Belgrader Augenärztin in Limburg:

Schöpferischer Widerstand gegen einseitige Strukturen

von Nicola van Bebber
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Sie spricht sehr sachlich. Ohne vordergründige Emotionalität. Wahrscheinlich geht dies nicht anders, wenn man seit rund acht Jahren in einem Zustand lebt, der sämtliche Strukturen auf den Kopf gestellt hat. Wenn man eine funktionierende Umwelt hat zusammenbrechen sehen. Dr. Vera Litricin aus Belgrad zeichnete jetzt in Limburg den beschwerlichen Weg auf, den serbische Frauen und Mädchen während der mehrjährigen, immer noch nicht bewältigten Balkankrise durchstehen mussten.

Im Rahmen der Ausstellung "Gewalt gegen Frauen - Vorurteile und Tatsachen", die von der Beratungsstelle "Gegen unseren Willen" in Zusammenarbeit mit dem Frauenbüro des Kreises Limburg/Weilburg präsentiert wird, berichtete die Augenärztin von ihrer Arbeit im Rahmen der Organisation "SOS-Hotline und Zentrum für Mädchen". Diese aus der Frauenbewegung im ehemaligen Jugoslawien entstandene Einrichtung wurde im März 1994 als lokale, gemeinnützige und von der Regierung unabhängige Frauen-Organisation gegründet. Schwerpunkt des Zentrums ist neben der Aufarbeitung von Gewalt und allgemeinen Problemen junger Frauen auch die Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingsmädchen. Hier arbeitet man in erster Linie zunächst gegen den Hass. Vera Litricin: "Es ist sehr schwer, nicht diejenigen zu hassen, die dich von der Möglichkeit ausschließen, wie andere Kinder zu leben. Die verursachen, dass Du Dich in feuchten Kellern oder Schutzräumen aufhalten musst, anstatt draußen zu spielen." Wenn eben die Kerzen auf dem Geburtstagkuchen nicht mehr nur Dekoration seien, sondern das elektrische Licht ersetzen müssten. Wenn es keine Planung gebe ohne den Zusatz: "Falls es ein Morgen gibt..." Das Zentrum bietet nun vor allem auch Sicherheit. Ist ein Ort, an dem die Mädchen Kurse und Workshops besuchen und vor allem einmal endlich frei reden können. Rund zwanzig Psychotherapeutinnen, Ärztinnen, Lehrerinnen und Rechtsanwältinnen arbeiten dort Hand in Hand: "Hier erfahren die jungen Frauen Zuwendung, Hilfe und Respekt."
Dr. Vera Litricin erfährt die Flüchtlingskinder in ihrer Arbeit als "ganz verlorene Generation". Viele von ihnen waren 1991 als Kleinkinder aus Westkroatien ins Land gekommen und haben seitdem mehrere, manchmal bis zu zehn Flüchtlingscamps durchlaufen. "Nun sind sie 15 Jahre oder älter, wissen nicht woher sie kommen, welchen Akzent sie sprechen oder wo sie in Zukunft leben werden," berichtet Litricin. Sie wisse nicht, wie sich da ein individuelles Bewusstsein entwickeln solle, sagt die Belgraderin und ihr Gesicht bekommt resignative Züge. Die Familien seien in der Regel unvollständig, Mütter oder Eltern depressiv: ohne Job, ohne eigene Wohnung, Geld und Hoffnung. "Wie sollen sie da einen stabilisierenden Einfluss auf ihre Kinder haben können", fragt die Ärztin in dem Wissen, dass die Antwort darauf nur entmutigend ausfallen kann.

Dennoch vermittelt Vera Litricin keine depressive Hoffnungslosigkeit. Vor allem, wenn sie ihr Flüchtlingsprojekt beschreibt, strahlt sie Kraft und Energie aus. Eben diejenigen Eigenschaften, die wohl vor allem den Frauen in solchen Krisenzeiten erwachsen. "Wir versuchen, das Leben der Mädchen zu ´normalisieren`. Wir gehen gemeinsam zum Markt, wir kochen zusammen, wir gehen ins Kino, ins Theater, in den Zoo. Und wir organisieren Geburtstagspartys." Die medizinische, psychologische und schulische Rundum-Betreuung des Zentrums kann dank ausländischer Unterstützung kostenlos angeboten werden.

Das Projekt wird auch von deutschen Organisationen gesponsert: von der Kirchengemeinde Lüneburg und dem Komitee für Grundrechte und Demokratie in Köln. Dessen Vorstandsmitglied aus Limburg, Pfarrer Hubertus Janssen, hatte den Kontakt zwischen bundesdeutschen und serbischen Frauen-Beratungsstellen geknüpft. Durch insgesamt fünf Ferienfreizeiten weiß der Pfarrer des Ortsteils Eschhofen, wie lebensnotwendig diese Arbeit in Belgrad ist. Seine Hoffnung: Zwischen Limburg und Belgrad möge an einer Brücke der Verständigung gebaut werden. Ein Brückenschlag, der gerade nach diesem schrecklichen Krieg so bitter nötig sei.

Psychische Freiheit, die Chance, sich individuell entwickeln zu können, wird zahlreichen jungen Menschen in Serbien dagegen ein Fremdwort bleiben. Für viele hat das Trauma einfach zu lange gedauert. Dr. Litricin berichtet aus ihrer Praxis. Ein vierjähriges Kind, das sie wegen einer Augenkrankheit behandeln sollte, war ihr in Belgrad aufgefallen: "Ich habe noch nie ein so trauriges Kind gesehen." Der Hintergrund: Seitdem sein Vater gefallen ist, ruft die Oma das Enkelkind nur noch mit dem Namen ihres toten Sohnes. Vera Litricin: "Sie haben aus dem Kind ein Denkmal gemacht. Er wird einfach keine Chance haben."

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Krisen und Kriege
Nicola van Bebber ist freiberufliche Journalistin