Die Armee ist nicht mehr brauchbar und geschichtlich überholt

Schweiz ohne Armee: Wir müssen ein Wagnis eingehen

Interview mit Hansjörg Braunschweig

 

In der Schweiz wird am 26. November eine Volksabstimmung über die Abschaf­fung der Armee stattfinden. Die Initiative "Schweiz ohne Armee und für eine um­fassende Friedenspolitik" hatte über 100.000 Unterschriften gesammelt, um die Volksabstimmung zu erzwingen. In der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) ist im vergangenen Jahr ein heftiger Streit entbrannt. Eine Position repräsen­tiert der sozialdemokratische Nationalrat (Vertreter im Schweizerischen Bun­desparlament) Hansjörg Braunschweig.

 

Herr Braunschweig, was halten Sie vom Bild der Bedrohung, das Bundesrat Otto Stich in seinem Interview mit un­serer Zeitung entwarf?
Hansjörg Braunschweig: Otto Stich geht von Umbruch und damit verbun­den Unsicherheit und Risiko aus: Als Beispiele nennt er China, die So­wjetunion, die EG oder den Terroris­mus. Von der Armee erhofft er sich weniger Unsicherheit und weniger Ri­siko. Ich kann dieses Vertrauen in die Armee nicht teilen, aber ich gebe so­gleich zu: Sicherheit kann ich nicht an­bieten, und ich wäre froh, wenn Be­hörden, Armee, Privatwirtschaft, Schulen und Universitäten etwas weni­ger selbstsicher von Sicherheit und Si­cherheitspolitik reden und schreiben würden. Wir sollten der Bevölkerung nicht Sand in die Augen streuen, son­dern offen und gemeinsam zugeben, daß wir in unserer Zeit mit oder ohne Armee ein Wagnis eingehen, eingehen müssen.

 

Was heißt das jetzt aber ganz konkret?
Braunschweig: Hilft uns die Armee gegen irgendwelche Terrorakte? Ich kann mir das nicht vorstellen. Stattdes­sen sollten wir viel ernsthafter nach den Ursachen des Terrorismus fragen und mit politischen, sozialen, wirt­schaftlichen oder erzieherischen Mit­teln versuchen, Konflikte zu lösen, be­vor es zur Gewaltanwendung kommt. Militärisches Denken fragt aber nie nach Konfliktursachen und geschichtli­cher Entwicklung, sondern ist auf den Tag X, Tag des Überfalls oder des An­griffs, ausgerichtet. Deswegen ist die Armee heute nicht mehr brauchbar und geschichtlich überholt.

Hilft uns die Armee, wenn wir den 40-Tonnen-Korridor (in der Schweiz gibt es eine Gewichtsbeschränkung für LKW auf 28 Tonnen und deswegen Konflikte mit der EG und deren Limit von 40 Tonnen, d. Red.) durch die Schweiz verhindern wollen oder in un­seren Verhandlungen mit der EG? Eher ist das Gegenteil richtig. Die Armee beansprucht unsere Kräfte, Ideen, Phantasien und zwingt uns zu einem Feindbild-Denken. Unsere eu­ropäischen Probleme müssen wir vor allem wirtschaftlich, rechtlich, poli­tisch, kulturell und sozial lösen, mit Zuversicht statt Zukunftsangst.

 

Gibt es aber nicht auch eine mögliche militärische Bedrohung?
Braunschweig: Politiker, Wissen­schaftler und Generäle sind sich seit Jahrzehnten einig: Eine unmittelbare Bedrohung für unser Land inmitten Europas besteht nicht, weder von der Sowjetunion noch von einem osteuro­päischen Land und schon gar nicht von China her. Damit will ich aber nicht jede militärische Bedrohung für alle Zeiten ausschließen. Das kleine Risiko des Einsatzes von strategischen Atomwaffen gegen die Schweiz schon seit dem 6. Juni 1966. Die Idee, ein Wagnis einzugehen, ist also nicht neu.

