Die immerwährende Neutralität Österreichs, der Krieg und Möglichkeiten aktiver Friedenspolitik

Werte, Waffen, Wegducken

von Thomas Roithner
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Österreich liefert keine Waffen an die Ukraine und sagt Ja zu Visa für umstrittene russische Diplomat*innen. Warum es dafür zwei Lesarten gibt, das Dazwischen für Bauchweh sorgt und der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, das Beharren auf der Neutralität so gar nicht verstehen mag.

Im Bundesverfassungsgesetz vom 26.10.1955 erklärt Österreich „aus freien Stücken“ seine immerwährende Neutralität. Es verbietet den Beitritt zu militärischen Bündnissen und das Errichten militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf dem eigenen Gebiet. Die Neutralität hat Österreich „mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln“ aufrechtzuerhalten und zu verteidigen. Immerwährend neutral meint völkerrechtlich die Verpflichtung, sich an keinem Krieg zu beteiligen. Unabhängig vom Wer, Wo und Wann.

Der Völkerrechtler Manfred Rotter traf die politische DNA in Österreich, wenn er die Neutralität überspitzt als „Status der generellen Kriegsverweigerung“ zusammenfasst. Manchen ein Dorn im Auge. Österreich ist militärisch neutral, aber niemand verbietet politisches Stellung Beziehen. So ist Österreich auf der Seite der Ukraine und des Völkerrechts. Das Nein zur Kriegsbeteiligung schließt ein Nein zu Waffen oder Soldat*innen an jegliche Kriegsparteien ein. Auch die Ausbildung ukrainischer Soldat*innen am Leopard ist in Wien schlichtweg politisch nicht gewünscht.

Amtssitz

Seit den 1950ern ist eine aktive Amtssitzpolitik innenpolitisch quasi Konsens. Wien beherbergt einen Sitz der UNO, einen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und gut 40 weiterer internationaler Organisationen. Österreich als Verhandlungsort wird innenpolitisch beinahe überschwänglich kultiviert.

Genau ein Jahr nach Beginn der laufenden Kriegsphase fand die Parlamentarische Versammlung der OSZE in Wien statt. Zuständigkeit und Idee der damals 1975 in Helsinki noch als Konferenz zusammentretenden Staaten: gesamteuropäische Sicherheit. Außenminister Alexander Schallenberg spürte eisigen Gegenwind, als er die Visaerteilung an russische Diplomat*innen verteidigte. Schallenberg führte rechtlich seine Verpflichtungen als Amtssitz der OSZE ins Feld. Politisch, dass Russland seine Isolierung vor Augen geführt werden soll. Folgerichtig, denn Schallenberg hatte die Ausladung Russlands anlässlich der OSZE-Tagung in Polen – Austragungsort und nicht Amtssitz – auch kritisch gesehen. Das Argument: Gerade in besonders schwierigen Zeiten braucht es inkludierend wirkende Foren. Keine Illusionen, aber die kleine Lücke zum Dialog nützen.

Wortwechsel oder Wegducken?

Jetzt erlaubt die Position Österreichs mit einem Nein zu direkten Waffenexporten ins Kriegsgebiet und dem Ja zu russischen Diplomatenvisa theoretisch zwei Lesarten. Die eine setzt trotz der Lage auf Dialog, kooperative Organisationen und Sicherheit mit einem Nachbarn, dessen geografische Lage nicht zu ändern ist. Die andere sieht unsolidarisches Wegducken, das insgeheime Schielen auf wirtschaftliche Vorteile und die augenzwinkernde Sympathie mit Autoritärem.

Das Dazwischen wird auch weniger heiß gegessen als gekocht, verursacht aber nicht weniger Bauchweh: Österreich hat sich – wie Irland und Malta – im Zuge der Waffenlieferungen über die EU-„Peace Facility“ konstruktiv der Stimme enthalten. Leitgedanke: Der gemeinsamen EU-Position wegen der Neutralität nicht im Weg stehen. Gleichzeitig macht die Verteidigungsministerin politisch gutes Wetter für Österreich im European Sky Shield. Nur kurz flackerte eine Debatte über EU-„Battle Groups“ auf, geräuschunterdrückt verlief das Mitmachen an umstrittenen EU-Militäreinsätzen und nahezu politische Stille begleiten das militärische Kerneuropa (PESCO) oder den European Defence Funds (EDF). Eigentlich hat sich der immerwährend Neutrale bereits in Friedenszeiten so zu verhalten, dass er im Kriegsfall glaubwürdig neutral verbleiben kann. Der Schauspieler Helmut Qualtinger sagt's allgemein: „Österreich ist ein Labyrinth, in dem sich jeder auskennt.“

