Gender und Postkolonialismus

Postkoloniale Theorie

von Franziska Heinze
Schwerpunkt
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Postkoloniale Theorie bezeichnet ein breites Spektrum theoretischer Zugänge zu und kritischer Auseinandersetzungen mit historischen und gegenwärtigen Machtverhältnissen, die im Zusammenhang mit dem europäischen Kolonialismus und seinen bis heute währenden Fortschreibungen stehen.

Vier zentrale Anliegen postkolonialer Theorie können formuliert werden: (1) die Analyse der Konstruktion von in binärer Opposition stehenden Selbst- und Fremdrepräsentationen (Othering) in einem historischen Prozess, der durch wechselseitige Konstitution und strukturelle Ungleichheit geprägt ist (vgl. Amos & Parmar, 1984; Mohanty, 1997; Said, 1978); (2) die Untersuchung von Machtrelationen, Ausbeutung und Hierarchien, welche mittels kultureller Repräsentation und politischer Kontrolle stabilisiert werden (vgl.  Bhabha, 1994; hooks, 1989; Spivak, 1988, 1994); (3) die Analyse von Kolonisierung als gewaltsamem Prozess der Subjektkonstitution, die den domestizierten Anderen durch pädagogische und performative Praktiken erschafft (vgl. hooks, 1994, 2003, 2010); und (4) die Transformation von kolonialen (Ohn-)Machtkonzepten, die das koloniale Subjekt als handlungsunfähiges Objekt konstruieren, in (selbst-)ermächtigende Handlungskonzepte (vgl. agency bei Homi K. Bhabha, 1994 und Konzept des talking back bei bell hooks, 1989). Neben das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse tritt ein normatives political commitment, das sich in einer parteilichen, bisweilen intervenierenden Wissenschaftspraxis äußert. Der zum Teil synonym verwendete Begriff Postkoloniale Kritik rückt das politische Engagement stärker in den Fokus.

Als „Gründungsdokument postkolonialer Theorie“ (Castro Varela & Dhawan, 2005, S. 31) gilt Edward Saids (1935-2003) Studie „Orientalism“ (1978). Darin rekonstruiert Said den Orientalismusdiskurs der Kolonialmächte und arbeitet heraus, wie KolonisatorInnen und Kolonisierte sich gegenseitig bedingen und vom kolonialen Diskurs gleichermaßen hervorgebracht werden. Er zeigt auf, wie der Diskurs zur Legitimation und zum Auf- bzw. Ausbau der europäischen Kolonialherrschaft instrumentalisiert wurde. Insbesondere marxistische, poststrukturalistische und feministische Ansätze haben einen Einfluss auf postkoloniale Theoriebildung und Methodologie (Gutiérrez Rodríguez, 2010, S. 274). Die vielfältigen theoretischen und methodologischen Bezüge – Ha (2011, S. 180) spricht von „Polyphonie“ – sind ein Charakteristikum postkolonialer Theorie und Kritik. So vereint postkoloniale Theorie einerseits eine Vielzahl dissonanter Stimmen und Perspektiven in sich, andererseits wird es so möglich, der Vereinheitlichung und Normierung wissenschaftlicher Theoriebildung bewusst entgegenzutreten.

Mit ihrer Analyse der komplexen und konfligierenden Überschneidungen von Gender mit Klasse, Rassismus, ökonomischen, sexuellen und ideologischen Kategorien der Unterdrückung leistet postkoloniale feministische Theorie einen wesentlichen Beitrag zur Dekonstruktion und Re-Orientierung westlicher feministischer Theorien. Postkoloniale feministische Theorie fokussiert auf die Situation von Frauen bzw. auf vergeschlechtlichte Identitäten in (neo-)kolonialen Settings (Castro Varela, 2006). In diesem Sinn arbeitet Gayatri Chakravorty Spivak die Rolle von Frauen in der ‚Dritten Welt’ mit Blick auf globale ökonomische Zusammenhänge und deren inhärente Dominanzverhältnisse heraus (u. a. Spivak, 1994; vgl. auch Löw, 2009). Um aufzuzeigen, dass ‚Dritte-Welt‘-Frauen unterschiedliche Subjektpositionen einnehmen und einer Vielzahl von Ausbeutungsmechanismen ausgeliefert sind, verwendet Spivak das Konzept Subalterne. In Anlehnung an Gramsci (1999) bezeichnet sie damit (als Frauen konstruierte) Personen außerhalb der hegemonialen Klasse, die nicht politisch organisiert, ohne Klassenbewusstsein und im doppelten Sinne stimmlos sind, d. h. sie verfügen nicht über eigene (politische) Stimmen, und gleichzeitig schenkt ihnen die hegemoniale Klasse kein Gehör. Spivak zufolge unterliegen subalterne Frauen einer doppelten Ausbeutung durch patriarchale und ökonomische Strukturen. Ausgehend von der Marginalisierung der Subalternen kritisiert Spivak die Denkfigur einer international sisterhood als paternalistische Idee hegemonialer westlicher Feministinnen (Spivak, 1994, S. 84; vgl. hooks, 1997; Loomba, 2005; Parmar & Amos, 1984). Postkoloniale Theoretiker_innen üben auch Kritik an Konzepten wie Emanzipation (z. B. Dietrich, 2009; Muldoon, 2001; Young, 2004) und Entwicklung (z. B. Harding, 2000; McEvan 2001): eingeschrieben in eurozentrische Diskurse, sei die Emanzipation von weiblichen, subalternen und / oder indigenen Subjekten bzw. die Entwicklung der ‚Dritten Welt‘ nur in Verschränkung mit und in gleichzeitiger Abgrenzung von Emanzipation und Entwicklung in der westlichen Welt denkbar.

