Lehren aus dem Brahimi-Report

Zukunft der UN-Friedenseinsätze

von Winrich Kühne
Schwerpunkt
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Charakter und Dynamik der Friedenseinsätze haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte grundlegend verändert. Leicht bewaffnete Blauhelme mit weißen Fahrzeugen beherrschen nur noch ausnahmsweise das Bild. Statt dessen ist die Präsenz schwerbewaffneter Einheiten in Friedenseinsätzen gängig geworden. Zugleich wurde, anders als bei früheren Einsätzen, die enge Zusammenarbeit von Militär, Polizei und zivilen Organisationen zu einem tragenden Pfeiler.

Das Ausmaß des Wandels wird in Politik, Medien und der Friedensforschung noch immer unzureichend verstanden. Aber auch in der UNO fällt es vielen schwer, sich von alten Vorstellungen zu lösen, so dass am Begriff Peacekeeping in allen Dokumenten eisern festgehalten wurde. Das soll sich jetzt ändern. In seinem Report "Wir, die Völker" für die Millennium-Generalversammlung im Herbst 2000 spricht Kofi Annan bewusst von Peace Operations statt von Peacekeeping und stellt fest: "Während sich die traditionelle Friedenssicherung auf die Überwachung von Waffenruhen konzentriert hat, sehen die komplexen Friedenseinsätze heute ganz anders aus."

Von der ersten zur dritten Generation
In der Tat, die heutigen Einsätze haben nicht mehr viel mit den Blauhelmeinsätzen der Vergangenheit gemeinsam. Beginnend mit UNTSO 1948 im Nahen Osten, auf die Mitte der 50er Jahre UNEF im Sinai und UNFICYP auf Zypern Mitte der 60er Jahre folgte, waren sie in aller Regel beschränkt auf die Beobachtung und/oder Überwachung von Waffenstillständen. Konsens, Neutralität sowie die Anwendung von Gewalt ausschließlich zur persönlichen Selbstverteidigung bildeten dementsprechend die drei konzeptionellen Grundpfeiler der ersten Generation von Friedenseinsätzen. Dieser klaren Grundstruktur haftete allerdings ein Nachteil an: Die meisten Einsätze waren im Hinblick auf Konfliktlösung statisch und konnten auch deshalb bis zum heutigen Tage nicht abgeschlossen werden. Denn die Groß- und Supermächte teilten lediglich das Interesse, Konflikte einzufrieren, damit sie nicht zu globalen, möglicherweise sogar nuklearen Auseinanderesetzungen eskalierten. Das traditionelle Peacekeeping ist ein Kind des Kalten Krieges.
 

Ende der 80er Jahre wurde durch das Ende des Ost-West-Konflikts im Sicherheitsrat (SR) der Weg frei für eine Verständigung nicht nur auf Waffenstillstände, sondern auch auf Konfliktlösung. Langjährige Auseinandersetzungen wie die in Namibia, Mittelamerika und Kambodscha konnten plötzlich zu Ende gebracht werden. Die zweite Generation von Einsätzen kam auf. Sie ist charakterisiert durch Dynamik im Sinne eines im Einsatz angelegten Prozesses zur Konfliktlösung und durch Multidimensionalität in Form einer Ausweitung auf eine Reihe nichtmilitärischer Bereiche, die für die Lösung der Konflikte jeweils wichtig sind. Die militärische Beobachtung und Überwachung von Waffenstillständen ist nur noch eine Aufgabe unter anderen. Polizeiaufgaben, Vorbereitung von Wahlen, humanitäre Hilfe und Beobachtung der Menschenrechtssituation, Aufbau der zivilen Verwaltung und des Justizwesens, Rückführung von Flüchtlingen, Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration der Kombattanten etc. kommen hinzu.

