Möglichkeiten und Grenzen zivilgesellschaftlichen Engagements

von Thania Paffenholz

Die Zivilgesellschaft wird im Allgemeinen als ein wichtiger Akteur bei der Friedensförderung angesehen. Daher wird dem Aufbau und der Stärkung von Zivilgesellschaft viel Gewicht eingeräumt, besonders in der Situation eines bewaffneten Konflikts oder kurz nach dessen Ende. Es wird angenommen, dass die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle spielt, sowohl um Gewalt zu reduzieren als auch um Rahmenbedingungen zu schaffen,  die für einen nachhaltigen Frieden benötigt werden. Doch trotz dieser starken Betonung von Zivilgesellschaft in der Friedensförderung gibt es bislang nur wenig empirisch abgestützte Forschungsergebnisse, die diese Annahme bestätigen können. Ein internationales Forschungsprojekt des Genfer Graduate Institute of International and Development Studies hat nun versucht, diese Lücke zu schließen. 

Das Projekt entwickelte zunächst einen konzeptionellen Rahmen zur Analyse von Zivilgesellschaften, der sich aus bisherigen Erkenntnissen in Theorie und Praxis speist (http://siteresources.worldbank.org/INTCPR/Resources/WP36_web.pdf). Insgesamt sind die folgenden sieben zivilgesellschaftlichen Funktionen als wesentlich herauskristallisiert worden.

  • Schutzfunktion: Schutz vor gewaltsamen Übergriffen
  • Monitoring: Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen etc.
  • Advocacy-Arbeit und Kommunikation an Öffentlichkeit
  • Friedenserziehung innerhalb von Gruppen (in-group bonding)
  • Sozialer Zusammenhalt zwischen Gruppen (inter-group bridging)
  • Vermittlung zwischen Konfliktparteien und Dritten
  • Dienstleistungen: Humanitäre Hilfe und Entwicklungsprojekte

Mit Hilfe dieser Funktionen kann - auf der Basis einer soliden Analyse des Kontextes und der jeweiligen Zivilgesellschaft - in  bestehenden Konflikten mit grosser Klarheit analysiert werden, welche Rolle die vorhandenen zivilgesellschaftlichen Akteure potentiell überhaupt spielen können, welche Funktionen sie bereits wie erfüllen, und welche nicht. Zudem erlaubt das Modell zu analysieren, welche Funktionen in der jeweiligen Konfliktphase besonders relevant sind.

Dieser konzeptionelle Rahmen wurde im zweiten Teil des Projekts in 13 Ländern angewendet (Nordirland, Bosnien, Afghanistan, Kurdischer Konflikt, Tadschikistan, Israel/Palästina, Zypern, Somalia, Kongo, Nigeria, Guatemala, Nepal, Sri Lanka). Der dritte und laufende Teil des Projekts widmet sich dem Transfer der Ergebnisse in die Praxis. Neben einem Arbeitspapier, das die wichtigsten Ergebnisse politiknah zusammenfasst, sind zahlreiche Veranstaltungen zusammen mit Geber-, UN und zivilgesellschaftlichen Organisationen geplant.

Sieben zentrale Ergebnisse hat das Projekt zu Tage gefördert.

1. Zivilgesellschaft hat eine wichtige unterstützende Rolle bei der Friedensförderung
Insgesamt zeigen die Forschungsergebnisse, dass Zivilgesellschaft das Potential hat, eine wichtige und effektive Rolle in der Friedensförderung zu spielen, und zwar in allen Konfliktphasen. Dies hat sie auch oft getan. Doch hat sie vorrangig eine unterstützende Rolle im Vergleich zu anderen Akteuren gespielt, wie den regionalen oder nationalen politischen Akteuren und den Konfliktparteien selbst. Nichtsdestotrotz kann Zivilgesellschaft einen positiven Beitrag leisten, wenn sie zur rechten Zeit auf effektive Weise tätig wird. So haben zivilgesellschaftliche Gruppen zur Reduzierung von Gewalt beigetragen, den Weg zu Verhandlungen geebnet und aktive Beiträge in der Friedenskonsolidierung nach einem Krieg geleistet.

2. Ein funktionaler Ansatz ist sehr hilfreich
Eine Analyse der Rolle und Aktivitäten von Zivilgesellschaft mit einem funktionalen Ansatz hilft zum einen, zunächst den Bedarf zu identifizieren, bevor gefragt wird, wer das Potential hat, diesen Bedarf kurz-, mittel- und langfristig zu erfüllen. Eine solche Analyse hilft auch, die Arbeit mit bestehenden Partnern zu fokussieren. Zum anderen erlaubt dieser Ansatz einen breiteren Blick auf alle bestehenden sozialen Kräfte, die zur Friedensförderung beitragen können, anstatt ausschließlich auf die bekannten Friedensgruppen zu blicken.

