6x jährlich informiert unsere Zeitschrift, das FriedensForum, über Aktionen und Kampagnen der Friedensbewegung. Gerne schicken wir dir ein kostenfreies Probeexemplar zu.
Plädoyer für eine Erneuerung
Offener Brief des Bündnis 90 an die Friedensbewegung
Liebe Freundinnen und Freunde aus der Friedensbewegung,
Auslöser dieses Briefs ist die Folgenlosigkeit des tausend- und abertausendfach seit mehr als einem Jahr allabendlich vor den Bildschirmen wiederkehrenden Zorns. Oder, um es ganz ungeschützt und unvorsichtig . so wie es die etablierten Parteien nie täten -zu sagen: Eure und unsere offenkundige Hilflosigkeit.
Diese hat - um von der heutigen Friedensbewegung im engeren Sinne zu sprechen- eine Reihe von Gründen, die sie bei sich selbst suchen müsste. Zu vermuten ist, daß sie das Verschwinden des Sowjetimperiums noch nicht verarbeitet hat, die Mauer immer noch in vielen Köpfen steckt. Und weil sie sich von der bipolaren Weltsicht noch nicht befreit hat, läuft die Friedensbewegung den Ereignissen hinterher, überlässt die Debatte, die sie selbst initiieren müsste, den Parteien, um diese dann unter Zuhilfenahme von durch häufige Verwendung abgenutzten Formeln zu kritisieren.
Pazifismus ist kein Beschwörungsritual
Zurück zu unserer Hilflosigkeit angesichts der Bilder aus Bosnien: Sie wird bestehen bleiben, wenn das pazifistische Prinzip zum Beschwörungsritual verkommt, und wenn die Diskussion unter Friedensbewegten sich weiter auf die Kritik der Institutionen einseits und der militärischen Optionen andererseits beschränkt.
Wenn sie also in ihrer alten Stärke wiederentstehen will, muß die Friedensbewegung als erstes ihr Selbstverständnis überprüfen. Nach dem Verschwinden des "realen Sozialismus" ist es noch wichtiger als in den 80ern, daß sie sich nicht als "links" und "antikapitalistisch" definiert, sondern als breite Volksbewegung, die sich - unabhängig vom parteipolitischen Bekenntnis der sie tragenden Menschen - für Menschenrechte, Demokratie und gewaltfreie Konfliktlösung einsetzt.
Einmischung ist geboten
Und wenn es eine Lehre aus den Ereignissen der vergangenen drei Jahre gibt, dann ist es die, daß Einmischung notwendig ist. "Einmischung in eigene Angelegenheiten" ist nicht nur dann geboten, wenn sie sich gegen Produktion, Export, Stationierung und Anwendung von Waffensystemen richtet, sondern auch dann, wenn irgendwo in der Welt Menschenrechte verletzt werden, egal in wessen Namen das geschieht.
Die gegenwärtige Situation im ehemaligen Jugoslawien ist nicht nur das Ergebnis des Scheiterns etablierter Politik, sondern auch unserer eigenen Unfähigkeit, uns rechtzeitig und mit der gebotenen Intensität einzumischen.
Eine Grundaussage der 80er Jahre war die von der Nichtführbarkeit von Kriegen in Europa. Aber es ist das eingetreten, was nach zwei Weltkriegen in Europa unvorstellbar erschien: Krieg ist wieder zum Mittel der Politik geworden. Menschenrechte werden in einem Maße verletzt, wie es sich die meisten Menschen in Westeuropa nicht mehr vorstellen konnten. Warum war es für sie so unvorstellbar? Zum einen: Weil das Ausmaß der Unterdrückung in den sogenannten sozialistischen Ländern aus opportunistischen und ideologischen Gründen nicht zur Kenntnis genommen wurde. Und zum anderen: weil bis heute der Osten mit westeuropäischen Augen betrachtet wird - von den etablierten Politikern ebenso wie von Alternativen und Friedensbewegten-, und von vielen nicht verstanden wird, daß Ost- und Südosteuropa heute eine Entwicklung nachvollziehen, die in Westeuropa nur noch in Geschichtsbüchern behandelt wird. Deshalb wurde sowohl die Kraft unterschätzt, die von der Forderung nach nationaler Selbstbestimmung gegenüber den bürokratisch-zentralistischen Regimes ausging, als auch das ganze Ausmaß der neuen Gefahren nach deren Zusammenbruch.
Keine Wirksamkeit ohne Erneuerung
Da in Europa wieder Kriege geführt werden, ist es 1992 mindestens ebenso notwendig, daß eine breite internationale Bewegung gegen den Krieg zustandekommt, wie vor zehn Jahren, als es vor allem aufgrund des nuklearen Potentials darum ging, die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzung zu minimieren. Die Friedensbewegung kann es sich also nicht aussuchen, ob sie sich erneuert oder nicht - sie ist dazu verpflichtet.
Um auf das Grundsätzliche zurückzukommen: Erneuerung bedeutet keineswegs, daß das Prinzip der Gewaltfreiheit zur Disposition steht. Es muß nur ergänzt werden durch das "Prinzip der Einmischung".
