Von Oslo nach Gaza: Friedenspläne und Kriegsszenarien im Palästinakonflikt

von Margret Johannsen

"Gesetzlosigkeit", so charakterisierte der palästinensische Ministerpräsident Achmed Qurai die Lage in den besetzten Gebieten zur Jahresmitte 2004. Vor allem über die Zukunft des Gazastreifens ist ein Konflikt entbrannt, der sich an mehreren Fronten abspielt. Der israelische Ministerpräsidenten Ariel Scharon beabsichtigt, ihn bis Ende 2005 zu räumen. Aber bis das Militär und die Siedler tatsächlich abziehen, signalisieren die Militäroffensiven der israelischen Armee, dass sie den Streifen als Sieger zu verlassen gedenkt.

Die palästinensischen Milizen wiederum scheinen entschlossen, den Abzug als Niederlage Israels und ihren Anteil daran in die Annalen der Intifada eingehen zu lassen und waren bisher nicht bereit, sich auf eine Waffenruhe zu verständigen. Der Sicherheitsapparat der Autonomiebehörde ist außerstande, den Kämpfern Einhalt zu gebieten. Die Konkurrenz verschiedener bewaffneter Gruppen um Mitwirkung bei der Gestaltung der Zukunft bzw. ihren Anteil an künftigen Positionen und Ressourcen führt dazu, dass ihre Angriffe nicht länger allein der Okkupationsmacht gelten, sondern auch dem eigenen Herrschaftsapparat. Loyale Gefolgsleute Arafats werden ebenso attackiert wie Einrichtungen der Autonomiebehörde. Dass allerdings die israelische Regierung diese Situation als Beweis für die Behauptung anführt, es gebe niemanden auf palästinensischer Seite, mit dem man verhandeln könne, ist blanker Zynismus. Denn der Zusammenbruch des palästinensischen Sicherheitsapparates ist in erster Linie eine Folge der israelischen Angriffe, und in den Augen der Palästinenser hat die Autonomiebehörde nicht nur an Glaubwürdigkeit eingebüßt, weil ihr Korruption vorgeworfen wird, sondern in erster Linie, weil ihr Verhandlungskurs gescheitert ist - daran aber trägt Israel ein gerüttelt Maß Mitschuld.

Kaum jemand unter den Palästinensern glaubt, dass einer der vielen Pläne, die sich inzwischen in den Regalender Diplomaten stapeln, ihnen einen eigenen Staat und Frieden bringt. Auch an Scharons Rückzugsplan glaubt nur eine Minderheit von 24 Prozent. Die palästinensische Autonomiebehörde klammert sich an die Road Map des Nahost-Quartetts und interpretiert den israelischen Abzug aus Gaza als Implementierung der geforderten Räumung palästinensischer Gebiete, der weitere Schritte folgen müssten - über die laut Scharon ebenfalls geplante Evakuierung vier isolierter jüdischer Siedlungen im Norden der Westbank hinaus. Dass sie die Road Map hochhält, ist verständlich - was hat sie auch sonst! Ob dieser Plan allerdings den Weg zu einem tragfähigen Friedensschluss weist, ist mehr als zweifelhaft.

Road Map: Wegweiser in die Sackgasse
Die Erwartungen des Nahost-Quartetts hat die Road Map jedenfalls nicht erfüllt. Es hatte sich am 20. Dezember 2002 auf einen Plan geeinigt, der den Konfliktparteien innerhalb von drei Jahren den Weg zum Frieden weisen sollte. DasDokument wurde ihnen am 30. April 2003 offiziell überreicht. Ein Jahr später war die Lage unverändert - nur gab es 700 weitere Tote zu beklagen. 2005 wird vermutlich nicht als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem der Dauerkonflikt endete.

Anders als die Oslo-Verträge nennt die Road Map ausdrücklich die Zwei-Staaten-Lösung als Ziel. Das ist ein Vorzug, boten die ergebnisoffenen Vereinbarungen von Oslo doch einst die Möglichkeit, die Augen vor der Logik des Prozesses zuverschließen. Überdies verlangt die Road Map den Konfliktparteien Leistungen ohne Vorbedingungen ab. Auch das ist begrüßenswert, denn Vorbedingungen haben in der Vergangenheit allzu oft den politischen Prozess blockiert. Die Road Map repräsentiert den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den Konfliktparteien wie auch zwischen den Mitgliedern des Quartetts. Der Konsens war aber nur um den Preis gravierender Mängel erreichbar, was Verbindlichkeit des Kalenders, Klarheit der Zielvorgaben, Eindeutigkeit der Sprache und Durchsetzungswillen des Quartetts angeht. Vermutlich wird die Road Map darum das gleiche Schicksal wie ihre Vorgänger ereilen.

