Psychologie in der Praxis der Friedensarbeit

Traumatherapie ist friedensfördernd

von Nina Winkler

Wieder einmal warte ich an einem afrikanischen Flughafen mit gepackten Koffern auf die Weiterreise. An das ständige Wieder-Aufbrechen werde ich mich nie gewöhnen, zu nah sind oftmals die Begegnungen mit Menschen gewesen, die ihre lebensbedrohlichen traumatischen Erlebnisse im therapeutischen Gespräch mit mir geteilt haben. So sind meine Koffer stets auch gefüllt mit Erinnerungen an Lebensgeschichten, die nicht meine sind, aber doch nun auch zu mir gehören. Sie sind gefüllt mit Geschichten von Kriegs-Gemetzeln, blutigen Episoden von Rebellenüberfällen oder von Folter. Mit detaillierten Beschreibungen davon, wie die eigenen Eltern zerstückelt wurden oder davon, wie man selbst zum Kindersoldaten-Dasein gezwungen wurde. Nicht selten behandeln die Geschichten auch Gräueltaten an Frauen, Vergewaltigungen und Misshandlungen, von einem Täter oder mehreren gleichzeitig. Und nun auf dem Rückweg einer Reise, die mich erneut in die Bürgerkriegs- und Krisenregionen Ostafrikas führte, mischt sich die Unerträglichkeit an die Erinnerungen der Grausamkeiten mit einem Fünkchen Hoffnung, dass das strukturierte und detaillierte Erzählen und Nachfragen traumatisierten Kriegsopfern nicht nur dabei helfen kann, das Erlebte zu verarbeiten, psychisches Leiden zu verringern, sondern eines Tages auch dazu führen wird, Frieden zu schaffen.

Die Hilfsorganisation vivo (www.vivo.org) arbeitet in Kooperation mit der Universität Konstanz seit vielen Jahren in Kriegs- und Krisengebieten in Afrika und Asien. Die Projekte von vivo integrieren fast immer trauma-fokussierte Psychotherapie, Trainings von lokalen MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen, die Evaluation aller Tätigkeiten innerhalb von randomisiert-kontrollierten Studien und die Verbreitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen auf dem Gebiet der Traumabehandlung. So ist es manchmal ein wenig schwer zu definieren, was genau die passende Berufsbezeichnung ist – Psychologin, genauso aber wissenschaftliche Mitarbeiterin, Projektkoordinatorin, Traumatherapeutin, Trainerin und Supervisorin. Die Aufgabenfelder sind sehr vielfältig. Vor allem ist man auch „Mädchen für alles“ – weil bei der Arbeit in Afrikas Krisenregionen immer Aufgaben entstehen, die nicht vorausplanbar waren.

Die Arbeit von vivo
Die Projekte von vivo folgen einer gradlinigen Logik: In einer bisher nicht untersuchten Region oder bei jeder neuen Gruppe von Betroffenen wird zunächst eine epidemiologische Studie durchgeführt, um zu erfahren, worunter die Betroffenen psychologisch, die Gruppen psychosozial hauptsächlich leiden. D.h. je nach Stand der Projektentwicklung führen wir, als ausländische Traumaexperten, oder unsere in klinischer Diagnostik geschulten MitarbeiterInnen, Interviews mit Betroffenen durch. Das Ziel ist es zu erfahren, ob und wenn ja welche therapeutischen Programme in jedem spezifischen Land bei jeder spezifischen Gruppe von Betroffenen benötigt werden. Fast immer ist Traumatherapie ein notwendiger und wesentlicher Baustein, bedingt durch eskalierte Grausamkeiten der organisierten Gewalt. Die weiteren Interventionen variieren von Region zu Region, zum Beispiel Trauerinterventionen, Depressionstherapie oder Behandlung von Suchterkrankungen. Vivo entwickelt diese Interventionen anhand der zuvor durchgeführten Studie neu oder ändert bereits bewährte Programme so ab, dass sie im afrikanischen oder asiatischen Kontext adäquat, d.h. vor allem effektiv, zudem aber auch kosten- und zeitsparend, kultur-sensitiv und pragmatisch anwendbar sind. Sind evaluierte wirksame Interventionen gefunden, werden lokale MitarbeiterInnen intensiv trainiert, so dass die Trainierten eine Vielzahl von Betroffenen, zumeist Personen, die unter dem Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder anderen psychischen Erkrankungen leiden, mit Therapien erreichen können. Die ausgebildeten lokalen TherapeutInnen werden hierbei engmaschig supervidiert. Nach dem Abschluss der Therapien folgen immer weitere Interviews mit den Klienten, um die Effektivität der durchgeführten Therapien hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zu evaluieren. Es resultiert ein permanentes Anpassen der Projekte und Therapien an den neusten Wissensstand, so dass sie als evidenz-basierte Programme an andere Therapeuten und Organisationen übergeben werden können.

