Wehrpflicht abschaffen!

von André Lange
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Meist kurz vor Erlangung der Volljährigkeit erhält jeder junge Mann einen unerfreulichen Brief. Er stammt von einer ortsansässigen Erfassungsbehörde und bittet den Adressaten um Vervollständigung, gegebenenfalls auch um Korrektur nachstehender Personaldaten, an sich eine Kleinigkeit.

Schwerwiegender ist da schon die Tatsache, dass dieser Brief eine zur Zeit 10-monatige Zwangsableistung der Wehrpflicht in Aussicht stellt. Für diese Zeit wird man eines Tages von Familie, Partner und Freunden getrennt und in einer Kaserne untergebracht. Dem Volksmund zufolge wird einem hier Ordnung, Disziplin und Bettenmachen beigebracht. Sportliche Ertüchtigungen wie Konditionstraining, Schießen auf Menschenattrappen oder Kampftrinken stehen aber ebenso auf dem Programm, zuerst aber werden noch Tauglichkeit, Eignung und Verfügbarkeit der Betroffenen überprüft. So kann es passieren, dass von der Erfassung bis zur Einberufung einige Zeit vergeht. Wer nicht gerade eine berufliche Perspektive in der Bundeswehr sucht, empfindet die Wehrpflicht regelmäßig als schwerwiegenden Eingriff in die Freiheit.

Überhaupt erst möglich ist dieser massive Eingriff in die Grundrechte aufgrund des Art. 12a des Grundgesetzes. Zur Aufrechterhaltung der Landesverteidigung ist der Bund demnach berechtigt, Männer vom 18. Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften einzuziehen. Art. 12a GG ist damit die Ausnahme von der Regel, denn grundsätzlich darf niemand gegen seinen Willen zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden (Art 12 Abs. 2 GG). Eine allgemeine Dienstpflicht, welcher Art auch immer, ist mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren.

Im Kalten Krieg wurde die Notwendigkeit der Wehrpflicht mit der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Massenarmee durch die militärische Bedrohung der Ostblockstaaten begründet. Seit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes besteht diese Bedrohung aber nicht mehr. Deutschland ist ausschließlich von befreundeten Staaten umgeben und in ein "Verteidigungsbündnis" integriert. Auf Jahrzehnte hinaus ist keine militärische Bedrohung, die die Aufrechterhaltung eines Massenheeres als erforderlich erscheinen lassen könnte, zu erwarten. Es wird immer schwerer vermittelbar, dass jemand gegen seinen Willen zu einem Dienst gezwungen werden soll, der gar nicht notwendig ist.
 

Ein weiteres Kriterium ist die Wehrgerechtigkeit. Auch wenn es zunächst widersprüchlich klingt: Die öffentliche Akzeptanz der Wehrpflicht ist unter anderem davon abhängig, dass möglichst alle Verfügbaren zur Ableistung der Wehrdienstes herangezogen werden. Denn ein Einberufener würde sein Schicksal als besonders belastend empfinden, wenn er feststellt, dass Freunden und Bekannten dieser Eingriff erspart bleibt. Bereits durch die derzeitige Regelung können nicht alle verfügbaren Wehrpflichtigen berücksichtigt werden. Wehrgerechtigkeit existiert somit de facto längst nicht mehr.

Nach den aktuellen Planungen der Bundesregierung wird die Anzahl der Wehrdienstplätze auf etwa 70.000 ab dem Jahr 2002 zusammengestrichen. Zukünftig können demnach jährlich lediglich 117.000 Männer zu einem Dienst in der Bundeswehr herangezogen werden. Da die durchschnittliche Jahrgangsstärke bei 430.000 liegt, kann nur jeder vierte zum Bund. Die Regel, den Wehrdienst ableisten zu müssen, wird offiziell zum Ausnahmedienst im Rahmen der Wehrpflicht. Denn die Wehrgerechtigkeit könnte nur dann gewahrt bleiben, wenn, so das Kriegsministerium, 40 % eines Jahrganges den Kriegsdienst verweigern und Zivildienst leisten. Diese Annahme bedeutet gegenüber dem derzeitigen Hoch eine nochmalige deutliche Steigerung von Kriegsdienstverweigerern. Zukünftig müsste jeder zweite tauglich Gemusterte den Kriegsdienst verweigern. Die Wahrnehmung des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung wird zum Garanten der Wehrgerechtigkeit und damit zur Stütze der Wehrpflicht. Würde die KDV-Quote beim derzeitigen Stand verbleiben, könnten Zehntausende Wehrpflichtige nicht zur Bundeswehr einberufen werden und die Wehrungerechtigkeit würde deutlich zu Tage treten.

Alle Argumente und alle Rufe nach Abschaffung der Wehrpflicht werden von den Entscheidungsträgern immer wieder abgeblockt. Dabei scheint es nicht zu stören, dass der Wehrpflicht inzwischen auch alle rechtlichen Grundlagen entrissen werden.

