Recht ist, was den Waffen nützt. Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert

von Wolfram WetteHelmut Kramer

"Recht ist, was den Waffen nützt" setzt sich mit dem Verhältnis von Justiz und Pazifismus in Deutschland auseinander. Ihr Blick reicht dabei vom Kaiserreich bis in die heutige Zeit. Gab es für Sie einen konkreten Anlass, darüber ein Buch zu schreiben, oder bewegt Sie dieses Thema schon seit langem?

Wette: Wie so oft, bedurfte es auch bei diesem Projekt eines konkreten Anlasses. Er bestand darin, dass der von Helmut Kramer geleitete Verein "Forum Justizgeschichte" im Jahre 2002 in Recklinghausen eine Tagung veranstaltete, die sich eine nicht eben kleine Aufgabe stellte. Sie wollte das Thema "Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert" in seiner Gesamtheit in den Blick nehmen. Erstmals arbeiteten nun Juristen mit einem Interesse für eine kritische Justizgeschichte und Historiker mit dem Spezialgebiet Historische Friedensforschung zusammen. Es war ein Test, der erfolgreich bestanden wurde.

Was mich selbst betrifft, so erinnere ich mich sehr genau, dass mich die unglaubliche Einseitigkeit der politischen Justiz, die zur Zeit der Weimarer Republik ihr Unwesen trieb, schon früh empörte. Das Thema kam mir besonders nahe, als ich in den 80er Jahren eine politische Biographie des ersten sozialdemokratischen Reichswehrministers Gustav Noske schrieb. Im Januar 1919 wurden führende politische Persönlichkeiten der Linken wie der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner oder die KPD-Gründer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von rechtsradikalen Offizieren ermordet. Sie wurden umgebracht, weil sie dezidierte Kriegsgegner waren. Die Mörder kamen straflos davon. Was für eine Justiz war hier am Werk? Weshalb wurden in den folgenden Jahren alle Militärkritiker, die es wagten, illegale Geheimrüstungen öffentlich anzuprangern, mit Landesverratsverfahren verfolgt? Wie konnte es geschehen, dass die Militärjustiz der NS-Zeit Zehntausende von Todesurteilen gegen Kriegsgegner fällte, die man "Wehrkraftzersetzer" oder "Deserteure" nannte? Wie ist es zu erklären, dass selbst noch in den frühen Jahren der Bundesrepublik auch konservative Pazifisten, denen die Wiederbewaffnung ein Dorn im Auge war, mit Hilfe der Justiz niedergemacht werden konnten?

Kramer: Als Jurist und Historiker haben wir seit Jahrzehnten mit zunehmendem Misstrauen das Zusammenspiel von Militärpolitik und Justiz bei der Durchsetzung militärischer Absichten beobachtet. Das bedrückende Ergebnis: Juristen haben viel mehr mit der Entscheidung über Krieg und Frieden zu tun, als man gemeinhin annimmt.

Um pazifistische Kritik zu unterdrücken und Krieg und Aufrüstung zu legitimieren, haben Juristen traditionell das Recht im Dienst militärpolitischer Interessen instrumentalisiert. Wenn nach den Ursachen gefragt wird, aus denen selbst noch im 21. Jahrhundert von machthungrigen Politikern immer neue Angriffskriege vorbereitet und geführt werden konnten, wird man neben willfährigen Massenmedien nicht zuletzt die Juristen nennen müssen.

Sie betonen, dass ein traditioneller Wesenszug der deutschen Justiz darin besteht, dass diese sich "im Konflikt zwischen Macht und Freiheit meist auf die Seite der Machthaber und Kriegsbefürworter geschlagen hat". Worin sehen Sie die Ursachen hierfür? Liegen sie beispielsweise schon in der Ausbildung der Juristen?

