Mit gewaltfreier Aktion herrschende Gewaltverhältnisse entlarven!

Plädoyer für Zivilen Ungehorsam

von Wolfgang Hertle

Bei der Suche nach Bündnispartnern für gewaltfreie Widerstandsaktionen wird oft um unterschiedliche Auffassungen über Gewalt und Gewaltfreiheit gestritten. Eine erfolgreiche Klärung stärkt die Gemeinsamkeit, wenn gleichzeitig die Unterschiede deutlich gemacht und bewusst akzeptiert werden. Meist führen aber endlose Grundsatzdiskussionen eher zu Ermüdung statt zu Einigkeit für eine kraftvolle Praxis gewaltfreien Widerstandes. Überzeugender wirken auf die aktuelle und konkrete Situation bezogene Argumente, z.B. dass Akzeptanz des Protestes u.a. vom einheitlichen und eindeutigen Verhalten abhängt. Im Larzac-Widerstand(1) waren nicht alle in der landesweiten Unterstützerbewegung Aktiven von vorneherein und prinzipiell auf Gewaltfreiheit festgelegt. Aber das heterogene Bündnis hielt sich solange an die von den betroffenen Bauern geforderte Grundlinie, als sie erfolgreich war, d.h. nicht zuletzt den Widerstand gegenüber der Öffentlichkeit als den moralischen Sieger wirken ließ. Nach zehn Jahren war das Ziel des Widerstandes durch die pragmatisch zustande gekommene Einigkeit erreicht.

Bei den Verabredungen über Aktionsformen im Vorfeld sollten die Verhaltensregeln möglichst konkret besprochen werden. Erfolg in der Praxis überzeugt mehr als theoretische Grundsatzdiskussionen.

Verteidiger der herrschenden Un-Ordnung tendieren dazu, Protestformen als gewaltsam zu diskriminieren, sobald diese geltende Regeln überschreiten. Obwohl Gesetzgebung und ihre Auslegung immer von politischen Machtverhältnissen abhängen, gelingt es den Mächtigen, großen Teilen der Bevölkerung die bestehenden Verhältnisse als normal und damit legitim zu vermitteln. Gesellschaftskritiker, die zur notwendigen Veränderung Gegen-Gewalt nicht ausschließen oder sogar als gerechtfertigt ansehen, vermuten hinter der Position der Gewaltfreiheit die Blindheit von Liberalen gegenüber den Gewalt enthaltenden Verhältnissen.

Die Diffamierung radikal gesellschaftskritischer Ideen wie die Bemühungen, Zivilen Ungehorsam zu kriminalisieren, halten viele Menschen von einer spektakulären Praxis ab, die selbstbewusste Darstellung der Dissenshaltung auch gegenüber ihrer Alltagsumwelt fordert und juristische Konsequenzen mit sich bringen kann. Die Rethorik mancher Pazifisten, der keine entschiedene Tat folgt, macht diese Haltung in den Augen konsequenterer Protestierer unglaubwürdig. Manche Demonstrantengruppen sehen Zivilen Ungehorsam zumeist als schwächlich an, sie lehnen es ab, sich der Strafverfolgung zu stellen, sondern ziehen es vor, aus verdeckter Position Schläge auszuteilen. Ziviler Ungehorsam, der vom passiven, rein verbalen Gewaltlosigkeits-Verständnis abweicht, kann also sowohl von Verteidigern wie von radikalen Kritikern der bestehenden Verhältnisse missverstanden und - wenn auch aus entgegengesetzten Motiven - abgelehnt werden.

Gewaltsame Auseinandersetzung von Demonstranten mit der Polizei hat dieselbe fatale Wirkung auf die Öffentlichkeit, ob sie entsteht, weil sich die Gegenseiten magnetisch anziehen oder ob durch gezielte Provokation: durch den spektakulären Schlagabtausch wird die Gewalt zum ausschließlichen Thema und verdeckt das ursächliche Anliegen. Beide Kampfparteien sehen das Unrecht nur auf der jeweiligen Gegenseite und rechtfertigen damit ihre eigenen Handlungen. Damit ver- oder behindern beide Seiten den Bewusstseins- und Lernprozess der Mehrheit der Betroffenen, die eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. Wechselseitig liefern sie sich den Vorwand zur Berechtigung zu mehr Gewaltanwendung. Gewalt macht blind, ihr autoritärer Charakter steht in völligem Gegensatz zum demokratisch-gewaltfreien Ziel der Selbstbestimmung.