Salamitaktik

Österreich ist 1995 der EG beigetreten. Wenig später wurde innerhalb der Regierung aus Sozialdemokratie und Volkspartei eine intensive Debatte über den NATO-Beitritt geführt. Das Ergebnis: Keine NATO, aber alles, was die EU sicherheitspolitisch bietet. Ein Fachkollege scherzte in dieser Zeit: Österreich ist längst in der NATO, aber keiner hat’s bemerkt.

Seither haben die verschiedenen Regierungsparteien viel Routine entwickelt, militärische und rüstungsindustrielle EU-Entwicklung reflexartig als neutralitätskompatibel zu deklarieren. Ohne das Neutralitätsgesetz zu ändern, wurde die Politik drumherum Stück für Stück geschmälert. Die Neutralität erodiert in Salamitaktik. Teilen des politischen Spektrums war die durch das Tempo aus Brüssel nötige „Neutralitätsanpassung“ sehr willkommen, andere gefielen sich im Angesicht des Zeitgeistes im blauen Kleid mit den gelben Sternen besser als im nationalen friedenspolitischen Janker.

Hatte die Volkspartei vor 25 Jahren für einen NATO-Beitritt geworben, so tritt sie heute für die Neutralität auf. Die FPÖ – einst für die NATO – verteidigt die Neutralität gegenwärtig am vehementesten. So wie sich Programme und praktische Außenpolitik unterschieden, so haben parteipolitische Neutralitätsverständnisse zumal auch kurze Halbwertszeiten. Nicht allen Friedensbewegten in Österreich gelingt es heute, sich in ein paar wenigen Sätzen von der FPÖ-Neutralitätsrhetorik inhaltlich unterscheidbar zu machen. Ein Grund liegt auch in der mangelnden sicherheitspolitischen Debatte, wenngleich sich seit den 1990ern zwischen 70 und 85 Prozent für die Neutralität aussprechen. Natürlich liegen jene nicht falsch, die einen kleiner werdenden Restneutralitätswurstzipfel als ausgehöhlt empfinden.

Nützlicher Neutraler

„In Vielfalt geeint“, propagiert die EU. Die letzten Monate sind von einer Verengung der EU-Debatte auf Waffenlieferungen, neue Sanktionen und eigene Aufrüstung geprägt. Wertvoll ist der Neutrale dann, wenn er Dialog ermöglicht. Selbst in den konfrontativsten Zeiten des Kalten Krieges war Wien als Verhandlungsplatz akzeptiert. Glaubwürdig ist der Neutrale, wenn er bei Solidarleistungen an UNO und OSZE deutlich über die unterste Richtschnur springt. Auch wenn das Armeebudget Österreichs massiv aufgestockt wird, regiert in der Außenpolitik der Sparefroh. Österreich hat nicht zuletzt deshalb seit dem EU-Beitritt nur vereinzelt politischen Geländegewinn erzielt.

Wladimir Putin drohte mit Atomwaffen. Die Neutralen in Europa nahmen bei nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung stets eine besondere Rolle ein. Dies drückt sich nicht nur als aktives Engagement für den Atomwaffenverbotsvertrag durch Österreichs Diplomatie aus, sondern auch in Form einer aktiven Amtssitzpolitik (z.B. IAEA, CTBTO) und als Gastgeber von Verhandlungen (z.B. Iran-Gespräche, NewSTART).

Der Weg vom Verhandlungsort und Gastgeber zum Brückenbauer und Vermittler ist fordernd. Dafür fehlen auch die Voraussetzungen, unter anderem eine Verstärkung der Expertise im Außenministerium und eine zu intensivierende Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Kapazitäten und der Zivilgesellschaft. Der aktuelle Weg zum Zivilen Friedensdienst markiert dabei eine Wegmarke. Also warum den neutralen Status innerhalb der EU nicht besser für Dialog einsetzen?

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Thomas Roithner ist Friedensforscher und Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Er arbeitet gemeinsam mit Pete Hämmerle im Rahmen des Internationalen Versöhnungsbundes (Österreichischer Zweig) als Co-Kampagnenleiter für #ZivilerFriedensdienstÖsterreich. www.thomasroithner.at