3. Die Relevanz der sieben Funktionen unterscheidet sich je nach Konfliktphase
Die Relevanz der sieben zivilgesellschaftlichen Funktionen unterscheidet sich deutlich nach den vier untersuchten Konfliktphasen: 1. Krieg, 2. bewaffneter Konflikt, 3. ‘günstige Momente’ (windows of opportunity) für Friedensverhandlungen und 4. Zeit nach großflächiger Gewalt.

Phase andauernder bewaffneter Konflikt
Während Kriegen und bewaffneten Konflikten ist der Handlungsspielraum von Zivilgesellschaft stark eingeschränkt. Die wichtigsten Ziele in diesen Phasen sind, die Gewalt zu reduzieren, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, sich für den Schutz von Menschen einzusetzen und den Dialog darüber zu führen. Humanitäre Hilfe kann ebenfalls den Frieden fördern, sobald sie als Zugang für die oben genannten Funktionen genutzt wird. Das heißt, dass Hilfsprojekte ihre Präsenz in einem Konfliktgebiet nutzen können, Menschen zu schützen - durch Monitoring, das Informieren anderer Organisationen über die Situation, die sie vorfinden, oder durch direktes Handeln.

Interessanterweise haben wir in den 13 Fällen unserer Untersuchung herausgefunden, dass das tatsächliche Niveau vorhandener zivilgesellschaftlicher Aktivitäten nicht der Relevanz der dazugehörenden Funktion entsprochen hat. Die Diskrepanz ist offensichtlich: Obwohl Schutz und  Monitoring im andauernden Krieg von überragender Bedeutung sind, finden sie nicht in ausreichendem Maße statt. Dies war etwas besser in Bezug auf Dialog und Advocacy-Arbeit. Die Diskrepanz ist aber auch umgekehrt sichtbar: Aktivitäten sozialer Kohäsion und Friedenserziehung finden beispielsweise in einem viel stärkeren Masse statt, als dies ihrer Relevanz während massiver Gewaltphasen entspricht.

Phase ‚windows of opportunity’
In den Zeiten, in denen sich Chancen für Friedensverhandlungen öffneten, kann Zivilgesellschaft sehr wichtige – und in manchen Fällen entscheidende – Rollen einnehmen, um auf Verhandlungen oder ein Friedensabkommen zu drängen oder für die Einbeziehung wichtiger Themen in ein solches Abkommen Lobbyarbeit zu machen. Während die Relevanz aller anderen Funktionen in dieser Phase die gleiche bleibt wie zuvor, wird Lobbyarbeit in dieser Phase besonders wichtig: Vor allem zählt hier Massenmobilisierung für ein Abkommen oder für einen Systemwechsel in Form von Straßenprotesten, wie dies in Nepal, Nordirland oder Zypern geschah. Zentral sind aber auch gezielte Kampagnen zur Einbeziehung relevanter Themen in Friedensabkommen, wie dies in in Guatemala, Nordirland oder im Kongo zu sehen war. Es gab jedoch auch einige Fälle wie z. B. Sri Lanka, wo die Pro-Verhandlungs-Gruppen weniger zahlreich waren als die Pro-Kriegs-Gruppen.

Initiativen sozialer Kohäsion und Sozialisation erreichten ihren höchsten Aktivitätsgrad in dieser Phase, besonders in öffentlich stärker wahrgenommenen Konflikten wie Israel und Palästina, Sri Lanka, Zypern oder Nordirland. Aber auch in dieser Phase entspricht dies nicht der tatsächlichen Relevanz.

Nach dem Ende der massiven Gewalt
Sobald die weitverbreitete Anwendung von militärischer Gewalt abnimmt, geht auch im Allgemeinen die Notwendigkeit für Schutz herunter. Doch hängt dies allein vom Kontext ab, da in manchen Fällen Gewalt in anderer Form fortgesetzt wird (z. B. Verbrechen oder häusliche Gewalt). Monitoring ist so immer noch relevant, wie auch Vermittlung und humanitäre Hilfe. Sobald der Krieg beendet ist, werden auch Aktivitäten sozialer Kohäsion und Friedenserziehung relevanter, da die Menschen nun in der Lage sind, an andere Dinge als das unmittelbare Überleben zu denken. Dies ist die richtige Zeit, um Initiativen zu starten, die im Krieg zerstörten Beziehungen zwischen den verfeindeten Gruppen wieder aufzubauen. Dies soll verhindern, in der Zukunft erneut wieder Gewalt als legitimes Mittel einzusetzen, um Konflikte auszutragen. Humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit sind in dieser Hinsicht von besonders hoher Relevanz, da sie Möglichkeiten schaffen, Menschen zuvor verfeindeter Gruppen zusammenzubringen, ohne offensichtlich über Frieden und Versöhnung zu reden.