Erneuerung setzt aber mindestens den Abbau der anachronistischen Lagermentalität voraus, was so manchen Friedensbewegten bisher nur äußerst unvollkommen gelang. Nicht die einseitigen Schuldzuweisungen an die verbliebene Großmacht werden der Friedensbewegung Erfolg bringen, und erst recht nicht der Versuch, die Vereinten Nationen und die KSZE als Erfüllungsgehilfen expansionistischer Weltmachtpolitik zu diffamieren. Ganz im Gegenteil: bei aller Unvollkommenheit ihrer Instrumentarien sind das nun einmal die internationalen Organisationen, die der Konfliktschlichtung, der Verhinderung und Beendigung von Kriegen am ehesten dienen können.
In die sicherheitspolitische Debatte einmischen
Die aktuelle Diskussion auch außerhalb der Parlamente, der Parteien und Institutionen zu führen, erscheint uns umso notwendiger, je mehr die Europäische Gemeinschaft geneigt scheint, den mit dem Verschwinden der Sowjetunion vakant gewordenen Platz einer Großmacht einzunehmen - und je größer die Rolle ist, die deutsche Politiker bei diesen Bemühungen spielen.
Wir betrachten den Antrag der Bundestagsgruppe Bündnis 90/Die Grünen, das Grundgesetz dahingehend zu ändern, daß Blauhelmeinsätze auch mit deutscher Beteiligung möglich sind, als einen Einstieg in die bei Bürgerbewegungen, Grünen und Friedensbewegung überfällige Diskussion. In der Begründung des Antrages wird gefordert, daß UN-Einsätze sich auf Peace-Keeping-Operationen nach Kapitel VI der UN-Charta beschränken sollen, die nur die Aufgabe haben, die Ergebnisse einer nichtmilitärischen Konfliktschlichtung abzusichern.
Die Priorität soll eindeutig bei der Ausschöpfung aller nichtmilitärischen, gewaltfreien Möglichkeiten liegen. Der Einsatz mit einer Kontingentsbegrenzung auf maximal 2000 Berufs- oder Zeitsoldaten, die sich freiwillig für solche Einsätze gemeldet haben, soll nicht im Rahmen von Militärbündnissen wie NATO und WEU, sondern nur im Rahmen der UN möglich sein.
Militärische Intervention würde die Eskalation fördern ...
Unserer Auffassung nach würde eine militärische Intervention der UN nicht dazu führen, die kriegerischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien schnell zu beenden, sondern würde sie wahrscheinlich auf eine neue Stufe der Eskalation mit unabsehbaren Folgen heben.
... doch welche Mittel der Einmischung sind zulässig?
Sicher hat unsere Forderung, einerseits Konflikte michtmilitärisch und möglichst gewaltfrei zu schlichten, andererseits aber Menschen- und Minderheitenrechte konsequent durchzusetzen, eine permanente Gratwanderung zur Folge. Welche Mittel der Einmischung sind im Konkreten Fall zulässig, wie abwägbar sind die Folgen, welches Risiko darf eingegangen werden? Und nicht zuletzt: was erwarten die Betroffenen von uns?
Wir fordern, das Embargo endlich konsequent durchzusetzen. Das bedeutet, seine Einhaltung mit großen Aufwand zu kontrollieren und jene Firmen oder Staaten mit wirtschaftlichen und politischen Sanktionen zu belegen, die gegen das Embargo verstoßen.
Wir fordern zweitens, alle Flüchtlinge aufzunehmen und alle Internierten in Sicherheit zu bringen, auch wenn das den Initiatoren der sogenannten "ethnischen Säuberungen" zeitweise entgegenkommt. Denen müßte dann aber unmissverständlich klargemacht werden, daß sie damit das Recht verspielt haben, gleichberechtigte Mitglieder der europäischen Völkerfamilie zu sein, solange sie nicht die Rückkehr der Betroffenen und deren uneingeschränkte Ausübung ihrer Recht garantieren.
Wir fordern drittens, daß die UNO schon jetzt Blauhelme im Kosovo stationiert, ehe die dortigen Konflikte zu einem Bürgerkrieg führen, der noch weit über das bisherige Ausmaß von Krieg und Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien hinauszugehen droht.
Vorschlag: eine gesamtdeutsche Friedenswerkstatt
Notwendig ist - und das ist letztlich das Hauptanliegen dieses Briefs - den öffentliche Diskurs aufzunehmen, ihn nicht allein den Berufspokitikern sowie der mitunter wenig verlässlichen Medienberichterstattung zu überlassen.
Neue Impulse für die europäische Sicherheitspolitik
Zugleich böte ein solcher Rahmen die Gelegenheit, sich intensiv in die Diskussion über eine neue europäische und deutsche Außen- und Sicherheitspolitik einzumischen und der Friedensbewegung neue Impulse, derer sie dringend bedarf, zu geben.
Wir hoffen sehr auf die Bereitschaft möglichst vieler Initiativen, Organisationen und Einzelpersonen, sich - ungeachtet der vielen anderen ungelösten Probleme in Deutschland - gemeinsam mit uns an der Vorbereitung einer solchen gesamtdeutschen Friedenswerkstatt zu beteiligen.
Eile ist geboten!
Berlin, den 24. August 1992