Nur mit dir und deiner Unterstützung kann das Netzwerk Friedenskooperative 2025 friedenspolitisch wirken. Unterstütze uns zu Weihnachten mit einer Spende!
Denkmal von Truus Menger: "Sammen spelen, sammen leven" Amsterdam-Zuid
Spurensuche in Amsterdam - Zu einem Bildungsurlaubprojekt für Erwachsene
vonVom Mai 1940 bis 1945 dauerte die Phase der Besetzung der Niederlande durch die Deutschen. Es war ein Überfall auf ein neutrales Land, zu dem seit Jahrhunderten eng kulturelle und wirtschaftliche Kontakte bestanden. Er wirkt, trotz der großen Gemeinsamkeiten, gegenseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeiten und harmonischer politischer Beziehungen, bis heute nachhaltig in Einstellung und Emotionen zum "groß(geworden)en Nachbarn im Osten" nach.
Der Luftkrieg gegen Rotterdam und Middelburg, die zunehmende Politik der "harten Hand" bis zum nackten Terror gegen die gesamte Bevölkerung, die in der Verschleppung der jüdischen Bevölkerung in die KZs und in der Aushungerung der Bevölkerung der großen Städte im Winter 1944/45 ihren Höhepunkt fand, sind als traumatische Erfahrung in den Niederlanden präsent und jederzeit wieder an der Oberfläche sichtbar, wenn, wie in der Diskussion um die Freilassung deutscher Kriegsverbrecher oder in Meldungen über den wachsenden rechtsradikalen Terror in Deutschland, ein Anlass gegeben ist.
Deutsche Schüler/innen lernen Genaueres über die Niederlande allenfalls im Zusammenhang mit der Kriegsstrategie der Wehrmacht, ansonsten, wurde und wird gerade wegen der äußerlichen Normalität der Beziehungen zu den Niederlanden, in die man als Urlauber/in wegen Tulpen, Strand und Amsterdam fahrt, weil es so nah ist und jede(r) Deutsch versteht oder sprechen kann, diese Zeit gar nicht wahrgenommen. Bestenfalls erinnert man sich vage an die Geschichte der Anne Frank.
Was kann es sinnvoll machen, Anfang der neunziger Jahre mit dem "Bildswerk für Friedensarbeit" in Bonn Bildungsurlaube in Amsterdam für eine Woche zu diesem Thema anzubieten? Ohne Heranführung erschließt sich die Tatsache, daß dieses Thema überhaupt noch wichtig ist, dem/der Besucher/in nicht leicht und nur durch intensivere Kontakte zu Niederländer/innen. Zudem hat in den Niederlanden, wie bei uns auch, eine selbstkritische Auseinandersetzung über diese Zeit, die auch die Kollaboration der eigenen staatlichen Instanzen, die Denunziation jüdischer Menschen im Versteck auch durch Niederländer/innen, den Umgang mit den Kollaborateuren/innen und ihren Familien nach dem Krieg einbezieht, erst in den achtziger Jahren neu begonnen und findet in diesen Jahren, da sich die Ereignisse zum 50. Mal jähren, eine differenziertere Würdigung, die auch in der (Neu)errichtung von Denkmälern, Sonderausstellungen und Publikationen ihren Ausdruck findet.
