Mit der KSZE zur Integration Gesamteuropas

von Dieter Senghaas

Zivilisierte Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, daß unvermeidli­che und unüberwindbare Interessenkonflikte nach verfassungs- und sat­zungsgemäßen Spielregeln ausgetragen werden. In Staaten mit einer starken demokratischen Partizipation werden solche Spielregeln nur als legitim akzeptiert, wenn die Politik auf einen fairen Interessenausgleich ausgerichtet ist und insbesondere sich um Verteilungsgerechtigkeit be­müht. Werden Fairneß und Verteilungsgerechtigkeit mißachtet, drohen im Grenzfall gewaltförmige und bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzun­gen, durch die die verfassungsmäßige Ordnung in Frage gestellt wird.

Eine vergleichbare Verzivilisierung internationaler Konflikte ist bisher nur in Teilbereichen des internationalen Systems gelungen, so zwischen den skandinavischen Staaten, im westeuro­päischen Raum und in Nordamerika Das entscheidende Kriterium für eine solche Bewertung ist die Frage, ob die Androhung bzw. die potentielle An­wendung militärischer Gewalt zur Durchsetzung von Interessen über­haupt noch eine Rolle spielt oder nicht. Heute geht es in Europa eine solche Zone stabilen Friedens zu ma­chen. Darin liegt die große Chance nach dem weltpolitisch unerwarteten Umbruch am Ende des Jahres 1989. Erkennt man die Chance und werden die politischen Weichen auf den Auf­bau einer Struktur dauerhaften Frie­dens in Europa ausgerichtet, könnte ein solches Ziel bis zum Ende des Jahrzehnts erreicht werden.

Einer der Bausteine für eine solche Struktur dauerhaften Friedens in Eu­ropas wird die institutionalisierte KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) sein. Schon seit die Schlußakte der KSZE 1975 in Helsinki von 35 europäischen Staaten unterzeichnet worden ist, hat sich die KSZE, die allerdings bisher nicht institutionalisiert war, als eine wichtige Brücke zwischen Ost und West erwiesen. Mit dem Ende der Blockkonfrontation wird der KSZE eine ganz neue Aufgabe zuwachsen, nämlich die eigentliche institutionelle Plattform für die politische Koopera­tion im gesamten Europa zu werden. Der Zwang, die äußeren, insbesondere die sicherheitspolitischen Rahmenbe­dingungen der Vereinigung Deutsch­lands rasch regeln zu müssen, hat dem KSZE-Gedanken eine erhebliche Schubkraft verliehen. Inzwischen ist man sich allerorts darüber einig, daß die KSZE institutionalisiert und durch spezifische Gremien und Behörden ausgebaut werden muß, so daß auf ge­samteuropäischer Ebene ein arbeitsfä­higes Instrumentarium entsteht.

Dabei geht es zunächst um scheinbar Banales wie z.B. um regelmäßige Treffen auf hoher politischer Ebene (Gipfeltreffen, fachministerielle Tref­fen, Fachausschüsse usf.) sowie um die Einrichtung gesamteuropäischer Gre­mien: einen Rat für Sicherheit und Zusammenarbeit, ein Ständiges Se­kretariat, ein Zentrum zur Verhütung und Beilegung von Konflikten, ver­schiedene Räte zur Koordinierung der wirtschaftlichen, wissenschaftlich-tech­nischen, humanitären, rechtlichen und kulturellen Zusammenarbeit sowie des Umweltschutzes. Heute bedarf noch jedes gesamteuropäische Treffen auf hoher oder fachministerieller Ebene der besonderen Beschlüsse: Staaten können sich beteiligen oder sich den Beratungen entziehen. Es ist wichtig, daß auch auf gesamteuropäischer Ebene institutionelle Zwänge zur Ko­ordinierung und Konzertierung der Politik geschaffen werden. Sollte die­ser Versuch mißlingen, droht Europa sich in neue, blockähnliche Gebilde zu zerklüften oder in einen Nationalismus zurückzufallen, der in den zwanziger und dreißiger Jahren verheerende Fol­gen hatte. Die Struk­tur, die es heute zu vermeiden gilt, ist unschwer vor­stellbar: ein institutionell gefestigtes Westeuropa, eine krisenge­schüttelte Sowjetunion, die immer noch über das größte Militärpotential in Europa verfügen würde, und ein da­zwischenliegendes Osteuropa, dessen Chance, sich über gesamteuropäische Institutionen Gehör zu verschaffen, vertan würde. Der Rückfall in natio­nalistische Politik, in neue Hegemoni­alstrukturen und in bilaterale Allian­zen und Gegenallianzen wäre nur eine Frage der Zeit. Einem solchen dro­henden Entwicklungstrend gilt es wirk­sam entgegenzuarbeiten. Die Institu­tionalisierung der KSZE ist einer von mehreren Ansatzpunkten, diesen Trend abzuwenden und eine vernünf­tige Gesamtstruktur in Europa zu er­reichen.