In Ergänzung der Kontrolle von Waffenstillständen geht es nun letztlich immer um eines: Die Konfliktursachen müssen mit internationaler Hilfe überwunden und ein politisch-wirtschaftliches System aufgebaut werden, in dem die Konfliktparteien und die Bevölkerung wieder friedlich zusammenleben und ihre Konflikte ohne Anwendung von Gewalt lösen können. In seiner "Agenda für den Frieden" prägte Boutros Boutros-Ghali 1992 für die entsprechenden Aktivitäten den Begriff des Post-conflict Peacebuilding, der heute strategische Bedeutung besitzt.

Die schnellen Erfolge in Namibia, in Mittelamerika und in Mosambik weckten in Politik und Öffentlichkeit allerdings völlig überzogene Erwartungen hinsichtlich der künftigen Rolle der UNO. Denn andere Missionen - UNOSOM in Somalia, UNAMIR in Ruanda und UNPROFOR in Bosnien - gerieten in große Schwierigkeiten und wurden vor allem mit einem Problem nicht fertig: Die feierliche Unterzeichnung von Waffenstillständen und Friedensvereinbarungen bedeutete bei den durch Staatszerfall, ethnische Rivalitäten und Warlords gekennzeichneten Konflikten keineswegs ein Ende der Gewalt. Peacebuilding hatte keine oder nur eine geringe Chance. Die hierfür zuständigen zivilen Mitarbeiter wurden in ihrer Arbeit behindert, bedroht und vereinzelt sogar umgebracht. Hier sei nur an die Zustände in Somalia im Herbst 1992.

Die internationale Gemeinschaft bzw. die UNO stand vor einer schwierigen Entscheidung. Entweder sie gab auf und zog sich zurück oder sie fand einen Weg, die Gewalt unter Kontrolle zu bringen und für das Peacebuilding ein sogenanntes secure environment herzustellen. Die Antwort des SR bestand darin, die Führer von Friedenseinsätzen, sei es im Rahmen der UNO, der NATO oder von sogenannten Koalitionen der Willigen, auf der Basis von Kap. VII (Art. 39, 42) der UN-Charta zu ermächtigen, zur Herstellung einer solchen Umgebung äußerstenfalls auch militärische Gewalt einzusetzen. Die dritte Generation, das sogenannte robuste Peacekeeping, war entstanden. Somalia machte den Anfang. Diese Einsatzform hat sich durchgesetzt. Die Bilanz der UN-Mandate seit Mitte der 90er Jahre ist eindeutig. Bei fast allen Einsätzen waren die Waffenstillstands- und Friedensvereinbarungen durch Mandate abgesichert, die auf Kap. VII basierten. Und eine Schlüsselaussage des Brahimi-Reports lautet, dass die Mandate "robuste Einsatzregeln" beinhalten müssten, "um gegen jene Seiten vorgehen zu können, die ihre Zusage zu einer Friedensvereinbarung nicht einhalten oder einen Friedensprozess gewaltsam untergraben wollen". Traditionelle Blauhelmeinsätze sind jedoch nicht überflüssig geworden. Wo sie möglich sind, wie bei MINURCA in der Zentralafrikanischen Republik, sollen sie zum Zuge kommen. Der Entscheidung muss jedoch eine sorgfältige Prüfung des Gewaltpotentials im konkreten Konflikt auch nach der Unterzeichnung eines Friedensabkommens vorangehen. Die Entwicklung zum worst case muss, anders als bei den traditionellen Einsätzen üblich, eingeplant werden. Im Falle Sierra Leones unterblieb eine solche Prüfung.

