Die Voraussetzungen für eine Veränderung in der Kurdenpolitik in der Türkei stimmen pessimistisch.

Neuanfang unter Yilmaz?

von Sertaç Bucak
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Als Mesut Yilmaz seine neues Kabinett am 6. März 1996 vorstellte, ver­sprach er, daß seine Regierung sich u.a. um die Förderung des inneren Friedens bemühen werde. Zwei Wochen später, zum kurdischen Neu­jahrsfest Newroz kündigte Yilmaz eine politische Wende in der Kurden­politik an. Er versprach, das Problem mit friedlichen Mitteln zu lösen. Weiterhin kündigte er die Zulassung von privaten Fernseh- und Rund­funkanstalten sowie private Schulen in kurdischer Sprache. Gleichzeitig aber fügte er hinzu, daß sie staatlich nicht gefördert werden dürften, da die offizielle Sprache des Landes türkisch sei und er am Fundament des Staates nicht rütteln wolle.

Die Ankündigung von Premier Yilmaz sorgten im In- und Ausland fürs Aufse­hen. Ähnliches hatten wir jedoch fünf Jahre zuvor bereits gehört. Im Koaliti­onsprotokoll der vorherigen Regierung (DYP/SHP, später DYP/CHP) Demirel vom Dezember 1991 wurden weitge­hende Zugeständnisse an die Kurden gemacht. Es wurde von der "Anerkennung der kurdischen Realität", von "gläsernen Polizeiwachen", Ach­tung der Menschenrechte etc. gespro­chen.  Es wurde aber das Gegenteil praktiziert. Während der vierjährigen Amtszeit dieser Regierung wurde der Krieg in Kurdistan intensiviert. Der an­gekündigte Wandel blieb aus.

In ihrem Regierungsprogramm will die Regierung Yilmaz sich vorrangig auf die wirtschaftlichen Probleme des Lan­des konzentrieren. Das offiziell  als "Südostenproblem" bezeichnete Kur­denproblem wird in der Regierungser­klärung sowie im Programm lediglich auf ein Sicherheitsproblem reduziert. Das heißt: sicherheitspolitisch sollen die Einsätze der Armee -  also der Krieg - fortgesetzt werden.

Kann Mesut Yilmaz über Regierungser­klärung bzw. Programm hinaus Veränderungen in der Kurdenpolitik durchfüh­ren? Ist er in der Lage,  sich über das verbindliche Regierungsprogramm hin­wegzusetzen und sich gegen die eigenen Koalitionspartner und Regierung durch­zusetzen?

Die Koalitionspartner von Yilmaz sind gegen eine solche Politik. Die Vorsit­zende der Koalitionspartei DYP, Tansu Ciller, die in acht Monaten die Regie­rungsgeschäfte nach einer zwischen beiden Parteien vereinbarten Rotation übernehmen wird, hat solche Überle­gungen öffentlich prompt abgelehnt. Auch der Vorsitzende der nationalisti­schen "Partei der demokratischen Lin­ken" (DSP), Bülent Ecevit, ist gegen eine solche Politik. Die Koalitionsregie­rung, die über keine solide Mehrheit im Parlament verfügt, ist auf die Stimmen dieser Partei bei parlamentarischen Ent­scheidungen angewiesen.

