Aus bewegungsanalytischer Sicht

Ostermarsch - ein Ritual mit Zukunft

von Uli Wohland

Jedes Jahr das Gleiche! Ist das nicht ein leeres Ritual? Was interessiert, ist eigentlich nur die Frage: „Sind es weniger oder sind es mehr als letztes Jahr?“ So oder ähnlich klingen Kommentare zu den alljährlich stattfindenden Ostermärschen in den Medien, aber auch unter Aktiven der Friedensbewegung.

 

Gewiss, Ostermärsche sind ein Ritual. Aber haben Rituale nicht ihre Funktion, sind sie nicht wichtig für das tägliche Leben und auch für soziale Bewegungen? Oder etwas präziser gefragt: Welche Funktion hat der Ostermarsch als Ritual in der Friedensbewegung? Rituale im Alltag, vom Zähneputzen bis zur Gute-Nacht-Geschichte, geben einen bestimmten Ablauf vor und vermitteln uns Ruhe und Sicherheit. Aber Rituale in sozialen Bewegungen?

Welche Aufgaben haben Rituale? Sie laufen eingespielt und quasi automatisch ab. Sie strukturieren die Zeit und entlasten vom permanenten Entscheidungsdruck. Sie stellen Beziehungen nach eingespielten kulturellen und sprachlichen Mustern her. Rituale dienen zudem häufig der Initiierung der Aufnahme in einen sozialen Zusammenhang. Sie ermöglichen Verbundenheit. Sie verbinden Vergangenheit mit der Gegenwart und vergewissern sich einer gemeinsamen Zukunft. Sie konstituieren und stabilisieren auf eingespielte Weise eine Gemeinschaft, generieren ein Innen und Außen und schaffen so Zugehörigkeitsgefühle.

All dies trifft auch auf die Ostermärsche zu, wie sie aktuell praktiziert werden. Die Frage ist, ob die Friedensbewegung die Möglichkeiten ausschöpft, die in diesem Ritual liegen. Damit stellt sich die Frage, was die Organisator*innen in die Planung an neuen oder veränderten Elementen einbauen können, um das ritualisierende Potential weiter auszuschöpfen. Hier einige Hinweise.

 

Möglichkeiten des Rituals ausschöpfen

Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, dass die bei Ostermärschen anwesenden regionalen Gruppen, z.B. mit Schildern namentlich sichtbar gemacht und auch kurz begrüßt werden. Ritual? Genau! Ostermärsche als ein Who is Who regionaler Gruppen. Man muss und will dabei sein.

Je mehr Ritualtermine ein sozialer Zusammenhang entwickelt hat, desto mehr interne Termine stehen zur Verfügung, um auf aktuelle Ereignisse zu reagieren. (1) Im Jahr 2003, als im März der zweite Irak- Krieg begann und die langfristig geplanten Ostermärsche wenige Tage später stattfanden, wurden viele Menschen mobilisiert. Plätze waren bereits gebucht, Redner*innen angefragt, Materialien erstellt, der gewaltfreie Charakter war garantiert und die Absprachen mit der Polizei waren eher eine Formsache.

Ein weiterer Vorteil ist die Dezentralität der Ostermärsche. Regionale Themen und regionale Aktionsformen können aufgenommen werden, medial verstärkt durch die bundesweite Medienarbeit. So bekamen z.B. die regionalen Aktivitäten zum Truppenübungsplatz in Wittstock durch die Berichterstattung zu den Ostermärschen bundesweite Aufmerksamkeit., was ansonsten wohl kaum gelungen wäre.

 

Kampagnen

Kampagnen kommt bei der Entwicklung sozialer Bewegungen eine besondere Bedeutung zu. Kampagnen lassen sich steuern und feste Aktionstage sind planbar. So sind Kampagnen ein strukturierendes Element in Sozialen Bewegungen. Kampagnen besitzen das strategische Potential, so etwas wie planbare Prozesse mit klaren Zielen, Aktionsformen und Abläufen in den eher zufälligen Verlauf der Sozialen Bewegung einzubeziehen. Kampagnen stellen so etwas dar wie das stabilisierende Gerüst, um das die Bewegung sich nachhaltig entwickelt. Kampagnen greifen dabei immer wieder auf bestehende Termine zurück und integrieren diese in ihre strategische Zielplanung. Bestehende Termine lassen sich leichter nutzen, als wenn erst neue Termine „entdeckt“ und „aufgebaut“ werden müssen. So wird z.B. traditionell in der Anti-Atomwaffenkampagne der Abwurf auf Hiroshima und Nagasaki jedes Jahr von neuem genutzt, um die Anliegen z.B. zum Atomwaffenverbotsvertrag breit zu thematisieren.