Eine vierte Generation?
Mit einem gewissen Recht kann man inzwischen von einer vierten Generation von Friedenseinsätzen sprechen. Denn einige Einsätze der zweiten und dritten Generation sind nicht nur robust und multidimensional, sie gehen auch bei der Übernahme politischer und administrativer Verantwortung wesentlich weiter. In Ansätzen UNTAC in Kambodscha, später UNTAES in Ost-Slavonien und jetzt UNTAET in Ost-Timor, UNMIK/KFOR im Kosovo (und auch dem Office of the High Representative in Bosnien) werden im Mandat ausdrücklich exekutive Aufgaben zugewiesen, sie haben also Regierungsgewalt. Die Einsatzleiter können zur Durchsetzung des Mandats notfalls Maßnahmen direkt gegenüber den lokalen Akteuren und Institutionen anordnen. Davon machen sie durchaus Gebrauch, zum Beispiel durch Anberaumung von Wahlen, Entlassung von Bürgermeistern, Anordnung von Verhaftungen, Ausstellung von Pässen etc. Die Einsätze dieser vierten Generation lassen sich als Peace Support and Governance-Operationen charakterisieren. Auch der Brahimi-Report erkennt die Bedeutsamkeit des Wandels in Richtung "exekutive" Mandate ausdrücklich an, insbesondere im Zusammenhang mit den Aufgaben der Polizei.

Konsens und Unparteilichkeit weiter wichtig
Konsens und impartiality bleiben bei robusten Einsätzen strategische Pfeiler, allerdings aus anderen Gründen als bei den traditionellen Einsätzen. Bei diesen war Zustimmung insbesondere der jeweiligen Regierung mangels eines Mandats gemäß Kap. VII der UN-Charta eine völkerrechtlich zwingende Voraussetzung. Ohne diese Zustimmung wären Präsenz und Aktivitäten der Truppen eine völkerrechtswidrige Einmischung gewesen. Jetzt sind Zustimmung und Unparteilichkeit vor allem aus praktischen Gründen notwendig. Denn ohne die Zustimmung, ja aktive Beteiligung der Konfliktparteien und der Bevölkerung hat der Friedenseinsatz auf Dauer keine Aussicht auf Erfolg. Frieden kann auch weiterhin nicht von außen militärisch erzwungen werden. (Diese Tatsache hatten die US-Generäle und ihre Berater in Somalia bei ihrem Vorgehen gegen Aidid 1993 verkannt.)

Die Andersartigkeit der heute relevanten Konflikte verlangt jedoch ein Umdenken, Konsens und Unparteilichkeit sind neu zu definieren. Die UNO hat dem neuen Verständnis in ihren Leitlinien für Peacekeeping-Einsätze schon vor einigen Jahren Rechnung getragen. Impartiality ist nicht mehr im Sinne von neutraler Abstinenz und Äquidistanz zu verstehen, sondern als aktive Unparteilichkeit. Die Kritik mancher Journalisten am Einsatz von Gewalt, durch den die UNO angeblich nun "Partei" geworden sei, basiert häufig auf überholten Neutralitätsvorstellungen.

Große Schwierigkeiten bereitet ein anderer Punkt: Wo ist normativ die Grenze für Konsens und Unparteilichkeit zu ziehen, wenn massive Menschenrechtsverletzungen oder gar Völkermord begangen werden? Diese Frage stellte sich bei den traditionellen Blauhelmeinsätzen auf dem Sinai oder den Golan-Höhen nicht. Die Bluttaten erst in Srebrenica und Ruanda und jetzt in Sierra Leone erfordern eine klare Antwort. Unparteilichkeit und Konsens dürfen nicht länger, so nun auch die Meinung von Kofi Annan und den Autoren des Brahimi-Reports, zur Duldung massiver Menschenrechtsverletzungen oder sogar von Völkermord führen.

