Erklärung über Zivilen Ungehorsam zu einem Strafverfahren

Ziviler Ungehorsam, gewaltfreie Aktion und rechtsstaatliche Demokratie

von Ulrich Wohland
Hintergrund
Hintergrund

Gewaltfreier Protest in seiner Ausprägung als Ziviler Ungehorsam hat eine lange Tradition. Als Mittel der moralisch-politischen Auseinandersetzung hat er Veränderungen erwirkt, die aus unserer heutigen freiheitlichen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken sind.

Seine Errungenschaften reichen von der Mobilisierung gegen Sklaverei am Beispiel von Henry David Thoreau über den Arbeitskampf in den Geburtswehen der Industrialisierung, das Erstreiten des Frauenwahlrechts in Europa vor 100 Jahren, das Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien durch Gandhis Satyagraha-Philosophie, den Kampf um Bürgerrechte für Afroamerikaner*innen durch Regelbrecher*innen wie Rosa Parks und Martin Luther King, und den Kampf für die Freiheit der sexuellen Orientierung, den mühsamen Weg zur deutschen Energiewende, bis hin zu den friedlichen aber unerlaubten Protesten, die  1989 zur Wiedervereinigung geführt haben. Auch das Handeln eines Martin Luther vor dem Reichstag in Worms, und das von Whistleblowern, die im Informationszeitalter die Öffentlichkeit über dramatisches Unrecht aufklären, kann in diese Reihe gestellt werden.

Viele inzwischen selbstverständliche zivilisatorische Rechte, und ein großer Anteil der Regulierung profitablen, aber gemeinschaftsschädlichen Gebarens, sind nur durch den regelwidrigen initialen Einsatz überzeugter Aktivist*innen ermöglicht worden. Welche dieser Akte rückblickend zum Motor der Geschichte und des gesellschaftlichen Fortschritts wurden, war zum Zeitpunkt ihrer Durchführung immer ungewiss. Den Ausschlag dafür hat letztlich die Reaktion der restlichen Gesellschaft gegeben – eine Reaktion, deren Form durch die juristische Behandlung des Themas maßgeblich beeinflusst wird.

Rechtsphilosophische Einordnung
Jürgen Habermas beschreibt Zivilen Ungehorsam in seiner Schrift „Ziviler Ungehorsam – Testfall für den Rechtsstaat” von 1983 so: „Akte, die ihrer Form nach illegal sind, obwohl sie unter Berufung auf die gemeinsam anerkannten Legitimationsgrundlagen unserer demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung ausgeführt werden.“

Der Rechtsphilosoph John Rawls (1975) gibt drei Bedingungen an, die zusammen solche Handlungen rechtfertigen:

  1. Der Protest muss sich gegen wohl umschriebene Fälle schwerwiegender Ungerechtigkeit richten.
  2. Die Möglichkeiten aussichtsreicher legaler Einflussnahme müssen erschöpft sein.
  3. Die Aktivitäten des Ungehorsams dürfen kein Ausmaß annehmen, welches das Funktionieren der Verfassungsordnung gefährdet.

Beide betonen den symbolischen Charakter solcher direkten Aktionen. Es geht explizit nicht um eine Umgehung der demokratischen Entscheidungsfindung oder einer gemeinsamen wertebasierten Ordnung. Vielmehr geht es um das Einfordern des gesellschaftlichen Blickes auf systemische Schwachstellen, an denen geltende Regelungen und Praxis dem Mehrheitsinteresse oder dem Sinn der Verfassung widersprechen. Ziviler Ungehorsam setzt demzufolge immer in einer Lücke zwischen bereits bestehenden Konzepten von Legalität und Legitimität an. Damit verrichtet er laut Ronald Dworkin eine essentiell wichtige Rolle im lebendigen Verfassungsstaat: „Was prima facie Ungehorsam ist, kann sich, weil Recht und Politik in steter Anpassung und Revision begriffen sind, sehr bald als Schrittmacher für überfällige Korrekturen und Neuerungen erweisen. In diesen Fällen sind zivile Regelverletzungen moralisch begründete Experimente, ohne die sich eine vitale Republik weder ihre Innovationsfähigkeit noch den Legitimationsglauben ihrer Bürger erhalten kann. Wenn die Repräsentativverfassung vor Herausforderungen versagt, die die Interessen aller berühren, muss das Volk in Gestalt seiner Bürger, auch einzelner Bürger, in die originären Rechte des Souveräns eintreten dürfen. Der demokratische Rechtsstaat ist in letzter Instanz auf diesen Hüter der Legitimität angewiesen.“ (1)

Habermas spricht in diesem Zusammenhang auch vom plebiszitären Charakter ungehorsamer Protestformen, die ein institutionelles Versagen zu korrigieren versuchen. Wir haben es hierbei also auch nicht mit einer inhärenten Ablehnung der Normen und des Rechtssystems zu tun, sondern mit einem klar begrenzten und besonnenen Eingriff im Sinne eines moralisch gebotenen Ziels, welches mangels Eingreifens anderer, eigentlich zuständiger Instanzen, verfehlt wird. Ungehorsam dieser Art ist auch kein Infragestellen der öffentlichen Ordnung, sondern im ganz im Gegenteil ein couragierter Versuch, Ungerechtigkeiten und selbst-gefährdende Prozesse innerhalb dieser Ordnung zu beheben und sie so für die Zukunft zu stärken.