Die wirksame Einigung zwischen VertreterInnen der Gewaltfreiheit und diesem Konzept skeptisch gegenüberstehenden Gruppen nach ca. 18 Monate dauernden Vorbereitungen zur Blockade des G8-Gipfels in Heiligendamm im Juni 2007 ist erstaunlich und ermutigend. Nicht wenige waren skeptisch, ob eine gemeinsame Aktion möglich ist, wenn für die einen die Verwendung des Begriffs gewaltfrei, der aber für die anderen von zentraler Bedeutung ist, vermieden bzw. umschrieben werden sollte. Nach den Auseinandersetzungen in Rostock bei der Auftaktdemonstration am 2.6.07 war mir kaum vorstellbar, dass in den darauf folgenden Tagen Provokateure keine Chance finden würden und alle Beteiligten am Ende ein Hochgefühl über den gemeinsamen Erfolg ausstrahlten.(2)

Für die nächste Zukunft scheint mir vorrangig, bewusst die Bündnisarbeit innerhalb des politischen Spektrums von Organisationen zu verstärken, die sich für direkte gewaltfreie Aktion und Zivilen Ungehorsam aussprechen. Die stärkere Zusammenarbeit von Kampagnen wie x-tausendmal quer, Gewaltfrei Atomwaffen Abschaffen, Gendreck weg, Bomben Nein - Wir gehen rein usw. unter dem Motto ZUGABe (Ziviler Ungehorsam, Gewaltfreie Aktion- Bewegung(3)) ist ein wichtiger Schritt. Ich empfehle, diese bundesweit agierenden Kampagnen durch lokale und regionale "Querstreben" zu verstärken: Zur Vorbereitung einer größeren Aktion wie z.B. in Büchel oder in Gorleben organisieren alle interessierten an einem Ort wohnenden Gruppen gemeinsame Treffen zur Information über den letzten Stand der Großaktion Zivilen Ungehorsams, um evt. gemeinsam Aktionstrainings oder Anreise zum Ort der Aktion zu planen. Auch wer nicht an der zentralen Großaktion teilnehmen kann, findet hier MitmacherInnen an begleitenden Unterstützungsaktionen am Heimatort. Auf diese Weise wirkten im dezentralen Aktionskonzept z.B. die Larzac-Komitees in über 50 Städten oder die Gorleben-Freundeskreise nach dem Motto "Larzac (oder Gorleben) ist überall!"(4) So entstünden weitere Synergie-Effekte, welche die bundesweite Zusammenarbeit auf lokaler Ebene verstärken und ergänzen. Die örtliche Nähe hat den Vorteil, dass mehr Menschen aus unterschiedlichen Gruppen, verschiedenen Alters sich bereits im Vorfeld begegnen und austauschen können. Auch Nicht-Organisierte können sich Arbeits- und Bezugsgruppen anschließen, die dann nicht erst in letzter Minute am Aktionsort gebildet werden müssen. Damit ist auch die Auswertung nach der Aktion erleichtert und die Möglichkeit der Weiterarbeit über den kurzfristigen Anlass hinaus- wenn das Kennenlernen in der Aktion Lust an gemeinsamer Weiterarbeit geweckt hat. Im Laufe der Jahre ist m. E. das Ziel der Niederschwelligkeit von Aktionen, das ich z.B. an X-tausendmal quer sehr schätzte, auch aufgrund der ausgefeilteren Polizeimaßnahmen, etwas in den Hintergrund getreten. Aktionen ohne feste Camps, die kurzfristig in der Nacht beginnen usw. machen die Teilnahme für ältere und gesundheitlich nicht belastbare Menschen schwieriger. Dies sollte in Zukunft wieder stärker bewusst berücksichtigt werden, ebenso wie die Sympathiewerbung gegenüber der "normalen Bevölkerung" am jeweiligen Aktionsort wie auch in den Städten.

Besonders wichtig finde ich, die gewaltfreie Position klar und unmissverständlich darzustellen - ohne verurteilenden Dogmatismus. Die bewusst gewaltfreie Bewegung muss sich kontinuierlich bemühen, diese Haltung über die eigenen Kreise hinaus zu verbreiten und sie gleichzeitig zu vertiefen.

Offenes Visier: Wir haben nichts zu verbergen, wollen bewusst weder Konspiration noch Vermummung. Wir stehen zu unseren Aktionen, wir wollen überzeugen und uns notfalls mit unserer ganzen Person gegen die organisierte Gewalt stellen.