 

Es heißt, die Schweiz ohne Armee würde erpreßbar. Was denken Sie dar­über und über die heutige Erpressbar­keit?
Braunschweig: Diese Überschätzung der Armee ist typisch für das militärische Denken. Unser Land wird aber in Wirklichkeit nicht nur nach unserer Armee beurteilt, sondern ebenso sehr nach unserer Wirtschaft, nach Kultur, Forschung und Bildung, nach unserem internationalen Verständnis und nach unserem Willen zur Selbstbestim­mung. Ohne Armee werden wir unter Umständen von europäischen Staaten oder von Großmächten unter Druck gesetzt werden. Politisch müssen wir auch in Zukunft den Weg finden zwi­schen Selbstbehauptung und interna­tionaler Zusammenarbeit. Weil wir so sehr auf die Armee fixiert sind, haben wir bis heute die politischen Möglich­keiten des Kleinstaats nicht ausge­schöpft.

 

Alternativen entwickeln
Ist die Idee des Verzichts auf unsere Armee nicht zuletzt deshalb fast unvor­stellbar, weil der Bunde es versäumt hat, Alternativen in Richtung einer So­zialen Verteidigung zu entwickeln?

Braunschweig: Ich liebe den Ausdruck "Soziale Verteidigung" nicht, weil er einen Feind oder zumindest ein Feindbild voraussetzt. In der Sache selbst bin ich aber einverstanden. Al­lerdings hat der Bundesrat nicht nichts getan, aber viel zu wenig. Das Angebot von "Guten Menschen" ist gut, aber wir müssen von uns selbst mehr verlangen, auch Ideen und Vorschläge, die wir vorlegen, nicht nur in Konferenzsäle und Hotelzimmer. Könnten wir uns als neutraler Staat zusammen mit anderen Staaten, sehr vertraulich, einen Frie­densplan für den Nahen Osten aus­denken, im Austausch mit verschie­denen Streitparteien, dank wirtschaft­licher und finanzieller Beziehungen, über die wir verfügen? Wären Banken oder Exportindustrien bereit, ihre Be­ziehungen zur Verfügung zu stellen? Solches Abtasten ist risikoreich: ein Exportgeschäft könnte schiefgehen; ein allfälliger Mißerfolg brächte uns Prestige-Einbußen - und wer ist bereit, dies in Kauf zu nehmen? Wir müssen wissen: von vielen Vermittlungsversu­chen wird höchstens einer zum Erfolg oder Teilerfolg führen. Wenn wir uns aber gar nicht oder kaum daran betei­ligen, wird die Erfolgschance noch ge­ringer werden!

 

Der Ernstfall ist heute
Was ist zu unternehmen, damit die Ge­waltlosigkeit auch in den Beziehungen zwischen Völkern keine Utopie bleiben muß?

Braunschweig: Gewaltlosigkeit ist ein großes Wort und ein schönes Ziel! Zu­erst würde ich fragen: Wie halten wir es mit den Flüchtlingen und Asylbe­werbern und mit den Ausländern bei uns ganz allgemein? Wenn ich an Aus­schaffungen und Saisonniers denke, sind wir eher gewalttätig, und leider finden dies sehr viele Menschen rich­tig, nicht nur bürgerlich denkende Menschen.

Nach UNO-Berechnungen könnten wir jährlich mit den Schweizerischen Militärausgaben 10 Millionen verhun­gernde Kinder, Kranke und Betagte am Leben erhalten. Der Ernstfall fin­det eben nicht am Tage X statt, wie die Armee immer noch glaubt, sondern heute bei uns und anderswo. Die Militärausgaben für unsere eigene Si­cherheit auf Kosten der Hungernden - das ist unsere tägliche Gewaltanwen­dung!

