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Mit der KSZE zur Integration Gesamteuropas
vonZivilisierte Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, daß unvermeidliche und unüberwindbare Interessenkonflikte nach verfassungs- und satzungsgemäßen Spielregeln ausgetragen werden. In Staaten mit einer starken demokratischen Partizipation werden solche Spielregeln nur als legitim akzeptiert, wenn die Politik auf einen fairen Interessenausgleich ausgerichtet ist und insbesondere sich um Verteilungsgerechtigkeit bemüht. Werden Fairneß und Verteilungsgerechtigkeit mißachtet, drohen im Grenzfall gewaltförmige und bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen, durch die die verfassungsmäßige Ordnung in Frage gestellt wird.
Eine vergleichbare Verzivilisierung internationaler Konflikte ist bisher nur in Teilbereichen des internationalen Systems gelungen, so zwischen den skandinavischen Staaten, im westeuropäischen Raum und in Nordamerika Das entscheidende Kriterium für eine solche Bewertung ist die Frage, ob die Androhung bzw. die potentielle Anwendung militärischer Gewalt zur Durchsetzung von Interessen überhaupt noch eine Rolle spielt oder nicht. Heute geht es in Europa eine solche Zone stabilen Friedens zu machen. Darin liegt die große Chance nach dem weltpolitisch unerwarteten Umbruch am Ende des Jahres 1989. Erkennt man die Chance und werden die politischen Weichen auf den Aufbau einer Struktur dauerhaften Friedens in Europa ausgerichtet, könnte ein solches Ziel bis zum Ende des Jahrzehnts erreicht werden.
Einer der Bausteine für eine solche Struktur dauerhaften Friedens in Europas wird die institutionalisierte KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) sein. Schon seit die Schlußakte der KSZE 1975 in Helsinki von 35 europäischen Staaten unterzeichnet worden ist, hat sich die KSZE, die allerdings bisher nicht institutionalisiert war, als eine wichtige Brücke zwischen Ost und West erwiesen. Mit dem Ende der Blockkonfrontation wird der KSZE eine ganz neue Aufgabe zuwachsen, nämlich die eigentliche institutionelle Plattform für die politische Kooperation im gesamten Europa zu werden. Der Zwang, die äußeren, insbesondere die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen der Vereinigung Deutschlands rasch regeln zu müssen, hat dem KSZE-Gedanken eine erhebliche Schubkraft verliehen. Inzwischen ist man sich allerorts darüber einig, daß die KSZE institutionalisiert und durch spezifische Gremien und Behörden ausgebaut werden muß, so daß auf gesamteuropäischer Ebene ein arbeitsfähiges Instrumentarium entsteht.
Dabei geht es zunächst um scheinbar Banales wie z.B. um regelmäßige Treffen auf hoher politischer Ebene (Gipfeltreffen, fachministerielle Treffen, Fachausschüsse usf.) sowie um die Einrichtung gesamteuropäischer Gremien: einen Rat für Sicherheit und Zusammenarbeit, ein Ständiges Sekretariat, ein Zentrum zur Verhütung und Beilegung von Konflikten, verschiedene Räte zur Koordinierung der wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen, humanitären, rechtlichen und kulturellen Zusammenarbeit sowie des Umweltschutzes. Heute bedarf noch jedes gesamteuropäische Treffen auf hoher oder fachministerieller Ebene der besonderen Beschlüsse: Staaten können sich beteiligen oder sich den Beratungen entziehen. Es ist wichtig, daß auch auf gesamteuropäischer Ebene institutionelle Zwänge zur Koordinierung und Konzertierung der Politik geschaffen werden. Sollte dieser Versuch mißlingen, droht Europa sich in neue, blockähnliche Gebilde zu zerklüften oder in einen Nationalismus zurückzufallen, der in den zwanziger und dreißiger Jahren verheerende Folgen hatte. Die Struktur, die es heute zu vermeiden gilt, ist unschwer vorstellbar: ein institutionell gefestigtes Westeuropa, eine krisengeschüttelte Sowjetunion, die immer noch über das größte Militärpotential in Europa verfügen würde, und ein dazwischenliegendes Osteuropa, dessen Chance, sich über gesamteuropäische Institutionen Gehör zu verschaffen, vertan würde. Der Rückfall in nationalistische Politik, in neue Hegemonialstrukturen und in bilaterale Allianzen und Gegenallianzen wäre nur eine Frage der Zeit. Einem solchen drohenden Entwicklungstrend gilt es wirksam entgegenzuarbeiten. Die Institutionalisierung der KSZE ist einer von mehreren Ansatzpunkten, diesen Trend abzuwenden und eine vernünftige Gesamtstruktur in Europa zu erreichen.