Ein neuer Tag, der sich immer mehr zum Ritual entwickelt, ist der Flaggentag der Mayors for Peace am 8. Juni. Dieser wird jedes Jahr an immer mehr Orten begangen, so 2019 bereits in 150 Gemeinden. Der neue Termin entwickelt derzeit erst noch seine festen Rituale, z.B. öffentliche Reden der Bürgermeister*innen oder Aktionen im Gemeinderat bzw. Stadtparlament, während der traditionelle Gedenktag eher nach neuen Formen sucht, da die bloße dramatisierende Erinnerung an den ersten Atombombenabwurf 1945 gerade bei der jüngeren Bevölkerung nicht mehr verfängt. Neue Formate, neue Ritualformen sind hier gefragt.

Je mehr Termine als Ritual aufgegriffen werden, desto besser. Neue Termine lassen sich bewusst herausbilden. Entlang einer vorgegebenen Zeitschiene (2) fällt es den Friedensgruppen leichter, ihre Arbeit langfristig zu planen. Neben dem Ostermarsch ließen sich z.B. folgende Tage als Gedächtnistage mit noch zu entwickelnden Ritualen entwickeln:

  • Abzug der ersten Pershing II aus Mutlangen 1987
  • Tag der Befreiung 08. Mai
  • Geburtstag von Bertha von Suttner 09.Juni
  • Tag der Bundeswehr 15. Juni. Wird immer mehr genutzt.
  • Frauenfriedensbewegung (Geburtstag von Clara Immerwahr) 21.Juli. (3)
  • Tag der Gewaltfreiheit 02.Oktober (Geburtstag von Gandhi)
  • Tag des Deserteurs 13.12 (Geburtstag von des Deserteurs Ludwig Baumann)
  • Tag der Menschenrechte 10.Dezember

Zu den Ostermärschen werden zentral Materialien erstellt, Referent*innen vermittelt, Medienarbeit geplant, eine Landkarte der Aktivitäten erstellt, Berichte und Bilder gesammelt, die Märsche ausgewertet. Zu den anderen festen Aktionstagen wäre das gleiche möglich. Manche Gruppen greifen jenen Tag auf, andere einen anderen. Nach und nach würden sich einige Tage herausbilden, andere würden verschwinden. In den Regionen entstehen dazu innovative Formate, die sich verallgemeinern und dann kollektivieren und ritualisieren lassen.

Aber feste Termine können auch in die Krise kommen. Der 1. September war lange in der Obhut des DGB. Die gewählten Formate, z.B. Vorträge in Gewerkschaftshäusern, fanden immer weniger Anklang. Der Tag drohte zum leeren Ritual zu werden und die Aufmerksamkeit konzentrierte sich mehr und mehr auf die Frage: „Wie steht der DGB zu aktuellen Einsätzen der Bundeswehr?“. Hier ging ein ritueller Termin für die Bewegung fast verloren. Als Weltfriedenstag, der sich mit den aktuellen Kriegen und besonders den Auslandseinsätzen der Bundeswehr kritisch auseinandersetzt, hat er wieder deutlich an Lebendigkeit gewonnen und wird an vielen Orten in veränderter Form begangen.

 

Fazit

Rituale dürfen sich verändern, ja müssen sich verändern. Die Termine bleiben, aber die Formen und Formate, in denen sie begangen werden, sollten sich immer auch ein wenig am Zeitgeist orientieren. Ostermärsche als Fahrradfahrten oder mit aktueller Musik kommen jedenfalls besser an, als Latschdemos mit der Musik der 80er Jahre, wie z.B. Hannes Wader und den Bots oder das ewige „We shall overcome“ usw. Hier tut ein guter politischer DJ Wunder. Wer wissen will, wie das geht, soll an Demos von Fridays for Future oder Extinction Rebellion teilnehmen.

 

Anmerkungen

1 So wurde im Herbst 2010 entschieden, im Frühjahr 2011 am Tag der Ostermärsche große Anti-AKW Demonstrationen an vielen bundesdeutschen AKW Standorten durchzuführen. Alles war geplant, als im März in Fukushima die Kernschmelze stattfand. Die Mobilisierung stand, die Massen kamen, der Ausstieg wurde von der Bundesregierung beschlossen. Ob so schnell in größerem Umfang hätte mobilisiert werden können, ohne den vorgegebenen und vorgeplanten Termin, ist zumindest fraglich.

2 Man denke hier an die stabilisierende und Planungssicherheit vermittelnde Funktion des Kirchenjahres mit seinen vielfältigen Ritualen und Vorgaben.

3 Sie protestierte als Chemikerin gegen den Giftgaseinsatz, den ihr Mann Fritz Haber, ebenfalls Chemiker, im 1. Weltkrieg maßgeblich vorbereitete und nahm sich das Leben.

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Uli Wohland ist freier Mitarbeiter der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden.