Wie verarbeiten Angehörige der Opfer ihre Trauer?

Nach dem 11. September Frieden finden

von David Potorti
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Wie haben die Familienangehörigen der Toten nach der Brutalität und dem Schock der Angriffe vom 11. September es geschafft Versöhnung zu finden? Es ist eine gute Frage, eine die eine lange, suchende Reise verspricht, eine Art Armdrücken mit dem Teufel und ein erfolgreicher Aufstieg zu einem höheren spirituellen Ort. Für die Mitglieder von "September Eleventh Families for Peaceful Tomorrows" jedoch ist die Antwort undramatischer: Die Versöhnung scheint uns gefunden zu haben. Sie scheint aus dem, was wir sind, mit einem Minimum an Überredung aufgetaucht zu sein.

Ich kam zu dieser Schlussfolgerung, als unser Mitglied Rita Lasar, die wie ich ihren Bruder im Nordturm des World Trade Center verloren hat, fragte: "Warst du jemals zornig auf die Leute, die dies getan haben?" Ich gab zu, dass ich es nicht war, beide stimmten wir überein, dass Zorn eine nutzlose Emotion ist. Zorn lässt dich schließlich dumme Dinge tun, wie den Hund treten, zu schnell fahren oder deine Kinder anbrüllen. Am 11. September führte er zum Tod von Tausenden unschuldiger Leute. Und, beginnend mit dem 7. Oktober, führte er zum Tod von weiteren Tausenden. Nicht, dass ich nicht eine tiefe und manchmal entkräftende Trauer über den Tod meines Bruders empfunden hätte. Doch diese Trauer war von Anfang an mit einer größeren Trauer verbunden: eine Wahrnehmung, dass kein Mord je gerechtfertigt ist. Dass kein Mord jemals in einem Vakuum passiert. Und dass ich meinen Bruder nicht mehr oder weniger geliebt habe, als irgendjemand anderes irgendwo seinen oder ihren Bruder liebt - oder seinen Gatten oder seine Eltern, oder seine Kinder.

Ein Tag, an dem Mauern fielen
Während der 11. September für die meisten AmerikanerInnen ein Tag war, an dem die Mauern hoch gingen, war er für mich ein Tag, an dem Mauern fielen. Es war ein Tag, an dem ich realisierte, dass es keine Mauern gibt, die hoch genug sind, keine Bomben, die groß genug sind, keinen Geheimdienst, der raffiniert genug ist, um die Illusion von Amerikas Außerordentlichkeit zu verlängern. Unsere Kultur vermittelt uns, dass AmerikanerInnen nicht alt werden, nicht verletzt werden und niemandem eine Antwort schuldig sind. Dass wir nicht verantwortlich sind für internationales Recht, für die Gesetze der Ökonomie oder für einander. Das sind Lügen. Und je eher wir diese Lügen hinter uns lassen, umso sicherer werden wir sein.

Terrorismus ist nicht das Problem
Dann werden wir hoffentlich willens sein, der größten Lüge von allen entgegenzutreten: Dass Terrorismus das Problem ist. George W. Bush möge verzeihen: Terrorismus ist nicht das Problem, sondern das Symptom des Problems. Am 11. September wurde uns gesagt, dass sich alles verändert habe. Alle Wetten waren vorbei. US Nachrichtensprecher Dan Rather bemerkte über "das neue Gesicht des Terrorismus": "Die Idee, dass etwas neu ist, gibt uns eine Menge Entschuldigungen. Wir haben es nicht kommen sehen. Geschichte kann uns nicht leiten. Keine unserer Werkzeuge funktionieren mehr."

Aber während die AmerikanerInnen offenbar ein "neues, verbessertes" Etikett benötigen um aufzuwachen und wahrzunehmen, ist die schlechte Nachricht, dass wir vor denselben alten Problemen stehen, die wir zuvor hatten: Extremismus. Militarismus. Rassismus. Armut. Unwissenheit. Ungleichheit. Hoffnungslosigkeit. Zorn. Wir haben sie nicht gelöst. Sie sind nicht verschwunden. Sie verkünden ihre Existenz nur auf verzweifeltere Art in einem zunehmend verzweifelten Versuch, unsere Aufmerksamkeit zu erringen.

Amerika ist kein Planet
Ich frage mich noch immer, ob wir sie beachten. Verstehen wir die Bedingungen, unter denen die meisten Menschen auf der Erde gegenwärtig leben? Verstehen wir die machtvolle Rolle, die Amerikas Entscheidungen - willentlich oder unwissentlich - dabei spielen, diese Bedingungen zu schaffen? Verstehen wir, dass Amerika kein Planet ist, sonder ein Partner, der den Globus mit anderen teilt?

