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Von Afghanistan ins Baltikum
Verschiebung der Einsatzszenarien der Bundeswehr
vonDer folgende Text entstand vor dem NATO-Gipfel in Madrid und einer Entscheidung der Bundesregierung zur Fortführung oder Beendigung des Auslandseinsatzes in Mali. Auch wenn die Ereignisse sich momentan überschlagen, zeigt er den Weg auf, der bereits seit Jahren zu den aktuellen Entwicklungen von Bundeswehr und NATO geführt hat.
Im August 2021 zogen die NATO und damit auch die Bundeswehr Hals über Kopf aus Afghanistan ab. Mit diesem Rückzug endete nicht nur ein fast 20 Jahre andauernder Kriegseinsatz der Bundeswehr, sondern eine ganze Phase, die von sogenannten Auslandseinsätzen geprägt war. Seit Mitte der 1990er Jahre zielten sämtliche Reformen der Bundeswehr darauf ab, die Truppe einerseits nach neoliberalen Gesichtspunkten effizienter und kostengünstiger zu machen und sie zugleich optimal auf diese Form der Besatzungs-, Aufstandsbekämpfungs- und Kriegsmissionen in der europäischen Peripherie und auf anderen Kontinenten auszurichten. Diese Ära der Auslandseinsätze endete spätestens mit dem Abzug der NATO aus Afghanistan im letzten Jahr. Aktuell steht sogar zur Debatte, die Bundeswehr auch aus dem aktuell größten Auslandseinsatz in Mali abzuziehen.
Das Einsatzführungskommando der Bundeswehr, dass nicht zufällig im Sommer 2001, nach dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien und vor dem Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan in Schwielowsee bei Potsdam aufgestellt wurde, blieb weiter voll beschäftigt. Der Fokus von NATO und Bundeswehr hat sich zwischen 2014 und 2022 schrittweise verschoben. Zu Beginn noch hinter vorgehaltener Hand geht es mittlerweile wieder auf großen Bühnen darum, Truppen entlang der Ostgrenze der NATO zu stationieren und sich für einen potenziellen Krieg der NATO mit Russland zu rüsten.
Neuer Fokus der NATO
Anfang September 2014 trafen sich die Staats- und Regierungschefs der NATO zu einem Gipfel in Wales. Bereits damals wurde das zum Jahreswechsel 2014/15 geplante Ende des „Kampfeinsatzes” (ISAF) der NATO in Afghanistan durch den Krieg in der Ukraine überschattet. Während des vom damaligen NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen als „historisch" bezeichneten Gipfel fiel die Entscheidung, erstmals seit 1990 wieder neue NATO-Eingreiftruppen für mögliche Kampfeinsätze in Europa aufzustellen. Die NATO Response Force (NRF) wurde von 13.000 auf 40.000 Soldat*innen aufgestockt. Einen Teil der neuen NRF ist darauf ausgerichtet, als besonders schnelle Eingreiftruppe (Very High Readiness Joint Task Force/ VJTF) innerhalb von Tagen einsatzbereit zu sein.
Auf dem NATO-Gipfel in Warschau 2016 setzten sich einige der osteuropäischen Staaten mit ihrer Forderung durch, Bündnistruppen in ihren Länder und damit entlang der Grenze zu Russland und Belarus zu stationieren. Im Rahmen der verstärkten Vornepräsenz (Enhanced Forward Presence/ eFP) sollten vier NATO-Battlegroups mit jeweils 1.000 bis 1.500 Soldat*innen im Rotationsverfahren in Estland, Lettland, Litauen und Polen stationiert werden.
Im Zuge ihres Gipfeltreffens 2018 verständigten sich EU und NATO darauf, gemeinsam den Bereich „Military Mobility”, also die Vorbereitung der Verkehrsinfrastruktur für Militärtransporte in Europa, auszubauen. Zur Koordination des „rückwärtigen Raumes” in Europa wurde zudem die Einrichtung eines neuen NATO-Kommandos in Ulm beschlossen. Das Joint Support and Enabling Command (JSEC) ist seit Ende 2021 damit beschäftigt, die Logistik für Truppenbewegungen in Europa zu koordinieren und somit die reibungslose Verlegung vom Atlantik bis an die Ostflanke sicherzustellen.
Bundeswehr an die Ostflanke
Bereits wenige Monate nach dem NATO-Gipfel in Wales führte die Bundeswehr die erste VJTF an, die im Juni 2015 nach einem Manöver in Polen für einsatzbereit erklärt wurde.
Auf starke Kritik in der Öffentlichkeit, in der die Bundeswehr als Schrotthaufen bezeichnet wurde und die Umsetzbarkeit der neuen NATO-Aufgaben massiv bezweifelt wurde, antwortete die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Anfang 2016 mit einem Reformpaket. Die drei Trendwenden Material, Personal und Finanzen sollten dazu führen, dass die Truppe eine moderne „Vollausstattung" erhält und von unter 180.000 auf knapp 200.000 Soldat*innen anwächst. Um diese Pläne finanzieren zu können, wurde “für den Zeitraum 2016 bis 2030 einen Investitionsbedarf von 130 Milliarden Euro” ausgemacht. Die Zeichen standen wieder auf Aufrüstung.
Im Januar 2017 trafen die ersten deutschen Soldat*innen für die eFP-Battlegroup in Litauen ein. Seitdem führt je ein deutsches Bataillon im halbjährlichen Wechsel die dortigen NATO-Truppen an. Zudem entsendet die Luftwaffe regelmäßig Kampfjets zur Luftraumüberwachung über Estland.