In jüngster Zeit wird immer wieder auf die "historisch-demokratische" Verankerung der Wehrpflicht hingewiesen. Dass die Wehrpflicht "das legitime Kind der Demokratie" ist, lässt sich historisch nicht belegen. Zwar ließ sie sich in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg in das demokratische System integrieren, dennoch kann man allein daraus keinen Zusammenhang zwischen Demokratie und Wehrpflicht herleiten. Mit gleicher Berechtigung kann man behaupten, die Wehrpflicht stehe in historischer Verbindung mit kommunistischen Systemen, mit nationalistischen Monarchien oder mit totalitären Regimen. Wann immer eine Regierung die Wehrpflicht zur Durchsetzung ihrer Interessen für sinnvoll erachtet hat, hat sie von dieser Möglichkeit auch Gebrauch gemacht. Belegbar ist letztlich nur eine Tradition: Mit der Einführung der Wehrpflicht ist das Zeitalter der Massenvernichtungskriege angebrochen.
Auch das immer wieder angebrachte Argument, durch eine Wehrpflichtigenarmee sei ein Staat vor nach außen wie nach innen gerichteten militärischen Abenteuern sicher, ist historisch nicht haltbar. Gerne denken ihre Befürworter an die Rettungsarbeiten am Oderbruch oder den Einsatz der Bundeswehr bei der Flutkatastrophe in Hamburg im Jahre 1962 zurück, wenn sie die Volksverbundenheit der Bundeswehr hervorheben möchten. Doch die Auffassung, die Volksverbundenheit einer Wehrpflichtigenarmee würde einen Einsatz gegen das Volk oder gegen den Geist des Volkes ausschließen, ist mehrfach widerlegt worden: Es war eine Wehrpflichtigenarmee, die 1849 unter Kronprinz Wilhelm die Demokratiebestrebungen blutig niedergeschlagen hat. Es war eine Wehrpflichtigenarmee, die sich im 1. Weltkrieg von ihren jeweiligen Machthabern in einem erbarmungslosen Gemetzel verheizen ließ. Auch der Vernichtungskrieg der Wehrmacht wurde mit einer Wehrpflichtarmee geführt.

Zur Zeit ist jeder dritte Soldat der Bundeswehr Wehrpflichtiger. Nach Scharpings Plänen wird es nur noch jeder fünfte sein. Demnach wird sich die Personalstruktur noch deutlicher einer Freiwilligenarmee angleichen. Fast unnötig zu betonen, dass sich die für die Kriegseinsätze vorgesehenen "Einsatzkräfte" ausschließlich aus Freiwilligen zusammensetzen. Ohnehin ist den kritischen Befürwortern der Wehrpflicht entgegenzuhalten, dass die Interventionsfähigkeit der Bundeswehr unabhängig von der Wehrpflichtfrage hergestellt wurde und hergestellt wird. Wehrpflichtige behindern den umfassenden Umbau der Bundeswehr zur Interventionsarmee nicht. Trotz Beibehaltung der Wehrpflicht werden "Einsatzkräfte" im Umfang von 150.000 Soldaten geschaffen, die einen einjährigen Einsatz von 50.000 Soldaten außerhalb der Bündnisgrenzen sicherstellen sollen.

Der Grund, warum sich die heutige wie auch die vorherige Regierung mit der Abschaffung der Wehrpflicht derart schwer tun, ist offensichtlich kein militärischer. Das Ende der Wehrpflicht würde auch das Ende des Zivildienstes bedeuten. Wohlfahrts- und Sozialverbände müssten den Verlust von jährlich deutlich mehr als 100.000 Zwangsdienstleistenden kompensieren. Und junge Männer würden nicht mit der demokratiefeindlichen Norm von Zwangsdiensten sozialisiert.

Die Abschaffung der Wehrpflicht von unten, durch entsprechendes Engagement und Verhalten der betroffenen Wehrpflichtigen selbst getragen, ist leider keinen Schritt weiter. Selbst in der aktuellen Debatte um die Zukunft der Wehrpflicht bringen sich die Betroffenen nicht ein. Dabei wäre der Wehrpflicht so einfach wie nie zuvor durch entsprechendes Verhalten ein Ende zu bereiten: Jeder Wehrpflichtige müsste den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung so spät wie möglich stellen. Die Anzahl der Wehrdienstplätze würde bei weitem nicht ausreichen, um jeden der zumindest theoretisch zur Verfügung stehenden Wehrpflichtigen einzuberufen. Die Wehrungerechtigkeit wird offenkundig, das System der allgemeinen Wehrpflicht wird juristisch verfassungswidrig und praktisch lahmgelegt.
 

Kontakt: Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär, (neue Adresse!) Kopenhagener Str. 71, 10437 Berlin, Tel. 030/440130-0, Fax 030/440130-29, e-mail: info [at] kampagne [dot] de, http://www.kampagne.de

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André Lange arbeitet bei der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär (Berlin) mit.