Baltikum im Sommer 91: Aufbruch ins Ungewisse

"Nur ohne Waffen werden wir siegen"

von Bruno Kaufmann

Vilnius im Juli. Nun steht sie hier, die Berliner Mauer. Das ist mein erster Gedanke, als ich die massiven Barrikaden rund ums litauische Parlament erblicke. Im Januar dieses Jahres starben hier Menschen, als sie mit ihren Körpern das Gebäude gegen anrollende Panzer der sowjetischen Armee schützten. Ohne Waffen, aber nicht wehrlos, konnten die LitauerInnen somit den Putsch der Militärs vereiteln. „Die Reaktion der Weltöffentlichkeit war nur deshalb so stark, weil hier Menschen ohne Waffen kämpften“, meint Rupeika Benas, Abgeordneter im litauischen Parlament.

„Hätten wir uns mit militärischer Gewalt zu verteidigen gesucht, hätten wir schon im Januar unsere Zukunft verloren, glaubt Benas. Ich treffe den ehemaligen Starmoderator des litauischen Rundfunks vor dem verbarrikadierten Parlamentsgebäude in Vilnius. Heute ist er Mitglied jenes Parlamentes, das vor über einem Jahr mit der Unabhängigkeitserklärung eine neue Phase im Streben um die Unabhängigkeit der 1940 durch die Sowjetunion besetzten baltischen Staaten einleitete. Benas gehört zu jenen Abgeordneten, die stark kritisch zum Kabinett von Präsident Vytautas Landsbergis eingestellt sind.

„Hast Du es gesehen, unser Parlament hat keine Fenster!“ Tatsächlich verfügt der modernistisch anmutende Bau über keine Lichtblicke zur Außenwelt. Vor zehn Jahren für die sowjetrepublikanischen „Volksvertreter“ erbaut, scheint sich der Mangel an Ausblick von neuem zu rächen: „Wir könnten zu einem zweiten Rumänien werden“, befürchtet Benas.

Tatsächlich zeichnen sich im katholisch geprägten Litauen ähnlich undemokratische Entwicklungen ab wie in Rumänien nach dem inszenierten Sturz Ceauscescus. Nach dem ersten Entwurf zu ei­ner neuen Verfassung soll Litauen zu ei­ner zentralistisch geführten Präsidentenrepublik umgewandelt werden. Volksrechte und Mitbestimmung kommen darin nur am Rande vor. Im Weiteren soll eine eigene Armee aufgebaut werden. Grundlagen dafür sind mit einer bewaffneten Miliz schon gelegt worden. Aber nicht nur Rupeik Benas ist davon überzeugt, daß Litauen auf dem Weg zu einem freien und demokratischen Land nur den gewaltfreien Weg gehen darf. Millionen von BaltInnen haben mit ihrem Auftreten und Einsatz gegen die Panzer der Militärs dies Anfang des Jahres klar unterstrichen.

Das „andere“ Baltikum
Hauptübel und Haupthindernis zu mehr Demokratie und Frieden ist ohne Zweifel die desperate wirtschaftliche Lage in den baltischen Staaten. Nichts geht mehr: Industrie und Infrastruktur liegen in Trümmern. Kleider und Nahrungsmittel sind rationiert. Das Chaos in der übrigen Sowjetunion und die unsichere politische Lage be- und verhindern die langsichtige Arbeit. Die Perspektiven für eine grundsätzliche Demokratisie­rung der baldigen Politiken sind auf diesem Hintergrund alles andere als rosig.

Und doch: überall gibt es Gruppen und Menschen, die aufgrund einer selbständigen Analyse Mut gefaßt haben zum Aufbruch. Im Gegensatz zur stalinistischen Diktatur der 40er und 50er Jahre, als Hunderttausende Andersdenkender nach Sibirien deportiert wurden, existieren heute Freiräume, Kontakte und internationale Kontakte. Die gewählten Parlamente in Tallinn (Estland), Riga (Lettland) und Vilnius, in denen auch viele „gewendete“ Parteibonzen sitzen, zeigen jedoch wenig Respekt für den Willen und die Bereitschaft großer Teile der Bevölkerung, gewaltfrei und demokratisch den Aufbruch ins Ungewisse anzugehen. Experte- und undemokratische Tendenzen bei den Volksvertretern sind allenthalben festzustellen. In ihrem Streben nach staatlicher Unabhängigkeit orientieren sie sich an den alten Attributen der „starken“ Staaten: Präsidialmacht, Parlamentarismus und Armee.

Da gilt es das „andere“ Baltikum zu unterstützen: Nicht einfach mit gutgemeinten Patentrezepten und zuendegedachten Ideen, sondern mit Gesprächsbereitschaft und konkreter Unterstützung. „Wir müssen unseren Weg selbst lernen und gehen“, versicherte man und frau mir immer wieder. Gefragt sind Reisebereitschaft, Einladungen, Informationen und vor allem - der Wille zum Dialog. Die konkreten Arbeitsbedingungen der BürgerInnen im Baltikum sind - um es nochmals zu nennen - denkbar schlecht. Telefonapparate ohne Verbindungen, Dokumente und Informationen ohne Möglichkeiten zur Vervielfältigung und Verteilung, Menschen ohne finanzielle Mittel. Keine Millionen unsererseits sind aber gefragt, sondern viele kleine bescheidene Aktionen. Der Aufbruch im Baltikum ist eine Chance: einen kleinen Teil davon können und müssen wir wahrnehmen!

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Hintergrund
Bruno Kaufmann arbeitet in Uppsala, Schweden für den Schwedischen Ver­söhnungsbund.