Was wäre im einzelnen zu tun? Wichtige Aufgabe der Gipfeltreffen und insbesondere des Rates für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der auf der Ebene der Außenminister tagen würde, würde sein, aktuelle Probleme der europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit sowie insbesondere der Menschenrechte und des wirtschaftlichen Ausgleichs zu behandeln sowie neue Vorschläge in diesen Bereichen zu erarbeiten. Das Zentrum für Vertrauensbildung, Rüstungskonrolle und Verifikation (Verifikationszentrum) müßte sicherheits- und militärpolitisch relevante Informationen sammeln und auswerten, insbesondere Bewegungen militärischer Einheiten und von militärischen öbungen notifizieren sowie Inspektionen und andere Kontrollaktivitäten registrieren und koordinieren. Alle Informationen, die sich aus der Durchführung vertrauensbildender Maßnahmen und von Verifikationsverfahren ergeben, müßten erfaßt und allen KSZE-Teilnehmern zugänglich gemacht werden. Die durch den Abrüstungsprozeß erfreulicherweise erforderlich werdenden Inspektions- und Kontrollvorgänge bedürfen der Bündelung und Auswertung an einer Stelle. Dadurch werden übrigens neue Berufsrollen und Karrieremuster erforderlich, die von erheblicher Attraktivität sein werden.
Das Zentrum zur Verhütung und Beilegung von Konflikten (Konfliktzentrum) wird zur Aufgabe haben, Informationen zu potentiellen Konfliktursachen, zu Streitigkeiten und zu potentiell militärisch gewaltträchtigen Vorfällen zu erfassen und gegen deren Entstehung vorbeugend zu wirken (Konfliktprophylaxe). Die Arbeit des Zentrums ist auf Konfliktregelung und auf Lösungsmöglichkeiten auszurichten. Im Rahmen dieses Zentrums sollte auch ein unabhängig arbeitendens wissenschaftliches Institut für Konfliktforschung erreichtet werden. Auch sollte frühzeitig ein Konsens angestrebt werden, demzufolge die Arbeit des Zentrums und des Instituts nicht nur auf zwischenstaatliche Konflikte, sondern auch auf innerstaatliche Konflikte mit potentiell friedensgefährdenden Folgewirkungen (ethno-nationalistische und Minderheitenkonflikte usw.) ausgerichtet würde. Es wird die wichtigste Aufgabe des Zentrums sein, eine von potentiellen Konfliktparteien akzeptierte institutionelle Plattform für friedliche Streitbeilegung zu schaffen. Dabei sollte auf bekannte Verfahren (Konsultation, Schlichtung, Vermittlung,usf.) zurückgegriffen werden, aber es sollten auch neue, in der wissenschaftlichen Literatur diskutierte Möglichkeiten der Konfliktlösung erprobt werden.
Wenn in anderen Bereichen, wie beispielsweise dem Umweltschutz, entsprechende Institutionen aufgebaut werden, würde europäische Politik in Europa an Durchsichtigkeit und Berechenbarkeit gewinnen: Es würde eine wechselseitige Verläßlichkeit entstehen, durch die heute schon Politik im westeuropäischen Raum weitgehend gekennzeichnet ist. Nur auf solchem Wege ist vorstellbar, daß der politische Aspekt von Friedensgestaltung in das Zentrum von Aufmerksamkeit und Verhalten gerückt wird, während die militärische Dimension ihre bisher hervorgehobene Bedeutung verlieren würde: Ohne institutionelle Vernetzungen auf gesamteuropäischer Ebene im Bereich offizieller Politik wie aber auch im Bereich sozialer Bewegungen und eines vielfältigen unreglementierten Austauschs über die bisherigen Grenzen hinweg wird es nicht gelingen, den militärischen Faktor hinsichtlich der Sicherung des Friedens in Europa deutlich abzubauen. Abrüstung allein wird nicht zu Stabilität führen. Aber Abrüstung in Kombination mit dem Aufbau gesamteuropäischer politischer Institutionen zur Koordinierung von Politik in den wesentlichen
Politikfeldern wird eine neue Stabilität ermöglichen.
Die Friedensbewegung muß sich heute der Breite ihrer Tradition erinnern: Im 19. und 20. Jahrhundert war es für die Repräsentanten und Mitglieder der Friedensbewegung selbstverständlich, sowohl auf Abrüstung als auch auf den Aufbau zwischenstaatlicher Institutionen und Organisationen auf allen Ebenen hinzuwirken. Man unterlag nicht dem progressistischen Trugschluß, die Beseitigung der Waffen würde eine verläßliche Friedfertigkeit in und zwischen den Gesellschaften garantieren. Man erkannte, daß die Zivilisierung von Konflikten der instiutionellen Vorkehrungen bedarf, weshalb berühmte Vertreter der Friedensbewegung zu den vortrefflichsten Fürsprechern für den Ausbau internationaler Organisationen und des Völkerrechtes gehörten. Diese heute weithin vergessene Dimension der Friedensbewegung ist besonders aktuell, nachdem das Ende der Blockkonfrontation in Europa den Weg für eine Struktur vielfältiger Kooperation geöffnet hat. Die Friedensbewegung sollte es unter allen Umständen vermeiden, wiederum bloß eine Antirüstungsbewegung zu sein. Sie sollte von einem positiven Ziel geleitet sein: Der Struktur einer dauerhaften Friedensordnung in Europa. Ohne konstruktive friedenspolitische Perspektive wird sie in der neuen europäischen Konstellation schlichtweg nicht überleben können.