Die "Normalität" der deutsch - niederländischen Beziehung ist zunächst einmal eine Chance, mit Deutschen ohne Abwehr vermuteter oder vorhandener Schuldzuweisungen mit unbefangenem Blick Amsterdam in einer Bildungsurlaubswoche einmal anders kennenzulernen, wie innerhalb dieser lebendigen, touristischen attraktiven Großstadt mit ihrem unverwechselbaren Flair Spuren und Zeugnisse zu entdecken sind, die die damalige Zeit, wie sie von den NiederländerInnen erinnert wird, deutlich macchen. Wo bei uns in vielen Städten die Suche nach Spuren der Vergangenheit eher auf peinliches Schweigen oder auf verharmlosend - nichtssagende Gedenksteine stößt, kann man in Amsterdam ein ganzes Netz von Institutionen, Ausstellungen, Gedenktafeln entdecken, die das komplexe Thema in allen Einzelheiten und zugleich anschaulich-exemplarisch lebendig werden lassen. Und es gibt Einzelpersonen wie Miriam Ohringer, und Institutionen, wie die Anne-Frank-Stiftung, die in ihrer Arbeit mit BesucherInnengruppen und im Konzept ihrer Ausstellung deutlich machen, daß es ihnen nicht um museale Pflege der Geschichte geht: kein Gespräch einer Besucher/innengruppe mit der aus einer deutsch-jüdischen Familie stammende Miriam Ohringer, die als Mitglied einer kommunistischen Organisation schon als Jugendliche in den Widerstand hineinwuchs und einen Teil der Besatzungszeit im Versteck verbrachte, vergeht ohne ihre Rückfrage an die Zuhörer/innen, wie und wo sie denn in ihrem Leben Widerstand gegen Ausgrenzung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit leisten. Die Anne-Frank-Stiftung, in der übrigens auch junge Deutsche für die Aktion Sühnezeichen u.a. statt eines Zivildienstes einen Dienst im Ausland leisten, lädt jede(n) Besucher/in des Verstecks der Familie Frank dazu ein, sich mit aktuellen Fragen von Rassismus, Vorurteilen ihn der heutigen niederländischen Gesellschaft, aber auch in ganz Europa, zu befassen und erstellt dazu laufend neue Ausstellungen und Materialien.
Wer sich den "Luxus" leistet, eine ganze Woche lang Plätze, Straßen, Gedenkstätten und Dokumentationen zu "erlaufen" und zu studieren, kann auch in kleinen Details erleben, wie anders als bei uns mit der Vergangenheit umgegangen wird: Als Tourist wird man kaum zu dem Denkmal von Truus Menger in der Nähe des Widerstandmuseums im Wohnviertel Anne Franks verlaufen. Diese Denkmal am Rande eines Plates, den die deutschen Besatzer am 3.11.1941 zum Markt: "Allein zugänglich für Juden" erklärten, ist heute ein Spielplatz mit einem betreuten Spielhaus für die Kinder aller Herkunftsländer, die in diesem Wohnviertel aus den dreißiger Jahren leben. Das Denkmal zeigt spielende und lachende Kinder auf einer Rutsche, getrennt durch eine Mauer von ihnen Kinder, die traurig abseits stehen, weil sie nicht mitmachen dürfen. Ein Stein erklärt mit der Inschrift: "Zusammen spielen, zusammen leben" das Denkmal für Kinder als Ermutigung, schon von Kindheit an in Erinnerung an diese Zeit ein Leben ohne Apartheid einzuüben. Das Denkmal, immer mit frischen Blumen geschmückt, ist in der Patenschaft der Kinder, die auf diesem Platz spielen: sie selbst halten es in Ordnung und achten darauf, daß es nicht durch Vandalismus oder Graffitis verschandelt wird. Dick Neijssel, der seit 1937 hier in Amsterdam-Zuid wohnt und aktiv im Widerstand gegen die Besatzer war, betreut die Kinder auf dem Spielplatz mit, ist immer präsent, wenn Besucher/innen auftauchen und erklärt ihnen das Denkmal und versichert immer wieder, daß er sich freute, wenn deutsche Gruppen aus der Innenstadt bis hierher finden.
Für viele Bildungsurlaubsteilnehmer/innen sind es gerade solche Erlebnisse, die auch das Interesse an der Geschichte ihrer eigenen Stadt in der Nazizeit aktivieren, die sich vornehmen, bei sich zu Hause ihr Viertel und was sich dort ereignet hat, besser kennenzulernen. Im Lauf einer Woche werden auch immer mehr Erinnerungen aus der eigenen Geschichte wach, eigene Kriegserlebnisse als Kind, Dinge, die (Groß)eltern erzählt haben, Andeutungen und bedeutungsvolles Schweigen, falls in den Familien die Sprache auf die Nazizeit kommt etc.- und in der Gruppe, außerhalb der alltäglichen Zusammenhänge, können viele unbefangener über diese Dinge diskutieren, anderen zuhören, Neues an sich heranlassen und sich den Anfragen an die eigene Rolle in unsere politischen und gesellschaftaftlichen Lage stellen. Diese ermutigt uns, auch bei anderen Bildungsurlaubern in den Niederlanden das Thema der Besatzungszeit immer mit Lokalbezug aktiv einzubeziehen, da sonst ein wichtiger Bestandteil zum Kennenlernen und Verständnis der Niederlanden und unserer Geschichte fehlen würde.