Kürzlich traf ich einen Amerikaner pakistanischer Herkunft, der mir berichtete, dass in seiner Kindheit AmerikanerInnen, die sein Heimatland bereisten, dort mit Ehrerbietung, Respekt und einer Art Scheu behandelt wurden. Heute, so gab er zu, haben AmerikanerInnen keinen Vorsprung mehr an Höflichkeit und Respekt . "Sie sind genau wie alle anderen," sagte er. Es waren unsere Werte - die sich in unserem Verhalten ausdrückten - welche gewöhnlich respektiert wurden. Heute - dort genauso wie zu hause - reklamieren wir Freiheit als unser Erbe und Respekt als unser Recht. Aber Freiheit, ebenso wie Respekt, muss verdient werden. Und AmerikanerInnen sind von dieser Verantwortung nicht ausgenommen.

Die Nation ist unbewegt geblieben
Es wird gesagt, "Amerika wird immer das Richtige tun - nachdem alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind." Heute sind wir immer noch dabei, alle anderen Möglichkeiten zu erschöpfen. Doch ich beginne mich zu fragen, ob AmerikanerInnen den Mut und den Willen haben das Richtige zu tun. Ein Jahr nach dem 11. September bin ich bekümmert zu erfahren, dass wir als Nation merkwürdig unbewegt und unverändert geblieben sind. Dass der Tod meines Bruders und etwa 3000 anderer AmerikanerInnen nicht als Aufruf gewirkt hat zur Selbsterforschung und zur Anerkennung des Wertes allen Lebens, sondern als Aufruf zu mehr Zorn, mehr Gewalt und mehr Todesfällen unschuldiger Menschen, die in jeder Weise mit unseren geliebten Menschen identisch sind.

Weil meine Frau an einer nahegelegenen Universität unterrichtet, haben wir Freundschaft mit einem deutschen Wissenschaftler geschlossen. Vor kurzem feierte er seinen Geburtstag und wir kamen zu seiner Party, die ausschließlich von Deutschen besucht war. Ich diskutierte die aktuellen Ereignisse mit einigen von ihnen und war beeindruckt von ihrem Wahrnehmungsvermögen und ihrem Geschichtsverständnis. "Das ist das Problem mit Amerika," erklärte mir einer, "Wenn ihr eine Fabrik habt, aus deren Schornstein Dreck kommt, setzt ihr einen Filter auf den Schornstein. Aber ihr seid nicht daran interessiert, was in der Fabrik passiert und die Umweltverschmutzung erzeugt." Das ist eine genaue Beschreibung unserer Unwilligkeit, uns mit Ursachen zu beschäftigen. Ein anderer diskutierte Amerikas dauerhafte Freundschaft mit Deutschland, besonders die Erfahrungen aus der Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg: Westdeutschland erhielt Hilfe und Investitionen des Westens und florierte; Ostdeutschland erhielt keine solchen Wohltaten und litt. "Ihr behandelt Afghanistan wie Ostdeutschland" sagte er über unseren Krieg gegen Terrorismus. "Habt ihr nicht irgendwas aus eurer eigenen Geschichte gelernt?"

Wir stimmten ihm zu - und deshalb unterstützt Peaceful Tomorrows die Schaffung einer Stiftung für afghanische Opfer, die den Familienangehörigen der etwa 2000 im US-geführten Bombenkrieg unschuldig getöteten ZivilistInnen je 10.000 $ geben will. Wir geben für einen Tag Bombenabwürfe 30 Millionen Dollar aus. Warum geben wir nicht 20 Millionen für den Aufbau?

Gemeinsames Schicksal - gemeinsame Sicherheit
Was ich nach dem 11. September gelernt habe, ist dass meine Familie niemals sicher sein wird, bevor nicht Familien in aller Welt sicher sind. Dass meine Kinder und ihre Kinder ein gemeinsames Schicksal auf dieser Erde teilen. Dass, in Anlehnung an Reverend Martin Luther King Jr., jede Bombe, die wir in Afghanistan oder Irak oder anderswo abwerfen, in unserem eigenen Land explodiert, in dem sie den Dingen, die das Leben lebenswert machen, die Ressourcen raubt.

Krieg ist keine Antwort. Wir müssen erkennen, dass Krieg eine grobe, außerordentlich teure und verschwenderische Lösung für ein teilweise komplexes System von Problemen ist. Dem Militär mehr Geld nachzuwerfen oder dem Pentagon mehr Macht zu verleihen, verändert nicht den begrenzten Charakter seiner Mission oder die begrenzten Ergebnisse seiner Siege. Die wirkliche Arbeit beginnt, wenn die Kriege beendet sind. Ich hoffe, dass wir in Zusammenarbeit mit unseren Freunden in Deutschland und überall auf der Welt, den Mut haben werden, diese "wirkliche Arbeit" zu beginnen. Und dass AmerikanerInnen anfangen werden, unsere Verantwortlichkeiten wahrzunehmen: gegenüber unserer Verfassung, unserem Land, unseren Kindern und gegenüber allen anderen.

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Kathrin Vogler

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David Potorti ist Co-Direktor und Koordinator für den Osten der USA der Organisation "September Eleventh Families for Peaceful Tomorrows (Familien des 11. September für friedliche Morgen). Infos: www.peacefultomorrows.org