Kriegsdienstverweigerung in der Türkei

Strafverfolgung und “ziviler Tod”

von Merve Arkun
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (KDV) ist im einfachsten Sinne die Ablehnung der Wehrpflicht aufgrund moralischer Präferenzen, Überzeugungen oder politischer Ansichten. In der Türkei haben seit 1989 viele Menschen aus unterschiedlichen Gründen ihre Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen erklärt. Waren es zunächst nur Männer, die Erklärungen zur Kriegsdienstverweigerung als Akt gegen die Wehrpflicht abgaben, so hat sich seit den 2000er Jahren das Spektrum der Antikriegsbewegung mit der KDV von Frauen erweitert. Die Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht, das durch den Staat verletzt wird, sowie eine politische Aktion, die durch die Antikriegsbewegung in der Türkei gestärkt wird.

Die Bestimmung in Artikel 72 der türkischen Verfassung, "Der Heimatdienst ist das Recht und die Pflicht eines jeden Türken", findet ihre rechtliche Antwort in der Regelung des Militärgesetzes Nr. 7179, das 2019 in der Form erlassen wurde, dass "jeder Mann, der Bürger der Republik Türkei ist, verpflichtet ist, Militärdienst zu leisten". In diesem Gesetz ist geregelt, dass der Dienst als Militärdienst nur von männlichen Staatsbürgern geleistet wird. Gemäß Artikel 3 desselben Gesetzes umfasst das Alter des Militärdienstes den Zeitraum zwischen 20 und 41 Jahren.

Auch wenn es in der türkischen Verfassung keine Regelung über das Recht auf KDV aus Gewissensgründen gibt, wird dieses Recht in der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Konvention über bürgerliche und politische Rechte im Rahmen des Rechts auf Religions- und Gewissensfreiheit bewertet, die zu den Rechten gehören, die alle Vertragsstaaten der Konvention ihren Bürgern zuerkennen müssen.  Das "Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit" ist in Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und Artikel 18 der Konvention der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte (MSHS) geregelt. In der von der EMRK erlassenen Entscheidung “Bayatyan gegen Armenien” wurde anerkannt, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus der in Artikel 9 der Konvention enthaltenen Religions-, Gedanken- und Gewissensfreiheit erwächst. Nach dieser Entscheidung entschied der EGMR in den von Mehmet Tarhan, Halil Savda, Yunus Erçep und Feti Demirtaş eingereichten Anträgen gegen die Türkei, dass die Missbilligung des Rechts der Antragsteller auf KDV die Verletzung von Artikel 9 der Konvention darstellt. Das Gericht entschied auch, dass es eine Verletzung von Artikel 3 der Konvention darstelle, Verweigerer endlosen Verfahren auszusetzen.

Gemäß Artikel 90 der Verfassung "stützen sich die Bestimmungen des völkerrechtlichen Vertrages auf Streitigkeiten, die sich daraus ergeben können, dass völkerrechtliche Verträge (über Grundrechte und Grundfreiheiten) und Gesetze unterschiedliche Bestimmungen zum gleichen Gegenstand enthalten". Mit anderen Worten, der türkische Staat muss in Übereinstimmung mit der Konvention über das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen handeln und das Recht auf KDV aus Gewissensgründen anerkennen, das vom internationalen Menschenrechtsgesetz anerkannt wird. Aufgrund der vorherrschenden nationalistisch-konservativen Ideologie wird das Recht auf KDV in der Türkei jedoch nicht als Menschenrecht anerkannt; Verweigerer müssen mit zahlreichen Sanktionen rechnen.

In der Türkei gibt es keinen Mechanismus, an den sich Verweigerer wenden können. Eine Person, die beschließt, ihre Wehrdienstverweigerung zu erklären, gibt diese Erklärung ab, indem sie ihre Gründe und individuellen Beweggründe für die Verweigerung der Wehrpflicht im öffentlichen Bereich darlegt. Diese Erklärungen werden durch Pressemitteilungen oder Pressekonferenzen bekannt gegeben. Abgesehen davon, dass die Erklärungen politisch wirksam sind, ist es wichtig, sichtbar zu sein und in Gerichtsverfahren eine rechtliche Grundlage schaffen zu können.