Neue Strukturen für neue Aufträge
Um die Truppe für diesen neuen Auftrag, die NATO-Präsenz in Osteuropa, neu auszurichten, tagten 2017 in Generalsstuben und Ministerium mehrere Arbeitsgruppen. Ein nicht-öffentliches Papier von General Erhart Bühler, damals Leiter der Planungsabteilung im Verteidigungsministerium, sprach nicht mehr von Einsatzkontingenten, sondern von Brigaden und Divisionen und damit von zehntausenden Soldat*innen, die in einem Zeitraum von 2026 bis 2031 einsatzbereit gemacht werden müssten. Diese Kehrtwende in der Truppenplanung (1) kommentiert die FAZ in zwei Texten im April 2017 wie folgt: „Damit würden die Divisionen wieder die klassische Struktur aus der Zeit vor 1990 einnehmen.“ Das bedeutete „eine Abkehr von der bisherigen Struktur des Heeres, die stark von Auslandseinsätzen wie in Afghanistan geprägt” waren.
Eine weitere Arbeitsgruppe im Kommando Heer unter Führung von General Frank Leidenberger veröffentlichte ein Thesenpapier mit dem Titel: „Wie kämpfen Landstreitkräfte künftig?” (2)
Entsprechend der damaligen Linie, also ohne Nennung des offensichtlichen Feindes, wurde dort in einem fiktiven Szenario im Jahr 2026.ein Landkrieg der Bundeswehr mit Russland um die Kontrolle im Baltikum durchgespielt.
Im Juli 2018 wurden die Überlegungen der Generäle und die Realität im Baltikum amtlich bestätigt. In der vom Verteidigungsministerium herausgegebenen Konzeption der Bundeswehr heißt es: „Die Bundeswehr muss […] in der Lage sein, zur kollektiven Bündnisverteidigung in allen Dimensionen mit kurzem Vorlauf, mit umfassenden Fähigkeiten bis hin zu kampfkräftigen Großverbänden innerhalb und auch am Rande des Bündnisgebietes eingesetzt zu werden.“
Davon ausgehend folgte kurz auf die Konzeption auch ein Fähigkeitsprofil der Bundeswehr. (3) Dieses neuartige, nicht öffentliche Dokument sollte ausbuchstabieren, welche Strukturen, Rüstungsgüter und Truppenstärke die Bundeswehr für ihren neuen Auftrag braucht. In den wenigen öffentlichen Teilen des Fähigkeitsprofils werden "Internationales Krisenmanagement" (Auslandseinsätze) und "Landes- und Bündnisverteidigung" (potenzieller Krieg mit Russland) als gleichwertige Aufgabenfelder der Bundeswehr bezeichnet. Die Struktur der Truppe sollte allerdings auf Einsätze zur Landes- und Bündnisverteidigung ausgerichtet werden. Daraus ergab sich: Über die drei Zwischenziele 2023, 2027 und 2031 sollen insgesamt drei Heeresdivisionen (50-60.000 Soldat*innen), vier multinationale Fliegergeschwader, 25 Kriegsschiffe, acht U-Boote sowie Einheiten zur Cyberkriegsführung, Spezialkräfte und Weltraumkapazitäten materiell ausgestattet und kriegstauglich ausgebildet werden. Im nächsten Jahr wird die Bundeswehr erneut die Speerspitze der NATO anführen und mit der dafür bereitgestellten Brigade (5.000) das Zwischenziel 2023 weitestgehend erreichen.
Kriegsbereitschaft
In der 2020 veröffentlichten Broschüre „Auftrag Landes- und Bündnisverteidigung” (4) heißt es zum Thema Erziehung, Ausbildung und Übung: „Die Erziehung und Ausbildung für Landes- und Bündnisverteidigung richtet sich daher an den Erfordernissen aus, die ein hochintensiver, lang andauernder Krieg unter widrigen Rahmen- und Umweltbedingungen mit sich bringt.” Welche Konsequenzen diese materielle und mentale Aufrüstungslogik haben kann, ist den Planer*innen im Verteidigungsministerium durchaus bewusst. Aus derselben Broschüre: „Durch seine geografische Lage mitten im europäischen NATO-Gebiet ist Deutschland als Drehscheibe alliierter Truppenbewegungen und rückwärtiger Operationsraum potenzielles Angriffsziel.”
Mit der Ende Februar von Kanzler Olaf Scholz angekündigten „Zeitenwende" wird der bereits eingeschlagene Kurs der Kriegsvorbereitung konsequent fortgesetzt und beschleunigt. Das 100 Milliarden Sondervermögen ermöglicht es, die Waffen einzukaufen, die seit dem Fähigkeitsprofil 2018 bereits auf dem Wunschzettel standen. Während die Aufrüstungsmaschinerie anläuft, stockt allerdings die Rekrutierung und die Zahl der Kriegsdienstverweigerer*innen nimmt zu. Selbst bei bundeswehraffinen Jugendlichen und unter aktiven Soldat*innen scheinen die düsteren aktuellen Einsatzszenarien nicht auf übertriebene Gegenliebe zu stoßen. Die Perspektive, zu den vom Sanitätsdienst für einen tatsächlichen Kriegsfall errechneten vier Prozent „Ausfällen" am Tag zu gehören, widerspricht dem Werbeimage vom sicheren Arbeitsplatz bei der Bundeswehr wohl doch zu drastisch.
Anmerkungen
1 https://www.imi-online.de/2017/05/08/buehler-papier/
2 https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-MK-Szenario.pdf
3 https://www.imi-online.de/2018/12/10/konzeption-und-faehigkeitsprofil-bu...
4 https://www.bundeswehr.de/resource/blob/5031820/8bcff03f523a3962a028ef20...