Verliert die Sowjetunion heute den zweiten Weltkrieg?

von Wjatscheslaw Daschitschew

 

"Auf einen Schlag wurde die gesamte geopolitische Architektur Europas zerschlagen, für deren Aufbau die UdSSR einen enormen Preis gezahlt hat. Das innereuropäische Kräftegleichtgewicht wurde verletzt, was unab­sehbare Folgen hat. Die sentimentale Theorie, Europa sei unser aller Haus, hat zum Zusammenbruch der kommunistischen Parteien  Osteuro­pas, zum Wechsel der Staatsgewalt, zur unvermeidlichen Vereinigung Deutschlands geführt. Am Ausgang des 20.Jahrhunderts wird im Zentrum Europas ein energiegeladener, von pangermanischem Geist erfüllter deutscher Industriegigant erstehen, der den angestammten germani­schen Boden in sein Gravitationsfeld einbeziehen wird. Die politische Karte Europas wechselt ihre Farben und Konturen, und die Gebeine rus­sischer Infanteristen bäumen sich in ihren unbekannten Massengräbern auf."

So zu lesen in dem Artikel A. Procha­nows "Die Tragödie des Zentralismus" (Li­teraturnaja Rossija", Nr. 1/1990). Dies alles haben uns die Perestroika, das neue Denken und die "Zerschla­gung des Zentralismus" durch die Pe­restroika eingetragen. Anklagen dieser Art werden zu häufig und zu ernsthaft geäußert, als daß man sie übergehen dürfte.

 

Frage Nummer eins:

Haben die "geopolitische Architektur Osteuropas" (errichtet, wie erinnerlich, von Stalin und seinen Gefolgsmän­nern, die die Zementierung der sowje­tischen Herrschaft in Ost- und Mit­teleuropa zum Eckpfeiler ihrer Euro­papolitik gemacht hatten) den natio­nalen Interessen der UdSSR entspro­chen? Darauf kann es meines Erach­tens nur eine Antwort geben. Diese Architektur und dieses Gleichgewicht hätte sich, würden sie heute nicht all­mählich in die Vergangenheit versin­ken, letztlich unheilvoll für die So­wjetunion ausgewirkt, da sie  ge­zwungen hätten, sich weiter der verei­nigten Front aller westlichen Mächte mit ihrer riesigen wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen öberle­genheit entgegenzustellen. Und genau das haben wir 40 Jahre lang getan. Das Ergebnis: Mitte der 80er Jahre befand sich die Sowjetunion in einer so kom­plizierten internationalen Situation, wie sie  wohl seit dem 22. Juni 1941 nicht mehr erlebt hat. Diese Konfron­tation, die die Welt nicht nur einmal an den Rand eines Krieges gedrängt hat, hat die sowjetische Wirtschaft rui­niert und ist für unsere jetzigen Mise­ren nicht weniger verantwortlich als das berühmtberüchtigte administrative Kommandosystem.

Das waren die Früchte des tolpatschi­gen Verhaltens in der Außenpolitik und des verqueren Verständnisses un­serer nationalen Interessen. Die Re­alitäten - nicht nur die internationalen, sondern auch unsere - erforderten da­her die Demontage der Stalinschen "geo­politischen Architektur Osteuro­pas", den Verzicht auf den Hegemo­nieanspruch in dieser Region, die öberwindung des "imperialen Den­kens". Was unsere Außenpolitik auch in Angriff genommen hat. Zum Wohl unseres Volkes wie aller anderen Völ­ker Europas.

 

Frage Nummer zwei:

Hätte sich der Status quo im Nach­kriegseuropa bewahren und zementie­ren lassen, wie es das Hauptziel der Stalin- und Breschnewführung war? Für einen bestimmten Zeitraum ja. Vorausgesetzt die Bereitschaft, die Folgen hinzunehmen. Diese Folgen aber sammelten sich seit landgem an.

