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"Stalingrad", Eine Kritik zu Joseph Vilsmaiers Film
Neue Kameraden
von
Ein Film, der nicht vom Krieg handelt, sondern vom Leben, das der Krieg zerstört. Ein Film, der nicht von Soldaten erzählt, sondern von Menschen, die Soldaten werden und dabei aufhören, Menschen zu sein. Ein Film, in dem der Ausgang eines Gefechts, einer Schlacht, eines Krieges unwichtig ist, weil auch die Sieger zu den Opfern zählen. William Wylers "Die besten Jahre ihres Lebens" ist ein Antikriegsfilm, Oliver Stones "Platoon" ist es nicht. Michael Ciminos "Die durch die Hölle gehen" ist - trotz vieler Schwächen - ein Antikriegsfilm, Stanley Kubricks "Wege zum Ruhm" ist es - trotz aller Verdienste - nicht. Andrej Tarkowskijs "Iwans Kindheit" ist ein Antikriegsfilm, weil er von einem Kind erzählt, Sam Peckinpahs "Steiner" ist ein Kriegsfilm, weil er von einem Leutnant erzählt.
Joseph Vilsmaiers "Stalingrad" ist ein Antikriegsfilm, sondern ein Kriegsfilm mit schlechtem Gewissen. Einerseits wollte Vilsmaier, für zwanzig Millionen, eben doch eine "richtige" Kesselschlacht zeigen mit "authentischen" T-34-Panzern, 7,5-Zentimeter-Paks, Flammenwerfern, Sturmgeschützen und Kübelwagen. Andererseits schien es geboten, "einfühlsam" (Vilsmaier) vorzugehen und in die Elegie vom deutschen Landserschicksal auch ein paar völkerverbindende Töne hineinzuschreiben.
Deshalb schien sich zwische die mal mehr, mal weniger feuerwerkerischen Episoden des Schlachtenpanoramas immer wieder Szenen, die zwar für die Erzählung unwichtig, aber für Vilsmaiers Konzept eines moralisch einandfreien Stalingrad-Films von entscheidender Bedeutung sind: eine russische Familie, die in einem Winkel der Kanalisation ihr erbärmliches Dasein fristet; Menschen im Freien, die mit erfrorenen Fingern um Brot betteln; andächtig singende Rotarmisten und ergriffen lauschende Landser; russische Kinder und Greise, die zwecks Reduzierung der "Verpflegungsstärke" unter einem Vorwand erschossen werden, und deutsche Soldaten, denen die Hand am Abzug zittert. Aber nie verweilt die Kamera dabei auf einem Gesicht, nie gibt sie dem Schrecken mehr als das dramaturgisch notwendige Maß. Die Schmerzsekunden, mit denen Vilsmaier sein Publikum "aufrütteln" will, wirken eher abstumpfend, die Bilder des Grauens pittoresk. Den geduldigen Blick auf das Elend von Stalingrad, der allein diesen Film rechtfertigen könnte, opfert Vilsmaier für eine Handvoll Knaller mehr.
Aber eine Authentizität, die mit drei Tonnen Dynamit produziert wird, ist lächerlich, und eine Moral, die sich häppchenweise über einen Zweieinhalb-Stunden-Film verteilt, verfehlt ihr Ziel. Übrig bleibt ein Landserdrama, das wie die Quersumme aller existierenden Stalingrad-Geschichten wirkt. Denn Vilsmaiers Film hat nicht nur keine Moral, er hat auch keine Perspektive: Keine der fünf, sechs Hauptfiguren, um die sich "Stalingrad" zusammenzieht, wird wirklich zur Person, jede ist nur die abstrakte Ergänzung der anderen, ein Bube im Kartenspiel, ein Läufer auf dem Brett der Schlacht. Von einem erfährt man, daß ihn seine Frau verlassen hat, ein zweiter schreibt Liebesbriefe, ein dritter kommt aus Hamburg - für ein Puzzle ist das zuviel, für einen Film zuwenig.
In einem Interview hat Vilsmaier erklärt, erst die Feldpostbriefe aus dem Wolgograder Archiv hätten ihn dazu gebracht, das Projekt "Stalingrad" zu übernehmen. "Diese oft einfachen Menschen haben zum Teil fast philosophisch schreiben können." In Vilsmaiers Film ist das naive Patho solcher Sätze, die kurzsichtige Betroffenheit eines Heimatfilmregisseurs ("Herbstmilch"), der den großen Krieg für sich entdeckt, zur erzählerischen Form geronnen. "Die ganze Realität" wollte Vilsmaier zeigen; gedreht hat er ein Potpourri aus Heldenlied und saurem Kitsch, Fiktionen über Fiktionen, die selber schon fiktiv sind. Die Realität von Stalingrad existiert nicht mehr, geblieben sind Erinnerungen, Träume, Phantasien. "Stalingrad" gräbt sie nicht aus, sondern begräbt sie endgültig.
Mit Vilsmaiers Werk gibt es nun zwei deutsche Stalingrad-Spielfilme. Den ersten drehte Frank Wisbar 1959 nach einem Roman von Fritz Wöss: "Hunde, wollt ihr ewig leben?" Die fortschrittliche Filmkritik warf dem Film "mangelndes politisches Bewußtsein" vor, der damalige Bundesverteidigungsminister Strauß lehnte seinerseits die Bitte Wisbars um Unterstützung für sein Projekt mit der Begründung ab, die Zeit sei "noch nicht reif für eine überzeugende Gestaltung dieses schicksalhaften Geschehens". Blickt man aber von 1993 auf 1959 zurück, erscheinen Wisbars "Hunde" plötzlich in milderem Licht.
Auch Wisbar versammelt die bekannten Motive der ewig gleichen Stalingrad-Litanei: Der junge Leutnant, Die alten Kameraden, Der Nazi-Offizier, Das Russenmädchen (hier: Sonja Ziemann), Das geheime Warenlager, Das Lazarett, Die Musik in den Ruinen (hier: ein Klavier), Das letzte Transportflugzeug, Die Weihnachtspredigt, Der letzte Marsch. Aber anders als Vilsmaier malt Wisbar das Gemetzel nicht aus, sondern läßt es nur am Rande aufblitzen, vor allem in Dokumentaraufnahmen, die von der in Schwarzweiß gedrehten Spielhandlung kaum zu unterscheiden sind. Und anders als bei seinem bayerischen Epigonen kommen bei dem Offizier a.D. Wisbar auch die Generäle Paulus und Seydlitz und sogar Hitler persönlich zu Wort, so daß man den "organistorischen Aufbau des Unglücks" wenigstens ahnt. Ein Antikriegsfilm entsteht so zwar nicht, wohl aber ein Kompromiß, mit dem man leben kann. Wismars "Hunde" sind bescheiden und besinnlich, Vilsmaiers" Stalingrad" ist naiv und grotesk.
aus: Die Zeit, Nr. 4, 22.01.93