Wehrrechtsänderungsgesetz 2010

von Peter Tobiassen

„Von daher lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht voraussehen, für wie lange wir den heute vorliegenden Gesetzentwurf wirklich in der Praxis umsetzen.“ Mit diesen Worten eröffnete der Verteidigungsminister am 11. Juni 2010 – einem Freitag – die Debatte über das „Wehrrechtsänderungsgesetz 2010“ im Deutschen Bundestag. Der Entwurf sieht vor, dass die Änderungen am 1. Dezember 2010 in Kraft treten sollen. Seit zwei Wochen ist öffentlich bekannt, dass der Verteidigungsminister die Bundeswehr auf 150.000 Soldatinnen und Soldaten verkleinern und die Wehrpflicht aussetzen will.

Am 12. Juni – Samstag – meldeten erste Zeitungen, dass ab dem 1. November 2010 keine Einberufungsbescheide mehr verschickt werden sollen, die Wehrpflicht also zum Jahresende enden soll. Es folgt ein Dementi aus dem Verteidigungsministerium, so recht glauben will dieses Dementi aber niemand mehr.

Sonntagabend, am 13. Juni, ist der Spiegel an den Kiosken. In einem dreiseitigen Interview legt Verteidigungsminister Freiherr zu Guttenberg dar, warum er die Aussetzung der Wehrpflicht für unumgänglich hält.

Montag, 14. Juni, Anhörung von 15 Experten vor dem Verteidigungsausschuss. Der ehemalige Inspekteur des Sanitätsdienstes schildert eindrücklich, dass die Ausbildung eines Sanitätssoldaten sechs Monate dauert und dieser bei einem sechsmonatigen Wehrdienst dann keinen Tag mehr tatsächlich für einen Funktionsdienstposten zur Verfügung steht. Wehrpflichtige seien dann nur noch Belastung und keine Hilfe. Der Bundeswehrverband bestätigt, dass der Sechsmonatswehrdienst 26 Millionen Euro mehr kostet als der neunmonatige Dienst. Diejenigen in der Expertenrunde, die für die Dienstzeitverkürzung sind, sind es nur, weil sie ein Schritt in Richtung der eigentlich geforderten Aussetzung der Wehrpflicht ist.

Am Mittwoch, dem 16. Juni, wird das Gesetz in den Fachausschüssen beraten und am Donnerstag, dem 17. Juni, in zweiter und dritter Lesung im Bundestag beschlossen. Kaum ein Gesetz hat in einem solchen Schweinsgalopp den Bundestag passiert. Am Freitag, dem 18. Juni, legt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages ein Gutachten vor, nach dem das Gesetz der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Die beabsichtigte Entmachtung des Bundesrates – in dem Schwarz-Gelb keine Mehrheit mehr hat – ist also nicht geglückt, und das Gesetz wird am 9. Juli nicht einfach durchgewunken.

Das Gesetz regelt nicht nur die Verkürzung von Wehr- und Zivildienst auf sechs Monate, sondern auch die Option des „freiwilligen zusätzlichen Zivildienstes“. Da der Zivildienst, der nach Artikel 12a Grundgesetz nur Ersatz für ansonsten zu leistenden Grundwehrdienst sein darf, nicht „verlängert“ werden darf, kann nur ein neu erfundenes „öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis“ eingeführt werden, dass sich an den Zivildienst anschließt. Auf diese Weise wird es zukünftig „Bundespflegebeamte“ am Krankenbett und in den Alten- und Behinderteneinrichtungen geben. Die Grundrechte dieser „Bundespflegebeamten“ sollen wie bei Wehr- und Zivildienstleistenden eingeschränkt bleiben, ihre Bezahlung – so jedenfalls die Vorstellung des Familienministeriums – weit unterhalb des gerade ausgehandelten Mindestlohns liegen und das Kündigungsrecht auf die Fälle beschränkt sein, in denen „unvorhergesehene, außergewöhnliche, schicksalhafte und in der Regel existenzgefährdende Veränderungen“ eintreten. Profitieren werden von diesem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis nicht nur die Wohlfahrtsverbände, sondern auch Krankenhauskonzerne wie Fresenius, Paracelsus, Asklepios usw., die Billigstarbeitskräfte mit Handkuss nehmen, weil Dumpinglöhne die Dividenden ihrer Aktionäre kräftig steigen lassen.

Allerdings ist auch klar, dass diese Rechnung gerade auch für die Wohlfahrtsverbände so einfach nicht aufgehen wird. Die Einstellung jedes einzelnen Zivildienstleistenden unterliegt dem Mitbestimmungsrecht der Personal- und Betriebsräte sowie der Mitarbeitervertretungen. Das hat das Bundesarbeitsgericht eindeutig entschieden (BAG, Beschluss vom 19.6.2001 – 1 ABR 25/00). Dieses Mitbestimmungsrecht gilt auch für die Entscheidung, aus einem Zivildienstleistenden nach seinem Dienstende einen „Bundespflegebeamten“ in dem neuen öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zu machen. Während die zusätzlichen Wehrdienst Leistenden über den Wehrdienstzuschlag alle einen Lohnausgleich bis zum Gehalt eines vergleichbaren Zeitsoldaten erhalten, ist das im Zivildienst nur vorgesehen, wenn die Einrichtungen diesen Zuschlag freiwillig zahlen. Es ist also Aufgabe der Betriebs- und Personalräte und Mitarbeitervertretungen, dem zusätzlichen Zivildienst nur zuzustimmen, wenn der Zivildienstzuschlag in voller Höhe (613,50 € ab dem siebten Monat) gezahlt wird.

Sollte – und alle Zeichen deuten darauf hin – der Pflichtwehrdienst Ende dieses Jahres ausgesetzt werden, fällt auch der Pflichtzivildienst weg. Ob dann der „freiwillige (zusätzliche) Wehrdienst“ – eine Einstiegsform für Zeitsoldaten – und das neu geschaffene öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis, über das der Bund sozialen Einrichtungen Personal zur Verfügung stellen kann, bleiben, wird man sehen. Nicht ohne Grund will das Jugendministerium das Zivildienstgesetz im § 2 erweitern: „Dem Bundesamt können auch andere Aufgaben aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend übertragen werden.“ Aus dem Bundesamt für den Zivildienst könnte dann das „Bundesamt für öffentlich-rechtliche Freiwilligendienste“ werden. Für die Träger der jetzigen Freiwilligendienste wird das eine nicht zu unterschätzende Herausforderung.

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Hintergrund
Peter Tobiassen, Sozialarbeiter, arbeitet seit 1978 und noch bis Ende August 2011 als Geschäftsführer in der Zentralstelle KDV.