Die zwei Trumpfkarten dieser Politik waren die militärische Stärke und der nach Osteuropa exportierte bürokrati­sche Pseudosozialismus. Ein riesiges Heer mußte unterhalten, die sowjeti­sche Wirtschaft und das öffentliche Bewußtsein militarisiert werden. Die UdSSR wurde zum Buhmann Euro­pas. Alles geschah, um die Osteuropa aufgezwungene Ordnung für alle Zei­ten zu konservieren. Jeder Versuch, aus dieser Ordnung auszuscheren, wurde erbarmungslos niedergeschla­gen. Allmählich verwandelte sich die UdSSR in den Augen der osteuropäi­schen Völker vom Befreier von der fa­schistischen Tyrannei in eine ausge­macht konservative Kraft, die deren freie Entwicklung behinderte. Sie as­soziierten den "Sozialismus" Stalins - nicht unbegründet - mit der Knechtung des einzelnen, mit materieller und gei­stiger Hinfälligkeit, mit niedriger Pro­duktionsleistung, wirtschaftlicher und technologischer Rückständigkeit, Auflösung von Moral und Sitte, mit dem Despotismus einer Person oder einer Parteioligarchie, mit Gesetzlo­sigkeit und ungehemmter Willkür.

Die Sowjetunion, die sich selbst in der gleichen Lage befand, verlor in Osteu­ropa zunehmend an politischem, ideologischem und wirtschaftlichem Einfluß. Die Großmacht, die einst we­gen ihres Beitrags zur Befreiung dieser Völker vom Hitlerfaschismus deren Sympathien besaß und sich, allerdings vorübergehend, eines hohen Ansehens erfreute, verwandelte sich in ihren Au­gen in ein gieriges Monstrum. Deshalb mußte der Status quo der Nachkriegs­zeit untergehen. Mit, wie ich wieder­holen will, für unser Land unabsehba­ren Folgen.

 

Frage Nummer drei:

Sind die Folgen der "Zerschlagung des innereuropäischen Kräftegleichge­wichts", die man heute an die Wand malt, wirklich so unwägbar?

Man weiß, daß der Status quo im Nachkriegseuropa erstens auf der Spaltung Europas und Deutschlands fußte, zweitens auf der Konfrontation der beiden militärpolitischen und öko­nomischen Blöcke, drittens auf den Gegensätzen der westlichen Demo­kratie und des östlichen Totalitaris­mus. Sein Merkmal war die Unverein­barkeit der Wirtschaftsstrukturen West Westeuropas mit der bürokrati­schen Kommandowirtschaft Osteuro­pas, die kaum zu überwindende Schranken für die Wirtschaftszusam­menarbeit zwischen den beiden Teilen des Kontinents errichtete. Das war eine widernatürliche Situation, die ausschließlich auf Gewalt, auf dem Gleichgewicht der Angst vor einem Nuklearkrieg beruhte. Diese Situation war, wie ich es sehe wesentlich gefähr­licher, als unter dem Vertrag von Ver­sailles. Verlierer waren alle. Auch die Sowjetunion. Vielleicht sogar der größte.

Inzwischen ist die Lage in einem grundlegenden Wandel begriffen. Es wäre meinerseits unserös, behaupten zu wollen, die Zukunft Europas werde unter einem qualitativ neuen Status quo wolkenloser und keiner Bedro­hung ausgesetzt sein. Aber die Pe­restroika in der UdSSR und die revo­lutionären Veränderungen in Osteu­ropa, die letztlich zur öberwindung der Spaltung des Kontinents auf der Grundlage gesamteuropäischer Werte (in­klusive derer, die durch sozialisti­sches Denken und Handeln gesammelt wurden) und gesamteuropäischer In­stitut führen wird, sollte den Faktor der Unwägbarkeit entschieden und bedeutend die Wägbarkeit der Folgen aus einer gewandelten europäischen und - weitgefaßt - Weltpolitik. Schon heute darf man ungeniert Einigung und Zusammenarbeit statt Spaltung und Feindschaft, Interessenausgleich statt Gleichgewicht der Angst, Sicher­heit aller Staaten statt Sicherheit der Blöcke, freie Entwicklung und Tole­ranz statt Hegemonismus und poli­tisch-ideologischem Sendungsbewußt­sein prognostizieren.