Wette: In der Tat: Wer sich mit der jüngeren deutschen Geschichte beschäftigt, kommt an der - auf den ersten Blick erstaunlichen - Erkenntnis nicht vorbei: Die mit Fragen aus dem Spannungsfeld von Krieg und Frieden befasste Justiz ließ sich nicht etwa von der Idee der Gerechtigkeit leiten. Sie agierte vielmehr als eine politische Justiz. Das heißt, sie benutzte ihr juristisches Handwerkszeug zu politischen Zwecken. Aber nicht etwa zu friedenspolitischen Zwecken. Im Gegenteil! Die Richter und Staatsanwälte waren in ihrer großen Mehrheit betont antipazifistisch eingestellt. Von wenigen Ausnahmen wie Gustav Radbruch oder Arnold Freymuth abgesehen, verstanden sie sich als Teil der traditionellen Machteliten, die den deutschen Macht- und Militärstaat zu stützen hatten. Ihre politische Interessendefinition folgte der Devise: Recht ist, was den Waffen nützt. So gesehen, könnte man die Justiz zur Zeit des ersten deutschen Nationalstaates auch als eine Machtstaatsjustiz bezeichnen.

Kramer: Die Persönlichkeitsstruktur der meisten Juristen ist durch das Bedürfnis nach Teilhabe an der Macht geprägt. Ihre Autoritätsgläubigkeit hat sie immer wieder dazu verleitet, das Recht machtpolitisch zu missbrauchen.

Von der Machtnähe der Juristen ist auch ihre rein technokratisch ausgerichtete Ausbildung bestimmt. Sie vollzieht sich in einem zur Anpassung und Vorsicht neigenden akademischen Milieu. Die Frage nach den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Hintergründen des Rechts (und nach der Funktion des Juristen in der Gesellschaft) wird kaum gestellt. Die Studenten erfahren auch kaum etwas darüber, dass die unbesehene Anwendung der Gesetze und die vermeintlich korrekte Anwendung des formalen juristischen Handwerkzeugs zu schlimmem Unrecht führen kann, wie dies nicht nur in den Jahren 1933 bis 1945 geschehen ist. Im demokratischen Rechtsstaat muss der Jurist aber fähig und bereit sein, sein eigenes Tun selbstkritisch zu reflektieren.

"Landesverrat" oder "Wehrkraftzersetzung" sind strafrechtliche Vorwürfe, die von der Justiz im Zusammenhang mit Pazifisten häufig gebraucht wurden. Man hat als Laie immer die Vorstellung, dass Juristen sich bei ihren Entscheidungen genauestens an die Gesetze halten müssten. Sind viele Sachverhalte lediglich eine Frage der Argumentation?

Kramer: Die Vorstellung, dass die richterliche Entscheidung das zwingende, unausweichliche Ergebnis einer absolut logischen und unverfälschten Operation ist, wird in der Tat gerade von den Juristen gepflegt und in der Öffentlichkeit verbreitet. Hinter den Gesetzen verstecken sie ihr politisches Vorverständnis und ihre Machthörigkeit vor allem auch dort, wo ihre Entscheidungen in den Raum der Politik hineinreichen. Das ist vor allem im Völkerrecht der Fall, wenn es also um die Entscheidung für Krieg oder Frieden geht. Unter trickreicher Aufbietung ihres vielfältigen Auslegungsinstrumentariums haben sie das Recht durchweg in den Dienst der Militärpolitik gestellt. Wenn eine Regierung verstärkte Rüstungsbestrebungen und einen Angriffskrieg für notwendig erklärt, kann sie fast immer mit der Unterstützung zumindest der oberen Gerichte rechnen. Diese Linie durchzieht die gesamte deutsche Justizgeschichte der letzten 150 Jahre.

Wie kann es sein, dass in einem Land wie Deutschland Pazifismus von der Justiz nicht als eine Wertorientierung in einer demokratischen Gesellschaft, sondern vielmehr als landesverräterische Einstellung betrachtet wird?

