Frauen in Saudi-Arabien

„Stille“ Revolution oder Reform „von oben“?

von Nora Derbal
Schwerpunkt
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Jahrzehntelang galten saudische Frauen im Westen als Paradebeispiel für Unterdrückung im Namen des Islam. Der politische Kurswechsel, den wir in diesen Tagen in Saudi-Arabien beobachten können, macht nun die Rolle und Einflussmöglichkeiten des Staates auf die Geschlechterordnung im Land für alle sichtbar. Die stillen Reformbemühungen der vielen saudischen Frauen (und Männer) der letzten Jahre werden vom Staat beflügelt und 2018 als Revolution „von oben“ und Aufbruch in ein neues Zeitalter zelebriert.    

Symbolische Geschlechterpolitik
Die Geschlechterordnung Saudi-Arabiens, und dafür charakteristisch die eingeschränkte Mobilität und Unmündigkeit saudischer Frauen, ist ein Phänomen des modernen saudischen Staates. Bis vor kurzem wurde die Interpretation dessen, was „der Islam“ erlaubt und verbietet, in Saudi-Arabien von einer Gruppe männlicher, religiöser Rechtsgelehrter festgelegt, die von der Regierung – ähnlich einer staatlichen Behörde – finanziert und ernannt wurden. Die Verquickung von Herrschaftsdiskurs und religiöser Doktrin geht auf das historische Bündnis (1744/45) zwischen dem islamischen Reformer Muhammad ibn Abd al-Wahhab (gest. 1792) und dem Begründer der Dynastie der Königsfamilie, Muhammad ibn Saud (gest. 1765), zurück. Im Gegenzug dafür, dass die Anhänger Abd al-Wahhabs die Al Saud als legitime, weltliche Herrscher anerkannten, setzten die Al Saud fortan in den unterworfenen Gebieten die Doktrin Abd al-Wahhabs durch.

Auch im modernen Saudi-Arabien verschaffte das Zweckbündnis zwischen den Al Saud und den religiösen Gelehrten dem Herrscherhaus Legitimität und erlaubten der Königsfamilie, sich als Stabilitätsanker in turbulenten Zeiten zu stilisieren. Die enormen Erdölreserven des Landes befeuerten die rasante Entwicklung vom Wüstenstaat hin zur Industrienation. Die politischen Krisenjahre 1979 und 1990/91 zeigen deutlich, dass die Legitimität der Königsfamilie in Anbetracht dieser herausfordernden gesellschaftlichen Veränderungen davon abhing, wie glaubhaft es ihr gelang, sich als Wahrer einer Gemeinschaft, die nach den Gesetzen Gottes lebte, zu präsentieren. Geschlechterpolitik im Sinne der wahhabitischen Gelehrten entwickelte sich dabei zum wichtigen Instrument der Herrschaftssicherung.

Frauen fordern Freiheit
Saudische Frauen – und Männer – stellten das offizielle Geschlechtermodell jedoch stets in Frage. Bereits in den 1960er Jahren beklagten sich wohlhabende saudische Frauen über die Langeweile, welche die – nunmehr politisch forcierte – Rolle als Hausfrau und Mutter mit sich brachte (zumal unzählige GastarbeiterInnen in vielen saudischen Familien nun die eigentliche Hausarbeit übernahmen). Um dem entgegenzuwirken, schlossen sich saudische Frauen bereits in den 1960er Jahren in Vereinen zusammen, die, getreu dem Motto „Hilfe von Frauen für Frauen“, Entfaltungsraum und berufliche Karrieren ermöglichten. Unterstützt durch das steigende Bildungsniveau dieser Schicht, die häufig von guten, privaten Bildungseinrichtungen und Auslandsaufenthalten profitierte, drängten Frauen in den 2000er Jahre zunehmend in Berufsgruppen, die gemeinhin als „Frauen-untypisch“ galten. Private saudische (Frauen-) Universitäten reagierten darauf mit Abschlüssen in Architektur, Design und Ingenieurwissenschaften. Besonders bedeutsam ist in diesem Kontext die Öffnung der Rechtswissenschaften für Frauen und, auf deren Druck, 2013 die Öffnung saudischer Gerichte für praktizierende Anwältinnen. Frauen drängten ebenfalls auf politische Verantwortungsübernahme. Während Frauen noch 2005 zu den Kommunalwahlen nicht zugelassen wurden, erreichten seitdem Menschenrechtskampagnen, dass saudische Frauen 2015 wählen und sich zur Wahl aufstellen durften. Bereits König ʿAbdallah (reg. 2005–2015) ernannte die erste weibliche (Vize-) Ministerin, Noura al-Fayez 2009, und nominierte 2013 immerhin 30 Frauen zur Teilnahme am Konsultativrat (majlis al-shura), dem höchsten politischen Gremium der Bürgerschaft. Gleichzeitig eroberten Frauen in Saudi-Arabien den Sport- und Kulturbereich. Sport für Frauen, zunächst von Privatleuten in Vereinen und Frauen Fitness Clubs organisiert, gehörte bereits in den 2000er Jahren zum durchschnittlichen Angebot privater Bildungseinrichtungen. Frauen in Kleingruppen, zum Power Walken und Joggen verabredet, eroberten den öffentlichen Raum der Großstädte.