Was sich einheitlich in jedem Projekt zeigt, egal ob in Afrika, Asien oder Europa, ist, dass sich die Narrative Expositionstherapie (nach Schauer et al.) als trauma-fokussiertes Verfahren verbessernd auf die Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung auswirkt. Die Therapie baut herkömmliche Verfahren der Traumaexposition mit ein, ist zudem an den Prinzipien der Gesprächstherapie orientiert und baut auf Erkenntnissen aus der Gedächtnis- und Stressforschung auf. Ebenso integriert die Narrative Expositionstherapie Menschenrechtsarbeit, da die individuelle Lebensgeschichte jedes Klienten, die Narration, im Laufe der Therapie detailliert und chronologisch aufgeschrieben wird und so später, je nach Wunsch des Klienten, zur Menschenrechtsarbeit eingesetzt werden kann.[i]

Was hat das Ganze mit Frieden zu tun?
Seit geraumer Zeit ist von Seiten der Friedenswissenschaft, Psychologie und Entwicklungszusammenarbeit gemeinhin anerkannt, dass traumatische Erlebnisse und die psychische Gesundheit von Kriegsopfern einen Einfluss auf das Leben und die Entwicklung in Nachkriegsgesellschaften haben. Es werden psychosoziale Rehabilitationsmaßnahmen innerhalb sogenannter friedensfördernder Maßnahmen nach Konflikten von Nichtregierungs-Organisationen entwickelt und durchgeführt, jedoch hören fast alle friedensfördernden Maßnahmen, selbst die psychosozialen, inhaltlich stets dort auf, wo eine adäquate Aufarbeitung von erlebten Traumata innerhalb von Psychotherapien notwendig wäre. Das wäre nach Studien in unterschiedlichen Kriegsgebieten bei 25 – 50 Prozent der Bevölkerung notwendig, nämlich bei jenen Kriegsopfern, die unter dem Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden.

In diesem Zustand ist für Betroffene an Bildung und Arbeit jedoch nicht zu denken, da die Bilder der Vergangenheit zu allgegenwärtig sind und sie das alltägliche Leben stören - der Krieg hält im Gedächtnis an. Die ökonomische, soziale und politische Entwicklung, die in Nachkriegsländern ohnehin als umgedreht gilt, kann so allein durch ökonomische und soziale Hilfestellungen nicht wieder auf die Beine kommen. Hinzu können Aggressionsbereitschaft oder Rachgedanken bei den Überlebenden nach erlebten Traumata kommen, Suizidgedanken und Depressionen. Das Stigma, das vergewaltigte Frauen, zurückgekehrte ehemalige Kindersoldaten oder oftmals allgemein psychisch Leidende umgibt, erschwert Opfern die Wiederkehr in ein gesellschaftliches Leben oder gar Partizipation an politischen Prozessen, die so oft innerhalb von Programmen zum nachhaltigen Frieden gefordert wird.