Was wäre im einzelnen zu tun? Wich­tige Aufgabe der Gipfeltreffen und insbesondere des Rates für Si­cherheit und Zusammenarbeit in Europa, der auf der Ebene der Außenminister ta­gen würde, würde sein, aktuelle Pro­bleme der europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit sowie insbesondere der Menschenrechte und des wirt­schaftlichen Ausgleichs zu be­handeln sowie neue Vorschläge in die­sen Be­reichen zu erarbeiten. Das Zentrum für Vertrauensbildung, Rü­stungskonrolle und Verifikation (Veri­fikationszentrum) müßte si­cherheits- und militärpolitisch rele­vante Infor­mationen sammeln und auswerten, insbesondere Bewegungen militäri­scher Einheiten und von militä­rischen öbungen notifizieren sowie In­spektionen und andere Kontrollakti­vitäten registrieren und koordinieren. Alle Informationen, die sich aus der Durchführung vertrauensbildender Maßnahmen und von Verifikations­verfahren ergeben, müßten erfaßt und allen KSZE-Teilnehmern zugänglich gemacht werden. Die durch den Abrü­stungsprozeß erfreulicherweise erfor­derlich werdenden Inspektions- und Kontrollvorgänge bedürfen der Bün­delung und Auswertung an einer Stelle. Dadurch werden übrigens neue Berufsrollen und Karrieremuster er­forderlich, die von erheblicher Attrak­tivität sein werden.

Das Zentrum zur Verhütung und Bei­legung von Konflikten (Konflikt­zentrum) wird zur Aufgabe haben, Informationen zu potentiellen Kon­fliktursachen, zu Streitigkeiten und zu potentiell militärisch gewaltträchti­gen Vorfällen zu erfassen und gegen deren Entstehung vorbeugend zu wir­ken (Kon­fliktprophylaxe). Die Arbeit des Zentrums ist auf Konfliktregelung und auf Lösungsmöglichkeiten auszu­richten. Im Rahmen dieses Zentrums sollte auch ein unabhängig arbeiten­dens wissenschaftliches Institut für Konfliktforschung erreichtet wer­den. Auch sollte frühzeitig ein Kon­sens an­gestrebt werden, demzufolge die Ar­beit des Zentrums und des In­stituts nicht nur auf zwischenstaatliche Kon­flikte, sondern auch auf inner­staatliche Konflikte mit potentiell frie­densgefährdenden Folgewirkungen (eth­no-nationalistische und Minder­heitenkonflikte usw.) ausgerichtet würde. Es wird die wichtigste Aufgabe des Zentrums sein, eine von potenti­ellen Konfliktparteien akzeptierte in­stitutionelle Plattform für friedliche Streitbeilegung zu schaffen. Dabei sollte auf bekannte Verfahren (Kon­sultation, Schlichtung, Vermitt­lung,usf.) zurückgegriffen werden, aber es sollten auch neue, in der wissenschaftlichen Literatur diskutierte Möglichkeiten der Konfliktlösung er­probt werden.

 

Wenn in anderen Bereichen, wie bei­spielsweise dem Umweltschutz, ent­sprechende Institutionen aufgebaut werden, würde europäische Politik in Europa an Durchsichtigkeit und Bere­chenbarkeit gewinnen: Es würde eine wechselseitige Ver­läßlichkeit entste­hen, durch die heute schon Politik im westeuropäi­schen Raum weitgehend gekennzeich­net ist. Nur auf solchem Wege ist vor­stellbar, daß der politi­sche Aspekt von Friedensgestaltung in das Zen­trum von Aufmerksamkeit und Ver­halten gerückt wird, während die militärische Dimension ihre bisher hervorgehobene Bedeutung verlieren würde: Ohne institutionelle Vernet­zungen auf gesamteuropäischer Ebene im Bereich offizieller Politik wie aber auch im Bereich sozialer Bewegungen und eines vielfältigen unreglementier­ten Austauschs über die bisherigen Grenzen hinweg wird es nicht gelin­gen, den militärischen Faktor hinsicht­lich der Sicherung des Friedens in Eu­ropa deutlich abzubauen. Abrüstung allein wird nicht zu Stabilität führen. Aber Abrüstung in Kombination mit dem Aufbau gesamteuropäischer poli­tischer Institutionen zur Koordinie­rung von Politik in den wesentlichen 

Politikfeldern wird eine neue Stabilität ermöglichen.

Die Friedensbewegung muß sich heute der Breite ihrer Tradition erinnern: Im 19. und 20. Jahrhundert war es für die Repräsentanten und Mitglieder der Friedensbewegung selbstverständlich, sowohl auf Abrüstung als auch auf den Aufbau zwischenstaatlicher Institu­tionen und Organisationen auf allen Ebenen hinzuwirken. Man unterlag nicht dem progressistischen Trug­schluß, die Beseitigung der Waffen würde eine verläßliche Friedfertigkeit in und zwischen den Gesellschaften garantieren. Man erkannte, daß die Zivilisierung von Konflikten der in­stiutionellen Vorkehrungen be­darf, weshalb berühmte Vertreter der Frie­densbewegung zu den vortrefflich­sten Fürsprechern für den Ausbau internationaler Organisationen und des Völkerrechtes gehörten. Diese heute weithin vergessene Dimension der Friedensbewegung ist besonders aktu­ell, nachdem das Ende der Blockkon­frontation in Europa den Weg für eine Struktur vielfältiger Kooperation ge­öffnet hat. Die Friedensbewegung sollte es unter allen Umständen ver­meiden, wiederum bloß eine Antirü­stungsbewegung zu sein. Sie sollte von einem positiven Ziel geleitet sein: Der Struktur einer dauerhaften Friedens­ordnung in Europa. Ohne konstruktive friedenspolitische Perspektive wird sie in der neuen europäischen Konstella­tion schlichtweg nicht überleben kön­nen.



 

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Dieter Senghaas ist Professor für Politi¬sche Wissenschaften an der Universität Bremen