Kronprinz Muhammad bin Salman und die „Vision 2030“: Eine neue Ära für Frauen?
Trotz dieser „stillen Revolution“ der Frauen in den letzten Jahren überrascht viele internationale BeobachterInnen der Kurswechsel der neuen Regierung seit 2015 unter König Salman und seinem Sohn, Kronprinz Muhammad, der die Geschlechterordnung im Land radikal in Frage stellt. Gedrängt vom historischen Tiefpreis des Erdöls und der Aussicht auf das nahende Ende der Erdölreserven, beabsichtigt die neue Regierung, mit der „Vision 2030“ die Wirtschaft des Landes zu diversifizieren und anzukurbeln. Indem die politische Führung die Rolle der saudischen Frau neu definiert, zieht sie die Konsequenz der sinkenden Wirtschaftsleistung und reagiert auf die fatale Arbeits- und Perspektivlosigkeit, unter der besonders saudische Jugendliche seit Jahren leiden. Rund zwei Drittel der Bevölkerung sind heute jünger als 25 Jahre, global vernetzt durch soziale Medien und häufig gut ausgebildet. Für diese Generation, bei der sich der junge Kronprinz besonders großer Beliebtheit erfreut, symbolisieren die neuen Freiheiten für Frauen (und damit für beide Geschlechter) den Aufbruch Saudi-Arabiens und die Fähigkeit der Nation, sich global und unabhängig vom Erdöl (wirtschaftlich) zu behaupten.

Auf den angekündigten politischen Reformkurs folgten Veränderungen von bemerkenswertem Umfang und Tempo. Die neue Regierung setzte Sportunterricht für Frauen landesweit verbindlich durch, erlaubte Frauen Zugang zu Sportstadien, Kinos, zum Militärdienst und der Polizei. Erst im März 2018 sprach sich der Kronprinz dafür aus, dass saudische Frauen nicht den landestypischen schwarzen Umhang (Arabisch ʿabaya) tragen müssten, sondern „der“ Islam lediglich anständige und respektable Kleidung verlange. Es sei jeder Frau selbst überlassen zu entscheiden, was dies bedeute. Die Ankündigung, dass im Land herrschende Frauenfahrverbot ab Juni 2018 aufzuheben, ist der symbolische Höhepunkt des staatlichen Reformkurses. Seit dem ersten Auto Korso von Frauen 1990 in Riad hatten saudische Frauen in Protest ihrer Immobilität immer wieder das Steuer ergriffen. Bilder von saudischen Aktivistinnen hinter dem Steuer gingen in den sozialen Medien viral . Die Kritik des hohen religiösen Gelehrten, Salah al-Luhaidan (2013), Autofahren sei eine Gefahr für die Eierstöcke von Frauen, wurde zum Gespött der saudischen Nation.   

Die schrittweise Entmachtung der religiösen Gelehrten unter König Salman deutet darauf hin, dass das Zweckbündnis zwischen Religion und Staat im 21. Jahrhundert eine der Wirtschaft untergeordnete Rolle spielt. Für viele Frauen in Saudi-Arabien dürfte diese Entwicklung in Zukunft einen großen Gewinn an Freiheit und Autonomie bedeuten. Aufbruch und Euphorie sollten jedoch nicht über die politisch repressive Haltung des Herrscherhauses hinwegtäuschen. Den Kritikern dieses Reformkurses droht Gefängnisstrafe.

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Nora Derbal studierte Geschichte und Islamwissenschaft in Oxford, Berlin, Kairo und Jidda. 2017 promovierte sie an der Freien Universität Berlin zur der Frage nach Zivilgesellschaft in Saudi-Arabien mit einer Forschungsarbeit, die auf insgesamt 16-monatiger Recherche in Jidda und Riad basiert.