Auch das Regierungskabinett ist ein Handikap für den Ministerpräsidenten. Der ehemalige Polizeipräsident Mehmet Agar ist Justizminister. Während seiner Amtszeit als Polizeipräsident wurden 2.065 Folterfälle in Polizeihaft regi­striert. Als sein erstes Ziel formulierte er, die Gefängnisse zu "reformieren". Dabei kündigte er an, daß diese "Operation einige  Opfer kosten" würde. Seitdem gärt es in den Gefängnissen des Landes, die tausende von politischen Gefangenen beherbergen. Sein Kollege Ünal Erkan, der ehemalige "Supergouverneuer" in den kurdischen Ausnahmezustandgebieten, ist Staats­minister. Die Bilanz seiner Amtszeit ist verheerend: 1.280 außergerichtliche Hinrichtungen, 59 Tote während der Polizeihaft, 61 Opfer von "Verschwindenlassen",  Zerstörung von über 2.000 kurdischen Dörfern und über 2 Millionen vertriebene Menschen, die heute in den Slumsviertel der Groß­städte dahinvegetieren.  Ausgerechnet dieser Ünal Erkan ist zuständig für die Wohnungsbau und nahm als verant­wortlicher Minister an den Vorbereitungstreffen von Habitat II in Berlin als Vertreter des Gastgeberlandes teil. Ya­sar Dedelek, Staatsminister, ist ein ehe­maliger strammer Gefolgsmann des pantürkischen Alparslan Türkes. Ihm wird u.a. vorgeworfen, als Mitglied der paramilitärischen Truppe von Alparslan Türkes in den siebziger Jahren einen linken Studenten ermordet zu haben. Sein Gesinnungsfreund Ayvaz Gökde­mir ("Komando Ayvaz" wurde er da­mals genannt), der die Europaparla­mentarinnen Claudia Roth, Catherine Lalumiere und Pauline Green als "Prostutierte" titulierte, wurde Staatsmi­nister und ist verantwortlich für die "Auslandstürken". Kultusminister und Regierungssprecher wurde Agah Oktay Güner, ein Ideologe der "türkisch-isla­mischen Synthese" und ebenfalls aus dem damaligen Umkreis  der Partei des Alparslan Türkes.

Sein Vorhaben über eine neue Kurden­politik stellte Yilmaz selbst in Frage, als er kurz nach Newroz 1996 über eine große militärische Offensive in Nord­kurdistan berichtete. Seitdem haben Verletzungen der Menschenrechte ra­sant zugenommen. Außergerichtliche Hinrichtungen, systematische Folter während der militärischen Operationen in den ländlichen Regionen und wäh­rend der Polizeihaft, willkürliche Ver­haftungen und Erschießungen, Zerstö­rung der Dörfer und Zwangsvertreibung ihrer Bewohner, Verhaftungen  und Verurteilung wegen der Ausübung des Rechtes auf Meinungsfreiheit ist wieder das bestimmende Bild im kurdischen Alltag. Bindenden internationalen Ver­pflichtungen, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten, geht die tür­kische Regierung nach Möglichkeit aus dem Weg. Die wirtschaftliche, soziale und moralische Demontage der ge­samten Gesellschaft durch den Krieg geht weiter.

Wird Yilmaz Zivilcourage zeigen?

Die Kurden sind entschlossen, friedliche Lösung herbeizuführen. Dabei haben sie auch günstige Bedingungen geschaffen. Alle kurdischen Organisationen kündigen immer wieder eine schrittweise Lösung innerhalb der Grenzen der Türkei an. Die PKK  hält trotz massiven militäri­schen Einsatzes an dem von ihm einsei­tig verkündete Waffenstillstand seit De­zember 1995 fest. Bei zahlreichen Kräften der türkischen Gesellschaft von Gewerkschaften bis hin zu Unterneh­merverbänden wird die Forderung nach einer friedlichen Lösung laut. Auch im Ausland wird der Ruf nach einer politi­schen und friedlichen Lösung der Kur­denfrage immer stärker. Am 18. April 1996 haben in einer Debatte des Deut­schen Bundestages Vertreter aller Par­teien für eine politische Lösung plädiert. Das Europa Parlament hat wieder in seiner Entschließung eine zivile Lösung der Kurdenfrage in der Türkei eingefor­dert. Die parlamentarische Versamm­lung des Europarates brachte am 25. April 1996 ihren Wunsch zum Aus­druck, daß die türkische Regierung nach einer friedlichen Lösung der Kurden­frage suchen solle. Sowohl international als auch national hat Mesut Yilmaz die Unterstützung nach der von ihm ange­kündigten friedlichen Lösung. Eine Er­mutigung für einen Ministerpräsidenten, die aber auch gleichzeitig eine Umset­zung der Ankündigungen fordert.

Das Beharren auf einer militärischen Lösung hat bis jetzt den Konflikt nicht abschaffen können. Die Menschen in der Türkei und Kurdistan brauchen dringend einen Dialog. Dialog statt Ge­walt. Einen echten Dialog, der eine friedliche Lösung für Kurdistan bringt.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Sertaç Bucak ist Direktor des Interna¬tionaler Verein für Menschenrechte in Kurdistan e.V., Bonn.