Welche Erfahrungen macht ein KDVer in der Türkei?
Personen, die militärischen Verpflichtungen unterliegen, müssen mit etlichen Sanktionen rechnen, wenn sie diesen Verpflichtungen nicht nachkommen. Zum Beispiel werden diejenigen, die nicht die "notwendigen" rechtlichen Schritte zur Ableistung des Militärdienstes einleiten und sich nicht militärisch registrieren lassen, als "Wehrdienst-Vermeider" und diejenigen, die sich nicht bei der ihnen zugewiesenen Militäreinheit melden, als "Deserteure" bezeichnet. Eine Entscheidung über die Festnahme dieser Personen wird vom Ministerium für nationale Verteidigung getroffen. Falls ein Verweigerer an irgendeinem Ort im Verlaufe einer Identitätskontrolle durch Polizei oder Militärpolizei identifiziert wird, fällt die zuständige Strafverfolgungsbehörde die Entscheidung über eine Festnahme. Danach wird eine Anweisung ausgestellt, den Militärdienst abzuleisten. Wenn die Person nicht innerhalb von 15 Tagen nach der Anzeige die erforderlichen Maßnahmen ergreift, droht ihr zunächst eine Verwaltungsstrafe. Nach Abschluss der administrativen Geldstrafe kann die elektronische Sperrung von Bankkonten angewendet werden. Viele KDVer, die nicht in dieses Stadium kommen wollen, können kein auf ihren Namen registriertes Bankkonto benutzen.

Obwohl die administrative Geldstrafe verhängt und dieser Prozess abgeschlossen ist, wird die Person, wenn sie sich weiterhin weigert, sich zu melden, wegen des Verbrechens des "Wehrdienst-Vermeiders" oder "Deserteurs" vor Gericht gestellt. Danach führt jede polizeiliche Personenkontrolle zu einer neuen Vorstrafe und einem neuen Strafverfahren. Selbst wenn eines der Strafverfahren mit einer Verurteilung endet, hindert dies nicht daran, ein neues Strafverfahren gegen den Verweigerer einzuleiten. Kurz gesagt, jemand, der den obligatorischen Militärdienst in der Türkei verweigert, kann auf unbestimmte Zeit strafrechtlich verfolgt werden, und strafrechtliche Entscheidungen können auf endlose Weise getroffen werden. Dies kommt dem "zivilen Tod" gleich, wie er von der EMRK anerkannt wird.

Gegenwärtig gibt es in der Türkei KDVer aus Gewissensgründen, die mehrere Strafverfahren durchgemacht und mehr als eine Strafe erhalten haben. Die Akten dieser Wehrdienstverweigerer wurden an das Verfassungsgericht weitergeleitet. Für mehr als 30 Kriegsdienstverweigerer wurden wegen Verletzung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung Einzelanträge an das Verfassungsgericht gestellt, wobei der erste Antrag 2014 gestellt wurde. Doch weit davon entfernt, ein wirksamer Mechanismus zu sein, besteht das Verfassungsgericht weiterhin darauf, keine Entscheidungen über diese Anträge zu treffen.

Der “zivile Tod” für KDVer
In der Türkei wird das Recht auf Arbeit von KDVern verletzt. Nach dem Gesetz wird die “Beschäftigung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren" als Verbrechen behandelt. Arbeitgeber, die diese Personen beschäftigen, erhalten vom Verteidigungsministerium eine Benachrichtigung. Wenn der Arbeitgeber den KDVer nicht zum Militär schickt, wird festgestellt, dass gegen ihn wegen "Beschäftigung eines Deserteurs" ermittelt wird und er unter Androhung einer Gefängnisstrafe von bis zu zwei Jahren vor Gericht gestellt wird. Aus diesem Grund werden viele Kriegsdienstverweigerer entlassen; viele werden gezwungen, ohne Versicherung zu arbeiten.

Die Reisefreiheit von KDVern ist eingeschränkt. In Anträgen, die bei bestimmten Stellen auf Langstreckenreisen gestellt werden müssen, oder in Berichten von Hotels an die Polizei wird ein Protokoll über KDVer erstellt, die als Wehrdienst-Vermeider oder Deserteure gelten. Da jede neue Erfassung eine neue administrative Geldstrafe und einen neuen Strafprozess nach sich zieht, vermeiden KDVer es, an Orte zu reisen oder sich dort aufzuhalten, wo ihre Personalien aufgenommen werden, wie z.B. Hotels. Selbst wenn sie Pässe haben, zögern Kriegsdienstverweigerer deshalb, ins Ausland zu gehen. Dies ist ein konkreter Hinweis auf den "zivilen Tod", dem Kriegsdienstverweigerer ausgesetzt sind.