Dieser Imperativ wird in der Praxis nicht so einfach umzusetzen sein. Denn häufig fehlt es den Friedensmissionen an den Mitteln, ihn durchzusetzen. Glaubwürdigkeit im Hinblick auf die notwendige personelle und sachliche Ausstattung muss daher ergänzend zu einer grundlegenden Kategorie bei der Organisation und Durchführung moderner Friedenseinsätze werden! Bei UNPROFOR in Bosnien und UNAMIR in Ruanda wurde in dieser Hinsicht schwer gesündigt. Im Brahimi-Report heißt es entsprechend, dass im Gegensatz zur symbolischen, unbedrohlichen Präsenz, charakteristisch für traditionelle Einsätze, "größere Kräfte" mit "glaubwürdiger Abschreckung" gegenüber all jenen notwendig seien, die den Friedensprozess stören wollen. Was jedoch, wenn - wie bei Friedensmissionen zumeist in Afrika - der SR und die internationalen Führungsmächte eine glaubwürdige Ausstattung verweigern? Die Vorstellung, mit 5.000 Mann einen Friedenseinsatz im Kongo durchführen zu können, ist abenteuerlich. Der Kongo ist so groß wie Westeuropa. Der Rat der Brahimi-Kommission an den Generalsekretär (GS) und den SR ist eindeutig. In diesem Falle sollten keine falschen Kompromisse gemacht, sondern die Entsendung einer Friedenstruppe verweigert werden. Wird sich dieser Rat in der Praxis umsetzen lassen? Würde Annan ihm folgen, müsste er seine Bemühungen, eine Mission in den Kongo zu entsenden, wohl einstellen. Auch die Fortsetzung der Mission in Sierra Leone könnte zweifelhaft werden. Die Kommission ist sich dieser politischen Realität bewusst und bietet einen Zwischenweg an. Mandate sollten vom SR so lange im Entwurfsstadium gehalten werden, bis der GS die feste Zusage der für diese Mission notwendigen Komponenten bestätigt. Selbst diesen Weg zu gehen erfordert vom GS viel Rückgrat, was den Druck sowohl aus dem SR als auch von anderen Mitgliedstaaten angeht.

Polizei und Militär - unklare Aufgabenverteilung
Die zivile Polizei, Civpol im Jargon der UNO, hat sich seit Ende der 80er Jahre zu einem Schlüsselelement moderner Friedenseinsätze entwickelt. Sie ist in der Regel der zivilen Komponente zu- und einem zivilen Kommando untergeordnet. Civpol erfüllt jedoch keine Polizeiaufgaben im originären, also exekutiven Sinne und ist deswegen in der Regel unbewaffnet. Das Aufgabenfeld von Civpol wird mit dem Akronym SMART umrissen: support, monitor, advise, report, train. Der veränderte Konflikttypus und die Ausweitung der Mandate auf "exekutive" Aufgaben zwingen hier jedoch ebenfalls zum Umdenken. Denn bei der Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gibt es eine gravierende Lücke: Das Militär sieht sich nur für den äußeren, militärischen Teil der Ordnung zuständig. Es greift also nur dann ein, wenn bewaffnete Gruppen und Einheiten agieren, nicht aber bei anderen Formen ziviler Unruhe wie gewalttätigen Demonstrationen, Massenaufläufen, gewaltsame Kriminalität etc. Da sei weder sein Mandat noch seien die Soldaten dafür ausgebildet und ausgerüstet. Diesen Standpunkt haben insbesondere die amerikanischen Kommandeure von IFOR und SFOR in Bosnien eingenommen. Im Kosovo hat die KFOR derartige Aufgaben mangels Polizei zwar zeitweise übernommen, doch haben ihre Kommandeure, zuletzt General Reinhardt, keinen Zweifel daran gelassen, dass sie dazu nur vorübergehend bereit sind. Civpol, insoweit geht der Verweis der Generäle auf die Polizei fehl, hat für die geschilderte Aufgabe allerdings ebenfalls kein Mandat und auch nicht die Ausrüstung. Verschiedene Lösungen sind denkbar und werden diskutiert. Einzelne militärische Einheiten könnten für derartige "grobe" Polizeiarbeit umtrainiert und ausgerüstet werden. Die Militärpolizei ist hierfür besonders geeignet und wurde von den Amerikanern in Haiti entsprechend eingesetzt. Mehrheitlich scheinen dieses Modell aber weder Militär noch Polizei zu favorisieren. Ein anderes Modell ist die in Bosnien aufgestellte Multinational Special Unit (MSU). Sie hat eine Stärke von über 400 Personen und besteht mehrheitlich aus italienischen Carabinieri, einer paramilitärischen Polizeitruppe. Sie sind militärisch ausgebildet und dem Militär zugeordnet, erfüllen aber in erster Linie Polizeiaufgaben. Solche Einheiten sind deswegen sowohl von der Ausbildung als auch der Ausrüstung her besonders geeignet für die Schließung der geschilderten Lücke bei den Friedensmissionen. Drei Fragen sind im Hinblick auf die Fortentwicklung des Polizeikonzepts noch strittig: Erstens, ist es überhaupt richtig, die Polizei zu bewaffnen? Großbritannien und Deutschland haben ein entsprechendes Ersuchen des UN-Friedenseinsatzleiters in Bosnien negativ beantwortet. Im Kosovo dagegen wurden Civpol-Angehörige bewaffnet. Zweitens beruht die Einsatzfähigkeit dieser Polizeitruppe natürlich darauf, dass Staaten nicht nur einzelne Polizisten, sondern auch einheitlich ausgebildete Einheiten (Formed Units) entsenden. Sind die Staaten, ist die internationale Gemeinschaft gewillt, solche Einheiten in größerer Zahl zur Verfügung zu stellen? Drittens, sollen diese Einheiten unter militärischem oder zivilem Kommando stehen? In Bosnien ist SFOR der Auffassung, dass die MSU unter ihrem Kommando bleiben sollte. Der Leiter des dortigen UN-Einsatzes und seine Mitarbeiter halten das jedoch für einen Fehler, da dadurch die MSU im Hinblick auf ihre Rules of Engagement und die Einsatzführung militärisch und dadurch in ihrem Nutzen als Polizei weitgehend eingeschränkt bliebe. In Ost-Timor wurde ein anderer Weg beschritten; dort unterstellte man zwei "formed" Polizeibataillone direkt dem zivilen Leiter des Friedenseinsatzes. Im Kosovo verfügen sowohl KFOR wie UNMIK über derartige verstärkte Polizeieinheiten.Die Fortentwicklung des Polizeikonzeptes ist gegenwärtig zweifellos eine der wichtigsten Aufgaben im Zusammenhang der Friedenseinsätze.

