Etappen auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat

United States of Europe

von Gerold Ecker
Schwerpunkt
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Im Frühjahr 96 startet die EU-Regierungskonferenz. Ihr Ziel ist die Über­arbeitung und Erfolgskontrolle des Masstricher Unionsvertrages. Mit der Maastricht-II-Konferenz wird eine entscheidende Weichenstellung für die Zukunft des europäischen Kontinents vorgenommen.

Im Spannungsfeld zwischen Erweite­rung und Vertiefung der europäischen Integration werden die Staats- und Re­gierungschefs der EU-Staaten grund­sätzlich zwischen zwei Optionen zu ent­scheiden haben: Entweder wird das Maastrichtmodell also Staatswendungs­prozess auf dem Weg zum Bundesstaat der "Vereinigten Staaten von Europa" fortgesetzt oder die Regierenden neh­men die Kritik an der Staatsgründung von oben ernst und orientierten sich an einer sowohl ökonomisch als auch so­zial und demokratisch dauerhaften Inte­gration Gesamteuropas.

Diesem Reformprozess soll eine Refle­xionsgruppe, bestehend aus jeweils ei­nem Vertreter der Mitgliedstaaten, zwei Vertreter des Europäischen Parlaments und einem Vertreter der EU-Kommis­sion, vorbereiten. Ausgangspunkt für deren Beratungen sind die "internen und externen Probleme der EU". Arbeitslo­sigkeit, das Informationsdefizit der EU-BürgerInnen und ein "erhöhtes Sicher­heitsbedürfnis" aufgrund transnationaler Kriminalitätsformen sind für die Staats­vertreterInnen interne Probleme. Als externe Aufgabenstellungen nennt die Reflexionsgruppe Instabilitäten in Eu­ropa nach dem Ende des kalten Krieges, Migration und Risiken des ökologischen Ungleichgewichts.

Auf der Agenda der Staatschefs dürfen somit vorrangig institutionelle Frage­stellungen - das Verhältnis zwischen Kompetenzerweiterung, Entscheidungs­effizienz und demokratischer Kontrolle - sowie die Themenbereiche innere und äußere Sicherheit stehen.

Europas "Neue Weltordnung"

Die Europäische Union soll der "primäre Garant für Friede Und Prospe­rität in Europa sein" und ein höchst­mögliches Niveau der "äußeren Sicher­heit" erreichen. Mit den Worten des Spaniers Carlos Westendorp - dem Vor­sitzenden der EU-Refelexionsgruppe - besteht die vorrangige Aufgabe in die­sem Zusammenhang darin, "alles zu tun, damit die Union wirklich eine äußere Identität erhält, die es ihr gestattet, sich im Rahmen der internationalen Bezie­hungen in einen globalen Akteur zu verwandeln und so ihre Werte zu för­dern, ihre Interessen zu verteidigen und an der Schaffung einer neuen Weltord­nung mitzuwirken". Die im Maastrichter Unionsvertrag festgelegte und bis dato gültige Absichtserklärung, über die Westeuropäische Union (WEU) als verteidigungspolitische Ebene der EU zukünftig eine eigene "europäische" Verteidigungspolitik zu etablieren, soll durch den Maastricht-II_Vertrag end­gültig fixiert werden: "Angesichts der neuen sicherheitspolitischen Herausfor­derungen in Europa ist auch die not­wendige Verwirklichung einer echten gemeinsamen Verteidigungspolitik der Union entschlossen in Angriff zu nehmen." (Zwischenbericht der EU-Refle­xionsgruppe, Westendrop-Bericht, Sep­tember 1995).

1998 endet die 50-jährige Gültigkeits­dauer der 1948 gegründeten WEU. Ob zu diesem Zeitpunkt das Militärbündnis vollständig in der Europäischen Union aufgegangen sein wird, oder ob die WEU noch pro forma eigenständig im Rahmen der Europäischen Union exi­stiert, darüber wird anläßlich der EU-Regierungskonferenz politisch gestrit­ten. Für die Mehrheit der Mitgliedstaa­ten liegt die Fusionierung von WEU und EU in der Logik des Maastrichter Uni­onsvertrages. Einigkeit herrscht hinge­gen weitgehend über das Verhältnis "Europas" zur nordatlantischen Allianz NATO. Die Europäische Union wird über ihre militärische Dimension den europäischen Pfeiler der NATO dar­stellen.

Die bis heute feststellbaren unterschied­lichen Standpunkte über Grad und Tempo der Militarisierung der europäi­schen Integrationspolitik lassen einen Kompromiss erkennen, der die bisherige Praxis des Integrationsprozesses fort­schreibt: Wahrscheinlich wird die WEU in Etappen vollständig in die EU aufge­hen. Gleichzeitig werden Entscheidungsregeln im Bereich Sicherheitspo­litik festgelegt, die es einigen Mit­gliedsländern erlauben, an militärischen Operationen der EU/WEU nicht teilzu­nehmen, ohne den Entscheidungsprozess nachhaltig zu stören.

Das Institutionengebäude der Europäi­schen Union ruht auf den sogenannten "drei Säulen". Für die erste Säule, dem gesamten Binnenmarktbereich, gelten grundsätzlich Mehrheitsentscheidungen. Dieser Politikbereich ist in EU-Termi­nologie "vergemeinschaftet", d.h. als EU-Kompetenz festgeschrieben. Die zweite und dritte Säule - die gemein­same Außen - und Sicherheitspolitik und die Politik der inneren Sicherheit und der Justizzusammenarbeit - sind hingegen zwischenstaatlich organisiert. Ziel des Maastricht-Revisionsprozesses ist es, die zwischenstaatlichen Politikbe­reiche als eigenständige EU-Kompeten­zen zu vergemeinschaften. Der Erfolg der Maastricht II Konferenz wird vom Umfang und von der Geschwindigkeit dieser Kompetenzübertragungen abhän­gen.