Wette: In Deutschland gab es seit der Revolution von 1848 zunächst schwache, dann stärker werdende demokratische Strömungen. Aber die wurden nur kurzzeitig wirkungsmächtig. Statt dessen dominierte ein autoritäres und später auch faschistisches Staatsverständnis. Dieses war gekoppelt mit einem unheilvollen Gewaltdenken. Aus der Sicht der nationalistisch eingestellten Gewaltmenschen waren Pazifisten Schwächlinge, Utopisten oder gar Landesverräter. Wer sich für den Frieden einsetzte, galt nicht selten als "innerer Feind". Sie alle - z.B. Eisner, Liebknecht, Luxemburg, Paasche - wurden entsprechend bekämpft. Erst im Jahre 1949 haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ein generelles Friedensgebot in die Präambel aufgenommen. Damit reagierten sie auf die kriegerische deutsche Geschichte. Sie wollten auf verfassungsrechtlichem Wege die endgültige Abkehr vom "Schwertglauben" sicherstellen. Was in der Praxis jedoch nur teilweise gelang. Wie in jüngster Zeit durchgeführte Strafverfahren gegen Kritiker des Krieges gegen Jugoslawien zeigen, haben Kriegsgegner auch heute vor Gerichten einen schweren Stand.

Herr Wette, Sie sind Professor für Neueste Geschichte an der Universität Freiburg und Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung. Herr Kramer, Sie waren zuletzt Richter am Oberlandesgericht und sind Vorsitzender des Forums Justizgeschichte. Welche Reaktionen löste die Veröffentlichung von "Recht ist, was den Waffen nützt" aus?

Wette: Rasche Reaktionen löste das Buch bislang noch nicht aus. Ich denke, dieses bedrückende Kapitel der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts muss erst einmal in Ruhe betrachtet werden. Der schwere Brocken will verdaut sein. Gelegentlich ist das Buch von Außenstehenden als ein reines Fachbuch missverstanden worden. Dabei handelt es sich um eine hochpolitische Angelegenheit. Was uns entgegentritt, ist ein Teil der großen Auseinandersetzungen dieses Jahrhunderts: Wie eine politische Justiz im Dienste kriegerischer Machtpolitik eine Minderheit bekämpfte, die sich gegen Nationalismus, Militär und Krieg engagierte. Es geht um den Kampf zwischen kriegsgegnerischen Pazifisten auf der einen Seite und den gewaltergebenen Menschen in der schwarzen Robe auf der anderen.

Kramer: Vielleicht sollte man die Frage etwas anders stellen:

"Was erhoffen Sie sich von dieser Veröffentlichung?" Manche Juristen möchten das Recht zu einer Geheimwissenschaft machen. Deshalb haben wir das Buch in einer für jeden Interessierten verständlichen Sprache geschrieben. Wir erhoffen uns ein Publikum weit über die juristischen Experten hinaus, nach dem Grundsatz: Das Recht ist eine viel zu wichtige Sache, als dass man es den Juristen allein überlassen darf. Das gilt erst recht, wenn es um Krieg und Frieden geht. Wir hoffen, dass das Buch gerade auch jungen Juristen die Augen öffnen wird.

Das Interview wurde zur Verfügung gestellt von literaturtest, http://www.literaturtest.de. Die Fragen stellte Babett Haugk.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Wolfram Wette, geb. 1940, Prof. Dr. phil., Historiker, freier Autor und Mitbegründer der Historischen Friedensforschung, Historisches Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, davor (1971-1995) Militärgeschichtliches Forschungsamt Freiburg, Ehrenprofessor der russischen Universität Lipezk.
Dr. jur. Helmut Kramer (*1930) ist Richter am Oberlandesgericht i.R. und hat u.a. das Forum Justizgeschichte e.V. mitbegründet. Im Oktober 2012 erscheint im Aufbau-Verlag, herausgegeben von Joachim Perels und Wolfram Wette, der Sammelband „Mit reinem Gewissen. Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und ihre Opfer“ mit den Vorträgen, die auf dem Symposium zu Helmut Kramers 80. Geburtstag gehalten wurden. Am Ende des Buches beschäftigt sich Kramer noch ausführlicher mit der Rückkehr der Kriegsjustiz.