Jede Schweizerin und jeder Schweizer ist eingeladen und verpflichtet, sich wenigstens mit einem Land oder mit ei­nem Friedenspaket überdurchschnitt­lich zu befassen. All jene, die in den letzten Jahren mehrmals ihre Ferien in Tunesien, aus Sri Lanka oder in China verbracht haben, müßten eigentlich etwas wissen und vor allem spüren, was in den dortigen Ländern vorgeht. Wir brauchten viele kleine Spezialisten aus persönlicher Erfahrung, damit es weniger Feindbild-Denken gibt, damit wir weniger resignieren! Für mich sind dies kleine Schritte zur Gewaltlosig­keit, die jede und jeder tun kann. Lie­ber schon heute als erst morgen.

Mit der Zeit würden es auch jene mer­ken, die mehr Macht und entspre­chend weniger Spürsinn für zukünftige Entwicklungen haben: Parlamentarier, Regierung, Offiziere und private Wirt­schaft. So war es doch in Kaiseraugst (AKW, das in Österreich verhindert wurde, d. Red.): erst Besetzer und Be­setzerinnen und Bevölkerung, dann Parlamentarier und Regierungen und später die Elektrowirtschaft.

 

Umfassende Friedenspolitik
Im Text der Initiative heißt es nicht "Gewaltlosigkeit", sondern "umfassende Friedenspolitik"" Wie ist sie zu um­reißen?

Braunschweig: Diese müßte nach mei­nem Verständnis schrittweise auf Ab­bau von Macht und Gewalt und gleich­zeitig auf Gerechtigkeit (die auch Freiheit einschließt) und auf Mensch­lichkeit ausgerichtet sein. Noch-Befürworter und Gegner der Armee sind verpflichtet, vor und nach dem 26. No­vember 1989 (dem Tag des Refe­rendums über die 'Schweiz ohne Ar­mee', d. Red.) an der Ausgestaltung einer umfassenden Friedenspolitik zu arbeiten: Das ist auch die Aufgabe des Parteitages der SPS vom nächsten Samstag.

 

Strukturen der Gewalt müssen sich nicht allein auf Armeen stützen. Folgt auf die Abschaffung der Armee nicht zwangsläufig die radikale Veränderung der Gesellschaft?
Braunschweig: So einfach wird es ganz sicher nicht sein, radikale Verände­rungen, die ich mir innenpolitisch und im Wirtschaftsbereich wünsche, müs­sen wie eh und je erstritten und er­kämpft werden von einer Bewegung der Minderheiten und der Benachtei­ligten, zu der weiterhin Teile der Ar­beiterschaft gehören werden.

 

Was bringt die Belastungsprobe um die Beschlußfassung zur Parole des SPS an Positivem?
Braunschweig: Nach einem Dutzend Diskussionsveranstaltungen bin ich im Hinblick auf den Parteitag sehr zuver­sichtlich. Ich erlebte gute, weiterfüh­rende Diskussionen und wurde nie unfair angegriffen. An diesem guten Klima sind wahrscheinlich die Frauen schuld. Sie helfen uns Männern, die Militärfragen weniger emotionsgela­den zu behandeln.

 

Es heißt, eine Ja-Parole der SPS und die Stimmfreigabe würden von der Wählerschaft nicht verstanden. Was sa­gen Sie dazu, nachdem einige kanto­nale SP Ja sagten und es danach doch Wahlerfolge gab?
Braunschweig: Es wird auch Wähler und vor allem Wählerinnen geben, die von einer nein-Parole sehr enttäuscht sein werden. Am Schluß werde ich mich für eine Stimmfreigabe des SPS einsetzen, damit die Noch-Befürworter der Armee sich nicht verhärten, son­dern die Freiheit haben, nach noch­maligen Nachdenken zu Armeegeg­nern zu werden. (Erwartungsgemäß entschied sich der Parteitag für die Stimmfreigabe, d. Red.)

 

Das Interview wurde dem Jahrbuch 89/1 der GSoA entnommen. Es kann, wie weitere Materialien auch, bestellt wer­den bei: GSoA Biel, Postfach 769, 2501 Biel

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