Kurzum: Trauma hängt mit Versöhnungsprozessen und Konflikttransformation in Nachkriegsgesellschaften eng zusammen. Trauma-Fokussierte Psychotherapien müssen demnach Bestandteil von Friedensarbeit sein.

Und wie genau kann das praktisch aussehen?
In Nord-Uganda beispielsweise verbindet vivo Traumatherapien und Friedensarbeit in einem Reintegrations-Projekt in berufsfördernden Schulen für vom Krieg betroffene Jugendliche. Fast die Hälfte aller Jugendlichen in den Schulen, in denen vivo arbeitet, sind einstmals von der Lord’s Resistance Army entführte Kinder, die während des Krieges als ehemalige Kindersoldaten zum Kämpfen gezwungen wurden. In Nord-Uganda zeigte sich während einer vivo-Studie eindeutig: Versöhnungsbereitschaft, Rachegedanken, Aggressivität, Kriegserfahrungen und Traumasymptome hängen eng zusammen – jedoch ist dieser Zusammenhang beeinflusst durch die Einstellungen und das Verhalten anderer Gesellschaftsmitglieder. Ehemals entführte Jugendliche werden von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft oftmals stigmatisiert und als „Mörder“ beschimpft oder gar bedroht, was das Aggressionspotential noch erhöht. Ein Teufelskreis, den vivo versucht zu unterbrechen.

Auch in dem Nord-Uganda Projekt erhalten Jugendliche mit dem Vollbild einer Post-Traumatischen Belastungsstörung die Narrative Expositionstherapie als Traumabehandlung. Jedoch wird in den Schulen mittlerweile ebenso auch für nicht-traumatisierte und nicht-entführte Jugendliche ein speziell für Nord-Uganda entwickeltes Programm zur Friedenserziehung angeboten. Dieses Programm beinhaltet die Geschichte des Nord-Uganda-Konflikts, eine Erklärung von psychischen Symptomen, die auf die Verminderung von Stigmatisierung abzielt, sowie Menschenrechtserziehung pragmatisch angewandt auf den Kontext der Schüler.

Ebenso bietet vivo in den Schulen auch Konfliktlösungs- und Soziale Kompetenz Trainings zur Verringerung von Aggressivität und friedlicherer Lösung von Konflikten an – wiederum zielt dieses Programm auf die Verbesserung des gemeinschaftlichen Lebens und ist demnach an alle Jugendlichen adressiert, um ebenfalls Stigmatisierung abzubauen und Konfliktfähigkeit zu fördern. Insgesamt konnten mit diesen vielversprechend scheinenden Programmen in 2009 über 600 Kinder in Nord-Uganda erreicht werden.

Trauma-fokussierte Psychotherapie ist per se individuelle Friedensarbeit, sie muss aber gleichwohl eingebettet werden in alle Formen gemeinschaftlicher Versöhnungsprozesse und in Friedensarbeit auf gesellschaftlicher Ebene.

 

Anmerkung der Redaktion
Die Narrative Expositionstherapie ist eine Kombination aus zwei verschiedenen Therapieverfahren: einer detaillierten Dokumentation der vollständigen Lebensgeschichte und, übernommen aus der Verhaltenstherapie, dass die Betroffenen sich den für sie belastenden Erinnerungen aussetzen (Exposition) und zwar so lange, bis diese für sie selbst erträglich geworden sind. Siehe http://www.trauma-informations-zentrum.de/infos/therapie/net.htm

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Dipl.-Psych. Nina Winkler ist als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz, Klinische Psychologie, tätig und leitet für vivo in Nord-Uganda ein psychosoziales Reintegrationsprojekt für vom Krieg betroffene Jugendliche. Sie promoviert über den Zusammenhang von Trauma und Versöhnung und hieraus resultierenden Implikationen für psychosoziale und -therapeutische Interventionen.