989 Kirchenvertretern in Moskau einen Entwurf eines solchen Gesetzes. Artikel 5 enthält ein vage gehaltene Formulierung, die darauf schließen läßt, erste legale Regelungen für eine (religiös begründete) Militärdienstverweigerung vorzusehen in Verbindung mit einer Ersatzdienstverpflichtung: "Niemand kann sich aus Motiven seiner religiösen Überzeugung der Erfüllung gesetzlich geregelter bürgerlicher Pflichten entziehen. Ausnahmen von dieser Bestimmung werden unter der Voraussetzung des Ersatzes einer bürgerlichen Verpflichtung durch eine andere in jedem einzelnen Fall durch gerichtlichen Beschluß geregelt". Bedauerlicherweise haben die Autoren dieses Gesetzesentwurfes Aussagen konkreterer inhaltlicher Ausgestaltung unterlassen.
In der öffentlichen Debatte über den Entwurf sind von daher die in den Appellen benannten Anforderungskriterien für eine gesetzliche Regelung der Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen hilfreich und Prüfsteine. Vermutlich im Spätsommer 1989 wird sich der Oberste Sowjet mit diesem Entwurf beschäftigen. Wir in der BRD sollten dies auch schon vorher tun und den sowjetischen Pazifisten Zeichen internationaler Solidarität zeigen.

Zum geplanten Besuch von KPdSU Generalsekretär Michail Gorbatschow in der BRD vom 12. bis 15. Juni 1989 erscheint eine Dokumentation "Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen in der Sowjetunion": Die Broschüre ist erhältlich durch Voreinsendung von 12 DM bei: Friedenswerkstatt Hamburg, clo Papertiger, Eppendorfer Weg 187, 2000 Hamburg 20.

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Kalle Seng ist Mitarbeiter im Projekt "Transnationale Friedensarbeit".