Der Zermürbungskrieg ging jedenfalls weiter. Die palästinensische Autonomiebehörde, die Widerstand fürchtete, wenn sie versuchen würde, die militanten Gruppen auf die vagen Versprechungen der Road Map hin zu entwaffnen, bemühte sich stattdessen, mit ihnen eine Waffenruhe zu vereinbaren, in die sie Israel einzubeziehen hoffte. Die israelische Regierung beharrte indes von Anfang an darauf, dass die Milizen zerschlagen würden, bevor sie ihrerseits bereit wäre, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Solange sah sich Israel berechtigt, die militärischen Operationen, die Blockade der Städte und den Siedlungsbau fortzusetzen. Vor allem trieb es die Errichtung der Sperranlage voran, die Sicherheit vor palästinensischem Terror verspricht. In den Augen der Palästinenser stellt die Mauer hingegen ein Instrument zu weiterem Landraub dar. Ob Israel das monströse Bauwerk nach dem Spruch des Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der es am 7. Juli 2004 für völkerrechtswidrig erklärt hat, wie gefordert tatsächlich abreißt und auf derGrünen Linie wiedererrichtet, ist mehr als zweifelhaft. Denn der Richterspruch ist nicht bindend, und der Sicherheitsrat wird ihn nicht übernehmen - dafür dürfte gegebenenfalls ein amerikanisches Veto sorgen.

Einen Mechanismus um Sabotageversuche zu vereiteln, sieht die Road Map nicht vor. Sie fordert im Gegenteil Störmanöver geradezu heraus. Denn die Feststellung des Quartetts, dass die Parteien ihre Verpflichtungen nicht erfüllen, bedeutet Stillstand auf dem Weg zu einer abschließenden Regelung und belohnt infolgedessen die Obstruktionskräfte. Das Nahost-Quartett sollte darum einen verbindlichen Zeitrahmen für die Konfliktlösung setzen. Dafür muss allerdings über deren Elemente Klarheit bestehen. Über die Kernfragen des Endstatus sollten sofort Verhandlungen beginnen.

Genfer Vereinbarung
Als Bezugsrahmen kann die Genfer Vereinbarung dienen. Politiker und Experten beider Seiten haben diese "Blaupause" für eine Zwei-Staaten-Lösung in der Absicht entwickelt, eine praktikable Friedensvision zu präsentieren, dafür internationale Unterstützung zu mobilisieren und so den Menschen in der Region den Glauben an eine Alternative zu Terror und Militarismus zurückzugeben. Es geht den Autoren - wie auch den Initiatoren von People`s Voice, die in beiden Gesellschaften Unterschriften für die Zwei-Staaten-Lösung sammelt - also um einen "von unten" initiierten Politikwechsel. Eine gesellschaftliche Debatte über die vielbeschworenen "schmerzhaften" Kompromisse zu entfachen, den Obstruktionskräften in beiden Gesellschaften eine aktive Bewegung für pragmatische Regelungen entgegenzusetzen und den politischen Führungen das Mandat zu erteilen, tragfähige Lösungen auszuhandeln - das ist der Weg, den die Initiative einschlägt. Die Genfer Vereinbarung setzt auf internationales Engagement, mit dem die Lösung des Konflikts steht und fällt - bei der Streitschlichtung, der Aufnahme von Flüchtlingskontingenten, der Übernahme von Kosten für deren Ansiedlung und Entschädigung, der Überwachung des israelischen Truppenrückzugs, dem militärischen Schutz des palästinensischen Staates etc. Wenn die Menschen glauben sollen, dass die Staatengemeinschaft ihren Part auch spielen wird, brauchen sie unmissverständliche Signale. Wer die zivilgesellschaftliche Initiative in ihrem Bemühen unterstützt, einen friedenspolitischen Richtungswechsel in Gang zu setzen, gibt zu verstehen, dass er sich seiner Verantwortung stellen wird, wenn ein Vertragswerk vor Ort Realität werden soll. Angesichts der dramatischen Verschlechterung der Lage sind auch die Deutschen gefordert - nicht nur aus eigenem Interesse an Frieden in ihrer Nachbarregion, sondern auch eingedenk ihrer historischen Mitverantwortung für den Palästina-Konflikt. Mit diplomatischer Leisetreterei ist es nicht getan.