Stand-by und schnelle Reaktion
In seinem Bericht für das Millennium-Treffen in New York beschreibt Kofi Annan treffend die absurde Lage der UNO bei Krisenprävention und Friedenseinsätzen. Die Weltorganisation befände sich in der Lage einer Feuerwehr, die - wenn sie einen Brand löschen soll - die Gemeinde erst einmal um Personal, Löschfahrzeuge und Schläuche bitten muss. Ein untragbarer Zustand. Denn, wie der Brahimi-Report richtig feststellt, die ersten Wochen nach dem Abschluss eines Friedensabkommens sind in der Regel die entscheidende Phase für die Herstellung der Glaubwürdigkeit der internationalen Präsenz und für ihre Wirksamkeit. Die Friedensbereitschaft der Konfliktparteien ist wankelmütig und ebenso schnell verspielt wie die aktive Unterstützung der Bevölkerung. Um Truppen und anderes Personal schneller entsenden zu können, hat die Peacekeeping-Abteilung in den letzten Jahren ein Stand-by-Register aufgebaut. 87 Staaten haben gegenwärtig fast 150.000 Personen als im Prinzip verfügbar angemeldet (davon ca. 4.500 ziviles Personal und Polizisten). Diese Zahlen sind beeindruckend, täuschen jedoch. Abgesehen davon, dass es sich häufig um Einheiten ohne die notwendige Ausrüstung und Ausbildung handelt, reagieren die Mitgliedstaaten meist hinhaltend oder ablehnend, wenn der GS sie konkret um die Entsendung von Personal bittet. Insbesondere die Industrieländer zögern, wenn es um die Entsendung von Truppen in Gebiete außerhalb ihres unmittelbaren Interessenbereichs geht. Das Register müsse erst noch zu einem verlässlichen Unterstützungspotent werden, stellt die Kommission völlig richtig fest. In dieses ernüchternde Bild passt die von der Kommission ebenfalls monierte Tatsache, dass im Unterschied zu früheren Zeiten in den letzten Jahren fast 80% der Peacekeeping-Einheiten aus Entwicklungsländern kamen. Die Verbesserung des Stand-by-Systems der UNO und der Fähigkeit zum rapid deployment ist deswegen ein Hauptanliegen des Brahimi-Reports. Die Fähigkeit müsse entwickelt werden, Kontingente und Einsatzmittel für traditionelle Peacekeeping-Operationen innerhalb von 30 Tagen nach Verabschiedung der SR-Resolution und für komplexe Friedensmissionen innerhalb von 90 Tagen vollständig vor Ort zu haben. Die Kommission macht eine Reihe von Vorschlägen, wie das erreicht werden kann, unter anderem:
 

