Buchbesprechung Edgar Morin

„Von Krieg zu Krieg“

von Christine Schweitzer
Hintergrund
Hintergrund

Edgar Morin ist ein französischer Philosoph und Soziologe, der im französischen und angelsächsischen Raum deutlich bekannter ist als bei uns. Er hat eine Philosophie der Komplexität naturwissenschaftlichen Wissens entwickelt; eine Perspektive, die sich auch immer wieder in seinen politischen Schriften niederschlägt. Er spricht gerne von einer „Ökologie des Handelns“: „Jede Handlung ist Teil eines Spiels von Wechselwirkungen und Rückkopplungen, die die Richtung der Handlung verändern oder diese sogar umkehren können, sodass sie auf den Handelnden zurückfällt.“ (S. 67). Im Alter von 101 Jahren hat er die Schrift „Von Krieg zu Krieg“ verfasst. Gemeint ist die Zeit vom Zweiten Weltkrieg, in dem er Mitglied der Résistance war, bis zum Ukrainekrieg. Die beiden österreichischen Friedensforscher Werner Wintersteiner und Wilfried Graf haben das Büchlein übersetzt und mit einem ausführlichen Vorwort versehen.

Jeder Krieg, so weiß Morin aus eigener Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, bringt „Verbrechen mit sich, … Manichäismus, einseitige Propaganda, Kriegshysterie, Spionage, Lügen, die Herstellung immer tödlicherer Waffen, Irrtümer und Illusionen, Unerwartetes und Überraschendes.“ (S. 72). Für deutsche Leser*innen vielleicht frappierend, weil sie Tabus im deutschen Narrativ übertritt, ist seine schonungslose Verurteilung von Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg auf allen Seiten, auch der Seite der westlichen Alliierten mit den Bombenangriffen auf deutsche Städte und der Sowjetunion unter Stalin mit ihren Gulags. Er schreibt: „Erst viel später – seit der Invasion der Ukraine – wurde mir die Barbarei der Bombenangriffe bewusst, die im Namen der Zivilisation gegen die Nazi-Barbarei durchgeführt wurden. Während die Generationen, die den Krieg nicht erlebt haben, zu Recht über die Fernsehbilder von zerstörten Häusern und ermordeten Zivilist*innen in der Ukraine entsetzt sind, erinnere ich mich an die massivsten Zerstörungen und Massaker, die von unseren eigenen Leuten, insbesondere von den Amerikanern, begangen wurden.“ (S. 23-24)

Morin unterscheidet okkasionelle Kriegsverbrechen (durch Einzelpersonen ohne Befehl „von oben“), strukturelle Kriegsverbrechen (angeordnet durch Offiziere) und systemische Kriegsverbrechen (Teil einer Strategie der Kriegsführung). Die Nazis begingen alle drei, doch auch die Bombardierungen deutscher Städte ordnet Morin als systemische Kriegsverbrechen ein.

In seinem Rückblick, um die verschiedenen Phänomene, die Krieg hervorbringt, zu beschreiben (s. das erste Zitat oben), beschränkt sich der Autor aber nicht nur auf den Zweiten Weltkrieg. Auch der Erste Weltkrieg mit seiner massiven Kriegspropaganda, der Algerienkrieg, die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und der israelisch-palästinensische Konflikt finden Erwähnung.

Interessant sind auch seine Überlegungen zu den „Überraschungen des Unerwarteten“ (S. 62 ff). Alle wichtigsten Ereignisse des letzten Jahrhunderts seien unerwartet gewesen, vom Sieg des Bolschewismus in Russland über den Ersten Weltkrieg, den Franco-Putsch in Spanien, der den Spanischen Bürgerkrieg auslöste, den Hitler-Stalin-Pakt bis zur Kuba-Krise und vielen weiteren wichtigen Daten des 20. Jahrhunderts.

Der Ukraine-Krieg, so Morin, entgeht nicht der Logik der ihm vorher gegangenen Kriege. Man könne ihn nicht von seiner Vorgeschichte, seinen historischen und geopolitischen Zusammenhängen und „erst recht nicht von den Beziehungen zwischen den USA und Russland“ trennen. (S. 74) Russland wie die USA hätten eine Geschichte der Kolonialisierung in ihren eigenen Territorien gemein; erst nach 1989 befreiten sich viele der sowjetischen Protektorate, zu denen auch die Ukraine gehörte. Doch die Beziehungen zwischen den USA und Russlands seien dialektisch, jeder fühlt sich vom Anderen bedroht.

Morin sieht drei Dimensionen dieses Kriegs, dessen Vorgeschichte er mit einigen Details, die hier ausgelassen werden sollen, beschreibt: „… die Fortsetzung des internen Krieges zwischen der ukrainischen Regierung und den separatistischen Provinzen, den russisch-ukrainischen Krieg und einen internationalisierten antirussischen politisch- wirtschaftlichen Krieg des Westens, der von den USA angeführt wird.“ (S. 99)

Morin warnt eindringlich vor den möglichen Entwicklungen, die der Krieg in der Ukraine noch nehmen könnte. Die Schrift endet mit den Sätzen: „Je mehr der Krieg sich verschärft, desto schwieriger wird der Frieden, aber desto dringender ist er nötig. Vermeiden wir einen Weltkrieg. Er wäre schlimmer als der letzte.“ (S. 112) Dieser Aussage dieses vom Umfang her kleinen, aber vom Inhalt großartigen Buches kann man sich nur anschließen.

Edgar Morin (2023): Von Krieg zu Krieg. Von 1940 bis zur Invasion der Ukraine. Herausgegeben von Werner Wintersteiner und Wilfried Graf, Aus dem Französischen von Werner Wintersteiner, Wien: Turia und Kant, 120 S., ISBN 978-3-98514-075-6,  € 14,-

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.