Abzug aus Gaza
Ein Vertragswerk aber ist es nicht, was Scharon mit seinem Abzugsplan vorgelegt hat.Aber auch wenn der Plan erklärtermaßen nicht auf einen verhandelten und für beide Seiten akzeptablen Frieden abzielt, so ist doch nicht auszuschließen, dass er Bewegung in die festgefahrene Lage bringt. Der Abzug wird allerdings nur einen Schritt hin zu einer tragfähigen Konfliktlösung darstellen, wenn durchsetzungsfähige internationale Akteure ihn begleiten und überdies verhindern, dass im Gegenzug - wie von Scharon beabsichtigt - die israelische Landnahme in der Westbank zementiert wird. Wenn im Gazastreifen ein Gemeinwesen entsteht, das für Recht und Ordnung sorgen und Angriffe gegen Israel unterbinden kann, besteht die Chance, die Zirkel von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen und die von der Road Map anvisierte Zweistaatlichkeit wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Die Staatengemeinschaft kann diesen Prozess fördern, indem sie der palästinensischen Autonomiebehörde hilft, sich als legitime Führung im Gazastreifen mit breitem Rückhalt in der Bevölkerung zu etablieren. Eine internationale Präsenz würde signalisieren, dass das Quartett über seine Beobachterrolle hinaus bereit ist, substanziell Verantwortung zu übernehmen. Es gibt bei den Palästinensern klare Mehrheiten für eine bewaffnete internationale Truppe, um die ägyptisch-palästinensische Grenze und den internationalen Grenzübergang in Rafah zu sichern und überdies für eine internationale Präsenz, die helfen soll, die Institutionen der Selbstverwaltung,die Wirtschaft und sowie die Infrastruktur wiederaufzubauen.

In die Wiederherstellung einer funktionsfähigen Selbstverwaltung sind kooperationsbereite Strukturen vor Ort einzubeziehen. Wenn die nationalreligiöse Hamas, die nicht nur aufgrund ihres bewaffneten Kampfes, sondern auch wegen ihrer sozialen Dienstleistungen populär ist, ausgeschlossen wird, dürften die Hilfsmaßnahmen ihren Zweck verfehlen, das politische System zu stabilisieren. Eine gleichberechtigte Beteiligung der Hamas wünscht die überwältigende Mehrheit der Palästinenser. Selbst Anhänger der Zwei-Staaten-Lösung, scheinen sie sich von der Hamas-Charta, in der die Organisation sich die Befreiung Palästinas vom Jordan bis zum Mittelmeer auf ihre Fahnen geschrieben hat, nicht abschrecken zu lassen. Vielleicht setzen sie auf den Pragmatismus der Islamischen Widerstandsbewegung. Deren spirituelles Oberhaupt Scheich Achmed Yassin hatte unlängst eingestanden, dass die "Befreiung ganz Palästinas" wohl nur schrittweise möglich sei. Diese Äußerung lag in einer Linie mit wiederholten Erklärungen hoher Funktionsträger seit 1988, dass mit einem Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967 der bewaffnete Kampf beendet sei. Seit dem Tod Yassins sind die gemäßigten Stimmen allerdings vorerst verstummt. Ob die "außergerichtliche Hinrichtung" des Hamas-Führers, wie Menschenrechtler Israels "gezielte Tötungen" nennen, den Konflikt einer politischen Lösung näher bringt, ist mehr als zweifelhaft. Yassin war kraft seiner Autorität als Gründer und geistliches Oberhaupt der Hamas eher als jeder andere in der Lage, die Organisation gegen den Widerstand von Hardlinern in eine konstruktive Kraft in der Selbstverwaltung oder zumindest eine loyale Opposition zu transformieren. Die Liquidierung von Mitgliedern der Führungsriege indes birgt die Gefahr einer Zersplitterung der Bewegung. Wenn die Kontrolle über einzelne Zellen und Aktivisten verloren geht, wird künftig jede Waffenruhe noch schwieriger durchzusetzen sein. Ein Israel "unter Feuer" aber kann sich der schützenden Hand seines Schirmherrn jenseits des Atlantik sicher sein, was immer es auch zu seiner vermeintlichen Sicherheit in denbesetzten Gebieten unternimmt. Vielleicht ist das ja der tiefere Sinn von Scharons Liquidierungspolitik.

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Dr. Margret Johannsen, geb. 1946, Politologin, ist seit 1987 am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) tätig. Ihre dortige Position: Senior Research Fellow, Arbeitsschwerpunkte: Naher und Mittlerer Osten, US-Außenpolitik, Terrorismus, Friedenspädagogik.