1.Im Kontext des Stand-by-Systems sollen Mitgliedstaaten sich zusammentun und kurzfristig entsendbare Einsatzkräfte jeweils in Brigadegröße aufstellen, ausrüsten und trainieren. (Die von den Skandinaviern initiierte und einsatzfähige Standing High Readiness Brigade rigade entspricht diesem Modell).
 

2.Das UN-Sekretariat soll eine zentrale, internetgestützte Liste (roster) mit zivilem Personal erstellen, dessen Eignung bereits im Vorfeld überprüft wurde und das deswegen kurzfristig einsatzfähig ist. (Dieser Vorschlag trifft sich mit den Bemühungen einer Reihe von Staaten, einschließlich der Bundesrepublik sowie der EU und der OSZE, die Ausbildung und Rekrutierung von zivilem Personal zu verbessern.)
 

3.Schließlich soll der Generalsekretär im Interesse einer schnellen Planung und Entsendung von Friedensmissionen autorisiert werden, sofort nach deren Mandatierung durch den SR über Gelder aus dem Peacekeeping Reserve Fund zu verfügen. Wer die umständlichen Budgetierungs- und Bewilligungsprozeduren der UNO (oder der EU) kennt, wird wissen, wie wichtig diese Forderung in der Praxis ist.
 

Übertriebene Schonung des Sicherheitsrates?
Der Brahimi-Kommission ist zu bescheinigen, dass sie einen vorwärtsgerichteten und mutigen Bericht geschrieben hat. In einem Punkt allerdings scheint ihre Mitglieder die Courage verlassen zu haben. Der SR und insbesondere seine fünf ständigen Mitglieder erfahren eine erstaaunlichen Schonung. Das ist zu bedauern und setzt eine ungute Tradition im UNO-Hauptquartier fort, nämlich die der allzu eilfertigen Anpassung an Stimmungen und Interessen der Mächtigen im SR. Denn der SR ist noch unwilliger als das UN-Sekretariat, Lehren in die Praxis umzusetzen. Schließlich war es der SR, an dem 1994 eine Verstärkung des Friedenseinsatzes in Ruanda maßgeblich scheiterte. Und es war ebenfalls der SR, der die UNO mit dem Schutz von Srebrenica und anderen Enklaven in Bosnien beauftragte, ihr aber statt der mindestens notwendigen 36.000 Soldaten weniger als 7.000 gab - und das gegen den nachdrücklichen Rat von Boutros-Ghali und seinen Militärberatern. Die Katastrophe in Srebrenica war voraussehbar, ebenso wie die in Sierra Leone. Dort oktroyierten vor allem die ständigen SR-Mitglieder USA und Großbritannien der UNO einen nach menschlichem Ermessen zum Scheitern verurteilten Friedensvertrag. Schließlich war es auch der SR, dem darin allerdings viele Mitgliedstaaten folgten, der seit Mitte der 90er Jahre einen Ausbau des UN-Stand-by-Systems und der Kapazität zur schnellen Reaktion eher behinderte als förderte. Die Kanadier hatten einen entsprechenden Plan ausgearbeitet. Die Kommission hätte gut daran getan, den SR und seine ständigen Mitglieder in ihrer "Hauptverantwortung" (Art. 24 UN-Charta) für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit stärker in die Pflicht zu nehmen. Denn wenn die UNO ihre Fähigkeit zu robusten, multidimensionalen Einsätzen ausbauen soll, dann muss der SR angesichts der damit verbundenen Risiken nicht nur für die Mandatierung solcher Einsätze verantwortlich sein, sondern ebenso für ihre ausreichende Ausstattung. Die Praxis der Vergangenheit, die UNO zuerst mit völlig unzureichenden Mitteln und Mandaten ins Feld zu schicken und sie dann wegen ihres angeblichen Versagens an den Pranger zu stellen, muss ein Ende haben. Insgesamt bedarf es einer direkteren Verantwortlichkeit des SR bei Friedenseinsätzen, insbesondere bei den robusten. Eine Wiederbelebung und Reform des auf dem Papier ja nach wie vor existierenden Generalstabsausschusses (Art. 47) ist vereinzelt in die Diskussion gebracht worden. Man könnte sich auch vorstellen, dass die Informations- und Analyse-Einheit EISAS, so sie denn entsteht, in den strategischen Fragen von Krisenprävention und Friedenseinsätzen ein engeres Band zwischen Sekretariat und SR schafft. Positiv ist, dass im SR selbst die Notwendigkeit zu mehr direkter Tuchfühlung mit den Friedensmissionen gesehen wird. Mehrmals haben sich hochrangige Delegationen des SR in jüngster Zeit persönlich in Krisengebiete zu Fact-finding- und Vermittlungsmissionen begeben - nach Indonesien (Ost-Timor), dann in den Kosovo und schließlich im Mai 2000 in den Kongo und ans Horn von Afrika. Eine Reise nach Sierra Leone ist vorgesehen.