Ein weiteres Themenfeld postkolonialer feministischer Theorie stellt die Dekonstruktion eurozentrischen / westlichen Wissens dar. Die Verbindung von Wissen bzw. Wissensproduktion mit Machtpositionen wird von Sandra Harding und Donna Haraway mit dem Begriff situated knowledges bezeichnet (Harding, 1994; Haraway, 1995). Ein Beispiel für situated knowledge ist die black feminist standpoint-Theorie von Patricia Hill Collins (1990). Sie widmet sich der Dekonstruktion eurozentrischer, (neo-)kolonialistischer, rassistischer und androzentrischer Epistemologien, arbeitet die spezifischen Perspektiven afro-amerikanischer Frauen heraus und bringt sie in wissenschaftliche Diskurse ein (vgl. Singer, 2005). Ausgehend von der Kritik an der universellen Identität ‚Frau’, welche vornehmlich die Lebensrealität heterosexueller, weißer Mittelschichtsfrauen repräsentiere, verweisen Schwarze und postkoloniale Feministinnen auf die gesellschaftliche und sozial verortete Identität ‚Frau’ und die intersektionale Verwobenheit von ‚Frau-Sein’ mit Rassismus, Klassismus und Kapitalismus (Combahee River Collective, 1978; Lorde, 1997; Singer, 2010). Die Rollen weißer, westlicher Frauen im System des Kolonialismus bzw. ihr Beitrag an der Fortschreibung (neo-)kolonialer Repressionen (vgl. Spivak, 1985, 1988, 1999) stehen ebenso im Analysefokus postkolonialer feministischer TheoretikerInnen wie beispielsweise Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen in kolonialen Kontexten (vgl. Kabesh, 2013; Lewis & Mills, 2003) oder die Herstellung von Geschlecht und der Zugriff darauf in der Unterscheidung zwischen Tradition (tradition) und Modernität (modernity) (z. B. Loomba, 2003).

Neben der Konstruktion von Gender und Geschlechterrollen sind Sexualität und Begehren wichtige Topoi postkolonialer Theorie (vgl. Loomba, 2005; McClintock, 2013). Sexualität wird durch (post-)koloniale Diskurse normativ gerahmt. So analysiert beispielsweise Hyam (1990) die in kolonialer Absicht erfolgende Überschreitung von Ländergrenzen (durch Männer) zugleich als Transgression rigider europäischer Sexualmoral. Loomba (2005) identifiziert unter anderem die Beschreibung von Devianz und abnormativem Verhalten in nicht-europäischen (sexuellen) Handlungspraxen (z. B. Sati, Polygamie) als Referenzpunkte für die Konstruktion eines eurozentrischen Selbst. Das koloniale Begehren erfährt eine sexuelle Konnotation, die Grenzen zwischen kolonialer und sexueller Eroberung verschwimmen, und sexuelle Dominanz gerät als Bestandteil kolonialer Repressionsmechanismen in den Blick. Das unterlegene (weibliche) Andere soll einverleibt, penetriert oder entschleiert werden (vgl. Yeğenoğlu, 1998 zu (Un-)Veiling als kulturell und sexuell differente Praxen in orientalischen und westlichen Diskursen).

Literatur zum Thema Postkoloniale Theorie
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Der Beitrag wurde erstmalig unter dem gleichen Titel veröffentlicht im Gender Glossar / Gender Glossary. Verfügbar unter https://gender-glossar.de/glossar/item/41-postkoloniale-theorie

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Franziska Heinze wurde 1983 geboren und studierte an der Universität Leipzig (UL) und der Université de Haute-Bretagne (Rennes, Frankreich) Französisch und Kunstpädagogik für das Höhere Lehramt an Gymnasien sowie Erziehungswissenschaft, Allgemeine Sprachwissenschaft und Französistik im Magisterstudiengang. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig (seit 04/2010) und wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut, Fachgruppe Politische Sozialisation und Demokratieförderung (seit 05/2015). Ihre Forschungsinteressen sind Bildung für nachhaltige Entwicklung und Einstellungen und Überzeugungen von Lehrpersonen. Von 2010-2014 entwickelte und gestaltete sie als Gleichstellungsbeauftragte aktiv die Gleichstellungsarbeit an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der UL mit. Daneben widmet sie sich der Dekonstruktion kolonialer/rassistischer Diskurse in Schulbüchern und in Kinder- und Jugendliteraturen.