Noch vor Beginn der eigentlichen Kon­ferenzarbeiten kann festgestellt werden, daß über Zwischenlösungen Teilberei­che der gegenständlichen Materien - wie zum Beispiel der Schengen-Vertrag - in das Institutionengeflecht der EU über­nommen werden. Erste Schritte auf dem Weg zur Euroarmee der Union sind ge­tan, mit der etappenweisen Verschmel­zung von WEU und EU wird die Regie­rungskonferenz weitere beschließen.

EU-Regierungskonferenz 1996

Die Reflexionsgruppe wird ihren End­bericht auf dem EU-Gipfel in Madrid am 15/16. Dezember 1995 vorlegen. Die Konferenz selber wird frühestens im März '96 beginnen und voraussichtlich bis Mitte 1997 dauern. Daran schließt ein Ratifizierungsprozess in den EU-Mitgliedstaaten mit verschiedenen Volksabstimmungen an.

Jenseits der notwendigen technischen Änderungen in dem zum Teil höchst komplizierten und unklaren Vertrags­werk zeichnen sich seit dem Gipfel von Korfu im Juni 1994 verschiedene Schwerpunkte der Konferenz ab. Ein er­ster betrifft die umfassende Umstellung der Institutionen auf eine für zumindest 20 Mitgliedstaaten tragfähige Basis. Fast alle politischen Strömungen schla­gen eine Abkehr vom Prinzip der Ein­stimmigkeit bei Ratsentscheidungen vor, um so eine Blockade durch ein oder mehrere Mitgliedsländer gegenüber weiteren Integrationsschritten zu ver­hindern. Ein zweiter Schwerpunkt wird die "Lösung" außen- und sicherheitspo­litischer Probleme der EU sein, mit ei­ner Institutionalisierung der GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheits­politik) und deren Ergänzung durch eine verteidigungspolitische Dimension.

Die Vergemeinschaftung der 3. Säule (innere Sicherheit und Justizzusam­menarbeit) und die Übernahme der Schengener Verträge dürfte ebenfalls Gegenstand der Verhandlungen sein.

Trotz aller Lippenbekenntnisse wird sich die Regierungskonferenz höchst­wahrscheinlich nicht mit den Themen Arbeitslosigkeit und Osterweiterung be­fassen.

Befreiungsschläge der WEU

Seit Ende 1992 gehören alle EU-Staaten als Vollmitglieder oder Beobachter der WEU an. Mit der sogenannten Peters­berger Erklärung vom 19. Juni 1992 hat der Ministerrat der WEU beschlossen, die militärischen Einheiten der einzel­nen Mitgliedstaaten für UN-Einsätze unter WEU-Befehlsgewalt zu stellen. Die Palette möglicher Aufgaben reicht von "humanitären und Rettungseinsät­zen", friedenserhaltenden Operationen und Kampfeinsätzen zur Krisenbewälti­gung bis zu Maßnahmen offensiver Ge­waltanwendung.

Seit Mai 1995 ist Griechenland das 10. Vollmitglied des europäischen Militär­bündnisses. Die Neo-EU-Mitglieder Österreich, Finnland und Schweden er­langten mit ihrem EU-Beitritt Beob­achterstatus in der WEU.

Die Gründung des deutsch-französi­schen Eurocorps wurde 1992 zum Grundstein für einen EU-eigenen militä­rischen Körper. Damals einigten sich Frankreich und Deutschland in einer er­sten Ausbaustufe, die "Euroarmee" bis zum Jahr 1995 mit etwa 50.000 Mann auszustatten. 12.000 spanische Soldaten, die dem Eurocorps angegliedert wurden, vervollständigen zeitgerecht die erste Ausbaustufe der Euroarmee. Dadurch ist die EU mit 50.000 einsatzfähigen Sol­daten aus den vier Mitgliedstaaten inter­ventionsbereit.

Frankreich, Italien und Portugal grün­deten Mitte 1995 zwei multinationale Truppenverbände, die der WEU unter­stellt werden und anderen WEU-Mit­gliedern zur Beteiligung offenstehen: EUROFOR und EUROMAFOR ergän­zen das Eurocorps.

Derzeit ist die WEU mit dem weiteren Ausbau eigener militärischer Infra­struktur, neuen Einsatzszenarien sowie mit der Klärung des institutionellen Verhältnisses zwischen WEU, EU und NATO beschäftigt.

Über die Errichtung eines eigenen Sa­tellitenzentrums und der Beschaffung eigener Satellitendaten, eines militäri­schen Lagezentrums und eigenen "nachrichtendienstlichen" Arbeitsein­heit" wird die WEU mit "Aufklärungskapazitäten" ausgestattet. Seit 1992 arbeitet die WEU-Planungs­zelle an Einsatzszenarien.

Die "Europäische Rüstungsagentur", die sich mit Rüstungsbeschaffung und -pla­nung beschäftigen soll, nimmt ebenfalls Gestalt an. Diese Agentur wird als WEU-Organ im Institutionenrahmen der EU/WEU angesiedelt sein.

Die letzten WEU-Manöver und die Su­che der WEU-Planungszelle nach der "Rolle der WEU in Evakuierungsopera­tionen" lassen den Schluss zu, daß sich das westeuropäische Militärbündnis auf sogenannte "low intensity warfare" - Kriege mit niedrigem Gewaltniveau - vorbereitet, analysieren die antimilita­rismus informationen (ami 7-8/95).

Befreiungskriege a la Bosnien, Rwanda und Somalia stehen offensichtlich am Zielkatalog der WEU-Strategen.

aus: ZAM 6/95

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