Das Recht von KDVer auf Bildung wird ebenfalls verletzt. Wenn eine Person in der Türkei zum Wehrdienst-Vermeider oder Deserteur wird, kann sie nicht mehr an der Universität eingeschrieben werden. Ein Student im Grundstudium, der den obligatorischen Militärdienst nicht geleistet hat, muss  seine Schulregistrierung jedes Semester erneuern, um seinen Militärdienst bis zum Alter von 29 Jahren aufzuschieben. Wenn die Person, die das 29. Lebensjahr vollendet hat, ihre Abschlussprüfung jedoch noch nicht gemacht, ist ein weiterer Aufschub nicht möglich. Wenn er nicht zum Militär geht, kann er sein Grundstudium nicht fortsetzen.

Trotz allem ist die KDV aus Gewissensgründen ein Recht
Abgesehen von sozialen und wirtschaftlichen Repressionen und Sanktionen sind Kriegsdienstverweigerer aufgrund der in der Türkei vorherrschenden nationalistisch-konservativen Ideologie auch mit großer politischer Repression konfrontiert. Bisher wurden viele KDVer vor Gericht gestellt und viele wurden für ihre Handlungen, Erklärungen, Artikel oder Antikriegsbeiträge in sozialen Medien verurteilt. Aufgrund des verstärkten politischen Drucks, insbesondere mit der OHAL-Periode (Ausnahmezustand) im Jahr 2016, sind einige Kriegsdienstverweigerer ins Ausland geflohen. Viele suchen immer noch nach Wegen, Asyl zu bekommen ...

Die Bewegung der Kriegsdienstverweigerung hat sich an sozialen Bewegungen in der Türkei gegen die Angriffe des türkischen Staates, insbesondere gegen das kurdische Volk und sein Land, beteiligt. Bisher (nach Angaben auf der Website der Vereinigung für Kriegsdienstverweigerung) sind die von insgesamt mehr als 500 Personen, davon 169 Frauen, abgegebenen Erklärungen zur Kriegsdienstverweigerung ein Indikator für die Antikriegspraxis der Opposition in der Türkei. Die Gemeinschaftlichkeit, die durch die Umwandlung des Rechts auf KDV in eine politische Aktion erworben wurde, ist sehr wichtig, um sich eine antimilitaristische Praxis gegen die nationalistisch-konservative Ideologie der Gemeinschaft, in der wir leben, vorstellen zu können, die Kultur der Gewalt, die im öffentlichen Leben dominieren soll.

"Jeder Türke wird als Soldat geboren" ist ein Slogan, der die militaristische Kultur in der Türkei auf einfachste Weise zusammenfasst. Das Motto der Kriegsdienstverweigerer dagegen lautet: "Jeder wird als Baby geboren". Im Prozess gegen KDVer, die diesen Slogan skandierten, wurden die Frauen, die entbunden hatten, als Zeuginnen gehört, um zu beweisen, dass alle als Baby geboren wurden. Dieser Fall war einer der symbolischen Fälle von KDVer aus Gewissensgründen in der Türkei.

Obwohl die Sanktionen und Repressionen, mit denen wir konfrontiert sind, hart sind, weil wir Frieden wollen, befinden wir uns mitten in einem tragikomischen Bild, ebenso wie dieser Rechtsstreit. Unsere Bemühungen, eine antimilitaristische Realität gegen den Militarismus zu schaffen, sind immer spannend.
Selbst wenn der türkische Staat uns, die KDVer*innen, ignoriert; der Frieden wird siegen!

Übersetzung aus dem Englischen: C. Schweitzer

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Merve Arkun engagiert sich seit 2009 aktiv in der Antikriegsbewegung, sie gehört zu den Kriegsdienstverweigerer*innen in der Türkei. Im Jahr 2018 wurde gegen sie wegen "Propaganda einer terroristischen Organisation" aufgrund einer Anti-Kriegserklärung, an der sie in Diyarbakir teilnahm, ermittelt. Gegenwärtig arbeitet sie weiter mit der Vereinigung für Kriegsdienstverweigerung, die die einzige Vereinigung in der Türkei ist, die auf dem Gebiet des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung tätig ist.