Prüfstein Finanzierung
Vorschläge zu einer signifikanten Verbesserung von Friedenseinsätzen und Krisenprävention durch die UNO sind bisher vor allem an zwei Faktoren gescheitert: erstens am großen Misstrauen vieler Staaten gegenüber allen Maßnahmen, die ihre Souveränität und Entscheidungsfreiheit in Frage stellen könnten. Viele Staaten des Südens und die Großmächte sind sich in diesem Punkt erstaunlich einig. Zweitens scheiterten sie daran, dass alle diese Maßnahmen Geld kosten. Die Bereitschaft zu einer beträchtlich besseren Finanzierung der UNO wird auch für den Brahimi-Report und für viele seiner durchaus richtigen Vorschläge zur letztlich entscheidenden und, so muss man befürchten, unüberwindlichen Hürde werden. Denn die Forderung nach besserer und vor allem zuverlässiger Finanzierung durchzieht den Report wie ein roter Faden, nicht zuletzt weil mehr qualifiziertes Personal benötigt wird. Eine Finanzierung sei aber nur durch Mittel aus den regulären Haushalten möglich und nicht durch Spenden, den sogenannten voluntary contributions. Aus letzteren wurden bisher insbesondere Maßnahmen des Peacekeeping bezahlt. Die Kommission dagegen will, dass in Zukunft auch Kernbereiche des Peacebuilding, speziell die Programme zur Demobilisierung und Reintegration von Kämpfern der Konfliktparteien, zumindest in der Anfangsphase aus dem regulären Haushalt eines Friedenseinsatzes bezahlt wird.

Das ist eine richtige Forderung. Auf viele Abgeordnete des amerikanischen Kongresses wird sie jedoch wie ein rotes Tuch wirken. Und dem deutschen Finanzminister mag sie unangenehm sein, läuft sie doch zwangsläufig auf eine Erhöhung der Beitragszahlungen der Mitgliedstaaten für die UNO hinaus.

Der Beitrag erschien in "Blätter für deutsche- und internationale Politik" 11/2000 und wurde von der Redaktion leicht gekürzt.

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Dr. Winrich Kühne ist stellv. Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.