Ohne Illusion: Die Staatsmacht ist vom Gewaltpotential aus betrachtet eindeutig stärker als jede Protestbewegung, Unser Ziel kann nur sein, die Gegenseite mit moralischen Mitteln zu "entwaffnen". Regierungen haben immer die Tendenz, Infragestellungen ihrer Machtverhältnisse in dem Maße zu unterbinden, als diese von der Kritik bedroht werden. Ziviler Ungehorsam ist herausfordernd, provoziert und dramatisiert latente Konflikte, stellt Gewalt beinhaltende Teile des herrschenden und von der Legalität meist gedeckten Gefüges in das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Es dauert oft lange und kostet große Opfer der Betroffenen, bis legitime Anliegen wie Streikrecht oder Kriegsdienstverweigerung anerkannt und legalisiert werden. Je mehr Elemente des Gesellschaftssystems infrage gestellt werden, umso differenzierter muss auch unser Bemühen werden, in jedem einzelnen Bereich das Unrecht aufzuzeigen und alternative Regeln des Zusammenlebens zu finden - auf dem Weg zu einer immer gewaltärmeren (Welt-) Gesellschaft.

Die gewaltfreie Gesellschaftsveränderung, für die wir eintreten, begreift die vielfältigen, Gewalt mit sich bringenden Probleme der Gesellschaft als komplex zusammenhängende Teile eines Gesamtsystems und nicht als zufällige Schönheitsfehler. Kriegsgefahr ist z.B. nicht allein durch Abschaffung der Wehrpflicht zu bannen. Es ist notwendig, punktgenaue Kampagnen zu organisieren, aber gleichzeitig die Zusammenhänge mit anderen Konflikten zu sehen und die gegenseitige Unterstützung der Kampagnen und Bewegungen zu fördern.

Es wird keine gewaltfreie Gesellschaft ohne Gerechtigkeit und Basisdemokratie geben, das heißt: Gewaltfreiheit als Ziel verlangt Abbau aller gewaltförmigen Herrschaftsmittel und Strukturen. Sie richtet sich zwangsläufig gegen wesentliche Elemente des Staates wie Militär, Rüstungsproduktion, Polizei als Schutz der Privilegien Weniger. Es kann nicht unser Interesse sein, dem Staat den Vorwand zu liefern, sich noch mehr hochzurüsten, weil er stets vom Schlimmsten ausgehen "muss", um sich dagegen zu schützen. Wenn klar ist, dass wir uns gegen massive gesellschaftliche oder industrielle Gewalt wenden und dabei bewusst keine Gegengewalt ausüben, haben wir die besseren Chancen, zu überzeugen und viele Menschen zu Widerstand (oder zum Verständnis und zur Sympathie für den Widerstand Anderer) zu bewegen. Dann können Situationen herbeigeführt werden, wo auch der stärkste Staat einsehen muss, dass sein Ziel politisch nicht durchsetzbar ist und verstärkte Repression sich gegen ihn selbst auswirkt. Unsere Aktionen und Kampagnen sollten stets auch Lernfelder für weitergehende Gesellschaftsveränderung sein. Auch in dieser Hinsicht ist es wichtig, dass gewaltfreie Aktionsgruppen sich stets ernsthaft um Austausch und Gesprächskontakt mit den "Einheimischen" bemühen, auch wenn dies anstrengender ist, als im Kreis Gleichgesinnter und Gleichaltriger aus den vertrauten Milieus zu bleiben.

Anmerkungen

  1. W. Hertle: "Larzac 1971-1981. Der gewaltfreie Widerstand gegen einen Truppenübungsplatz in Südfrankreich". Kassel. 1982, ISBN 3-887 13-001-4
  2. "Global denken, lokal handeln - Aktuelle Betrachtungen aus der Perspektive langjähriger Begleitung gewaltfreier Widerstandsbewegungen - http://www.lebenshaus-alb.de/magazin/004795.html, Uli Laubenthal: Protestmarke Bombodrom http://www.sichelschmiede.org/Artikel/08-02-GWR.htm
  3. Jochen Stay: "Block 08 - 2008 das Jahr des Zivilen Ungehorsams" http://www.graswurzel.net/327/block08.shtml; Rundbrief ZUGABe, Sternschanze 1, 20357 Hamburg,
  4. W. Hertle: Larzac, Wyhl, Brokdorf, Seabrook, Gorleben. Grenzüberschreitende Lernprozesse Zivilen Ungehorsams. In: Reader Ziviler Ungehorsam. Traditionen, Konzepte. Erfahrungen. Perspektiven. Köln 1992 " ISBN 3-88906-048-X

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