 

Frage Nummer vier:

Sollte man die "unvermeidliche Ver­einigung Deutschlands" fürchten? Ist ein Aufleben des für Europa gefährli­chen Pangermanismus möglich?

Zu einer der Fragen möchte ich daran erinnern, daß die von den Sieger­mächten des zweiten Weltkrieges vor­genommene geostrategische Spaltung Deutschlands negative Folgen für die nationalen Interessen der Sowjetunion hatte. Dazu gehören unmittelbar die Gründung von NATO und War­schauer Pakt, der Kalte Krieg und die gefährliche militärische Konfrontation, die unser Land ausblutete. Jetzt dage­gen entsteht die Chance, aus dieser Situation herauszukommen, den Schlußpunkt hinter den Kalten Krieg zu setzten. Der Weg dorthin führt auch über die Wiederherstellung eines einheitlichen deutschen Staates, wenn die Völker der DDR und der Bundes­republik Deutschland in dieser Frage einen Konsens erzielen und wenn die Vereinigung keine Gefahren für die europäische Sicherheit schafft.

Der Pangermanismus? Nach allem, was sich infolge der nationalen Kata­strophe, in die der Hitlerfaschismus die Deutschen gestürzt hat, in deren Bewußtsein vollzogen hat, kann er, wie ich denke, nicht wieder zu einer in der deutschen Politik relevanten Kraft werden. Wecken und stimulieren könnte ihn eher die fortgesetzte Spal­tung der Deutschen Nation. Von die­sem Standpunkt könnte die Fortset­zung des Kurses auf eine künstliche, ausschließlich auf äußere Gewalt ba­sierenden Struktur zweier deutscher Staaten meiner Ansicht nach eine ernstliche Bedrohung für die allge­meine Sicherheit in Europa bergen.

Der Pangermanismus kann, so glaube ich, auch deshalb nicht aufs Banner der deutschen Politik geschrieben werden, weil seine Rückkehr auf den historischen Schauplatz in Anbetracht der bisherigen Erfahrungen den Schulterschluß aller anderen, an der Sicherheit des Kontinents interessier­ten europäischen Staaten auslösen müßte.

 

 

Schließlich Frage Nummer fünf:

Zu den "russischen Infanteristen" in den "unbekannten Massengräbern". Rußland hatte wirklich die schlimmste Last des Großen Vaterländischen Krieges zu tragen. Aber hatte der Kriegsbrand nicht auch andere Völker und Nationalitäten der Sowjetunion überzogen? Und haben unsere Solda­ten etwa dafür gekämpft und ihr Le­ben gelassen, daß in Osteuropa die "geo­politische Architektur" des Stali­nismus errichtet wird? Sie marschier­ten gen Westen und fielen fern von Ih­rer Heimat im Namen der Ausrottung des Faschismus, im Namen der Ret­tung des sowjetischen Volkes vor Hit­lers Versklavung, im Namen der Frei­heit aller Völker Europas.

Was Stalin und seine Mannschaft aus dem Sieg gemacht haben, ist etwas an­deres. Und nicht wir, die wir unser Land jetzt von der Hinterlassenschaft des Stalinismus säubern, sollten einer "Ar­chitektur" nachtrauern, die heute von anderen Völkern, unserem Bei­spiel folgend, abgetragen wird.

Dieser Artikel wurde aus Moskau News, Nr.3/März 1990 entnommen.

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Prof. Wjatscheslaw Daschitschew ist deutschlandpolitischer Berater von Präsident Gorbatschow.