4. Ungleichgewicht zwischen Aktivitäten und ihrer Relevanz
Im Allgemeinen zeigen die Projektergebnisse ein bedeutsames Ungleichgewicht zwischen dem Umfang bestimmter zivilgesellschaftlicher Aktivitäten und deren Relevanz für die Friedensförderung. Auf der einen Seite wurden relevante Funktionen kaum wahrgenommen. So wurde zum Beispiel Schutz nur in einem Drittel der Fälle praktiziert, obwohl er von großer Bedeutung in gewaltsamen Phasen ist. Auf der anderen Seite wurden in diesen Phasen aber bestimmten Funktionen großes Gewicht eingeräumt, die zu diesem Zeitpunkt nicht so wesentlich waren. Dazu gehörten z. B. Aktivitäten sozialer Kohäsion und Sozialisation in Dialogprojekten, Konfliktbearbeitungs-Workshops, Austauschprogramme oder Friedenserziehungsprojekte. 

5. Effektivität variierte sehr von Funktion zu Funktion
Die auffälligsten Befunde zur Wirksamkeit sind, dass Schutz, Monitoring, Advocacy-Arbeit und Vermittlung oft äußerst effektiv waren, während Initiativen sozialer Kohäsion und Sozialisation im Allgemeinen weniger effektiv waren. Dies lag ebenso daran, auf welche Weise die meisten Initiativen durchgeführt wurden, wie auch am Kontext, in dem sie operiert haben.

6. Verschiedene Konfliktlinien in einer Gesellschaft sollten beachtet werden
In allen untersuchten Fällen hat sich die Aufmerksamkeit der meisten zivilgesellschaftlichen Aktivitäten auf die Haupt-Konfliktlinien konzentriert Doch hat es sich gezeigt, dass es gefährlich ist und künftig zu neuer Gewalt führen kann, andere Brüche und Spannungen in einer Gesellschaft zu ignorieren. Der Fall der gewaltsamen Aufstände in der südnepalischen Terrai Region unmittelbar im Anschluss an das umfassende Friedensabkommen von 2006 ist ein Beispiel.

7. Der Kontext ist wesentlich
Der Kontext, in dem Zivilgesellschaft operiert, ist entscheidend für den Handlungsspielraum von Zivilgesellschaft. Er stärkt oder begrenzt ihre Effektivität. Die wichtigsten Faktoren hier sind das Verhalten des Staates, das Gewaltniveau, die Rolle der Medien, das Verhalten und die Zusammensetzung der Zivilgesellschaft selbst  (einschließlich von Diaspora-Organisationen) und der Einfluss externer politischer Akteure und Geber.

Implikationen für die Praxis
Aus der bisherigen Analyse ergibt sich, dass die Existenz von Zivilgesellschaft allein nicht automatisch den Frieden fördert. Es ist vielmehr notwendig, die unterschiedlichen potentiellen Funktionen von Zivilgesellschaft für die Friedensförderung vorab zu klären, und je nach Konfliktphase und Rahmenbedingungen unterschiedliche Funktionen zu stärken. Bevor also einzelne zivilgesellschaftliche Bewegungen gefördert werden, sollte abgeklärt werden, welche Funktionen in der jeweiligen Situation besonders relevant sind und daher förderungswürdig erscheinen. Parallel sollte die Effektivität der als relevant erkannten Funktionen systematisch erhöht werden.

Auch sollte der analytische Fokus darauf gerichtet werden, die Faktoren zu erkennen, die ein zivilgesellschaftliches Engagement.fördern oder eben behindern. Hier ist vor allem die Rolle des Staates zu nennen, dessen Verhalten oftmals den entscheidenden Ausschlag gibt. Andere einflussreiche Faktoren sind das Erziehungssystem, die Rolle der Medien, aber vor allem auch das Gewalt- und Kriminalitätsniveau, das zivilgesellschaftliches Handeln massiv einschränken kann. Erst nach einer solchen Analyse sollten die geeigneten Akteure gesucht werden, die unterstützt werden können. Dies bedeutet natürlich nicht, dass bestehende Partnerschaften aufgegeben werden sollten. Vielmehr sollten diese ebenso auf ihre Relevanz und Wirksamkeit hin überprüft werden. Deren Aktivitäten können gegebenenfalls angepasst und die Strukturen der Organisationen so gestärkt werden, dass sie  schwierige Zeiten überstehen können.

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Thania Paffenholz unterrichtet Friedens- und Konfliktforschung am Graduate Institute in Genf und ist ebenfalls als Beraterin für zahlreiche internationale und nationale Organisationen tätig. Kontakt: Thania Paffenholz, Email thania.paffenholz@graduateinstitute.ch