Das bedeutet natürlich nicht, dass hehre moralische Motive automatisch die Anwendung geltenden Rechts übertrumpfen können. Schon weil sich gelegentlich verschiedene Bewegungen mit unvereinbaren Zielen auf moralische Motive berufen, bedarf es immer einer kritischen Bewertung solcher Vorstöße – und die Bereitschaft, sich dieser Bewertung zu stellen zeichnet den zivilen Charakter der Vorstöße ja gerade aus. Dazu noch einmal Habermas: „Der zivile Ungehorsam muss zwischen Legitimität und Legalität in der Schwebe bleiben; nur dann signalisiert er die Tatsache, dass der demokratische Rechtsstaat mit seinen legitimierenden Verfassungsprinzipien über alle Gestalten ihrer positiv-rechtlichen Verkörperung hinausweist. Weil dieser Staat in letzter Instanz darauf verzichtet, von seinen Bürgern Gehorsam aus anderen Gründen als dem einer für alle einsichtigen Legitimität der Rechtsordnung zu verlangen, gehört ziviler Ungehorsam zu dem unverzichtbaren Bestand einer reifen politischen Kultur.“ (2)

Die hier umrissene Einordnung legt also nahe, dass bei der gerichtlichen Aufarbeitung solcher auf den Schutz unserer zivilisatorischen Errungenschaften ausgerichteten Regelverstöße die breitere Legitimität des Ansinnens bewertet werden sollte, und nicht wie bei allgemeinen Strafverfahren lediglich die Legalität. Rawls und Dworkin verweisen auf die beträchtlichen Spielräume der Behörden bei der Auslegung der betroffenen Gesetze sowie bei Entscheidungen über die Verfahrensführung und die Härte oder Milde eines eventuellen Strafmaßes.

Wirksamkeit direkter gewaltfreier Aktion
Anhand der anfangs genannten historischen Beispiele, und vieler weiterer die zu nennen hier den Rahmen sprengen würde, ist Ziviler Ungehorsam hinreichend bestätigt als effektives, wirksames Mittel demokratischer politischer Teilhabe. Wieder und wieder wurde er erfolgreich von politisch unzureichend repräsentierten Interessenträgern eingesetzt, um eine ihren nominellen Werten besser entsprechende Gesellschaft einzufordern.

Gerade für junge Menschen mit berechtigten klimabedingten Existenzängsten, die ihre ohnehin schmalen Kanäle für gesellschaftlichen Einfluss ohne hinreichenden Erfolg ausgeschöpft sehen, bietet sich gewaltfreie symbolische Störung als ein geeignetes, und von allen verbleibenden auch das mildeste Mittel an. Erkennbar ist das daran, dass bereits die Schüler*innen von Fridays for Future mit bewussten Verstößen gegen das Schulgesetz dem heutigen gesellschaftlichen Diskurs über Klimaschutz überhaupt erst Raum geschaffen haben. Die Wirkung geht dabei nicht unbedingt von einer einzelnen Aktion oder Gruppierung aus, die natürlich ein weltweites Problem nicht lösen kann und auch aus demokratischer Sicht keine Lösung im Alleingang bestimmen darf. Die weitere gesellschaftliche Wirkung entsteht durch die Signalwirkung des Appells, die Sensibilisierung und Aktivierung passiver Mehrheiten. Das Potenzial dieser Wirkmechanismen ist soziologisch, historisch und politikwissenschaftlich hinreichend belegt. Aus der Kombination von Legitimität und Kontroverse ergibt sich oft der initiale Schwung, den eine demokratisch getragene Kampagne benötigt, um den adressierten Missstand mit Reformprozessen zu lösen.

Wenn nun seit den ersten Klimastreiks von FFF, trotz des sehr regen Diskurses, eine zeitgerechte Behebung der Ursachen der Bedrohung nicht zu erkennen ist, stehen, weitere gewaltfreie Aktionen zur Durchsetzung eines ziel-konformen Klimaschutzes, in logischer Kontinuität mit den Schulstreiks.

Anmerkungen
1 R. Dworkin," Civil Disobedience", in: ders.; Taking Rights Seriously, Cambridge, Mass.1977,S.206ff,  zitiert nach: A. Braune (Hg.) "Ziviler Ungehorsam - Text von Thoreau bis Occupy", (dt. Übersetzung Ursula Wolf), Frankfurt a.M. 1984 S. 221
2 J. Habermas, Ziviler Ungehorsam - Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in: P. Glotz (Hg.) Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt a.M. 1983, zitiert nach: A. Braune (Hg.) "Ziviler Ungehorsam - Text von Thoreau bis Occupy", Frankfurt a.M. 1984 S. 222

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Hintergrund
Ulrich Wohland arbeitet ehrenamtlich bei der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden und ist Initiator der Ausbildung "Campapeace". Er ist Moderator, Coach, Campaigner und Kommunikationstrainer.