Kann die Eskalation noch verhindert werden?

Zur Gefahr einer Ausweitung der Konflikte in Westasien (Naher und Mittlerer Osten) auf Europa

von Clemens Ronnefeldt
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Der Begriff Middle East (Mittlerer Osten) im englischen Sprachraum wurde 1902 vom US-amerikanischen Militärhistoriker Alfred Thayer Mahan geprägt. Da es sich um einen kolonialen Begriff - ebenso wie die im deutschsprachigen Raum verbreitete Bezeichnung „Naher Osten“ - handelt, die von außen einer Reihe von Ländern zugeschrieben wurden und die nicht ihrer Selbstwahrnehmung entspricht, verwende ich nachfolgend den Begriff Westasien.

Nach der Zerstörung eines iranischen Botschaftsgebäudes in Damaskus und der Tötung mehrerer hochrangiger Militärs aus Libanon und Iran, die der israelischen Regierung zugeschrieben wird, folgte am 13. April 2024 erstmals ein direkter iranischer Angriff auf Israel mit mehr als 300 Drohnen und Raketen. Auf diesen konnte sich wegen der vorherigen Ankündigung vor allem die israelische Luftverteidigung und die US-Regierung, ebenso Jordanien, einstellen.
Wie die New York Times unter Berufung auf drei hochrangige israelische Regierungsmitarbeiter berichtete, wollte daraufhin die israelische Regierung einen größeren militärischen Gegenschlag auf Iran ausführen, bei dem militärische Ziele unter anderem auch in der Nähe von Teheran hätten zerstört werden sollen.
Aufgrund des großen Drucks der Regierungen der USA, Deutschlands und Großbritanniens unterließ die Regierung Netanyahu diesen größeren Militärschlag – und beließ es bei einem Angriff auf eine Luftwaffenbasis in der Provinz Isfahan, in der sich auch mehrere wichtige iranische Atomeinrichtungen befinden. (1)
Hätte die israelische Regierung nicht eingelenkt, wäre es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu weiteren iranischen Angriffen auf Israel gekommen, in deren Folgen auch Europa direkt oder indirekt massiv betroffen gewesen wäre.

Zur aktuellen Weltwirtschaftslage
Unter dem Titel „Der 33-Billionen-Dollar-Strudel“ berichtete „Die Zeit“ am 29.4.2024: „Höher als heute war die Schuldenquote der US-Regierung zuletzt 1946, direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs. (…) Die Experten des IWF sind überzeugt: Diese Entwicklung ist eine Gefahr für die Weltwirtschaft. Die Finanzpolitik der USA sei "besorgniserregend", heißt es in einem IWF-Bericht, sie stehe "nicht im Einklang mit langfristig tragfähigen Finanzen" und bedeute "ein Risiko für die globale Finanzstabilität“. (2) Als Folge dieser US-Schwäche haben etliche afrikanische Länder wie Ägypten, Nigeria, Südafrika, Ghana, Senegal, Kamerun und Algerien in den letzten Monaten ihre Goldreserven aus den USA abgezogen. Die US-Zeitung „The Houston Post“ schrieb am 29.4.2024: „Im Nahen Osten hat die Entscheidung Saudi-Arabiens, seine Goldreserven aus den Vereinigten Staaten abzuziehen, Schockwellen über die globalen Märkte ausgelöst. Als einer der größten Ölexporteure der Welt und Dreh- und Angelpunkt der Weltwirtschaft unterstreicht Saudi-Arabiens Vorgehen die wachsende Desillusionierung des amerikanischen Finanzsystems.“ (3) Bei den aktuellen Auseinandersetzungen in Westasien geht es um weit mehr als die Gefahr eines Regionalkrieges. Wollen die europäischen Staaten nicht in den Strudel des sich im Abstieg befindlichen Hegemons USA geraten, brauchen sie einem neuen von Washington eigenständigeren Politikansatz. Während Frankreich und Großbritannien durch ihre kolonialen Grenzziehungen im Sykes-Picot-Abkommen 1916 und ihre darauffolgenden Kolonialmachtmandate, die erheblich mit zu den regionalen Verwerfungen der letzten Jahrzehnte beigetragen haben, als Konfliktvermittler weitgehend ausfallen, hatte Deutschland noch bis vor kurzem ein besseres Ansehen in der Region. Während deutsche Unterhändler lange Zeit z.B. als ehrliche Vermittler beim Geiselaustausch zwischen Hisbollah und Israel akzeptiert waren und dieses Engagement zu konstruktiven Ergebnissen führte, hat die aktuelle Bundesregierung diesen Bonus u.a. durch massive Waffenlieferungen an Israel trotz der aktuellen israelischen Gaza-Kriegführung in der arabischen Welt verspielt.

NATO gegen BRICS
In allen NATO-Staaten, zu denen die meisten europäischen Staaten zählen, leben zusammen rund 950 Millionen Menschen. In den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) rund 3,5 Milliarden Menschen. Auf dem BRICS-Gipfel-Treffen vom 22. bis 24. August 2023 in Johannesburg luden die bisherigen Mitglieder sechs neue Staaten zur Mitgliedschaft ein. Zum 1.1.2024 wurden die Vereinigten Arabischen Emirate, Äthiopien, Argentinien, Iran, Ägypten und Saudi-Arabien als neue Mitglieder aufgenommen. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt zu diesem Treffen: „Ein weiteres Ziel der BRICS-Gruppe ist, die Dominanz des Dollars als globale Leitwährung zu verringern. Bisher wurden jedoch keine konkreten Schritte unternommen, um die Idee einer eigenen Währung umzusetzen. (…) Umgesetzt wurde jedoch die Gründung einer gemeinsamen Entwicklungsbank. Die ‚New Development Bank‘ mit Sitz in Shanghai fördert seit 2015 vor allem Infrastrukturprojekte. Sie soll eine Alternative darstellen zu dem von westlichen Staaten dominierten Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank.“ (4) An der Grenze zwischen Israel und Ägypten steht nicht nur die Frage im Raum, ob es zu einem israelischen Angriff auf Rafah und einer weiteren Eskalation im israelisch-palästinensischen Konflikt kommt. An dieser Grenze stoßen künftig auch das von den meisten NATO-Staaten unterstützte Israel und das künftig zum BRICS-Bündnis gehörende Ägypten zusammen.

Folgen bereits aktuell in Europa zu spüren
Am 5. März 2024 berichtete die Frankfurter Rundschau: „Seit Monaten greifen Huthi-Rebellen Handelsschiffe im Roten Meer an. Eigenen Angaben zufolge wollen sie damit Israel dazu zwingen, den Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen zu beenden. Zuletzt sank nach einem Raketenangriff der Frachter „Rubymar“. Jetzt hat die Miliz womöglich einen Angriff der anderen Art gestartet. Datenkabel, welche die weltweite Tele- und Internetkommunikation ermöglichen, sind gekappt worden. Die Folge: Der Datenverkehr zwischen Europa, Asien und dem Nahen Osten ist massiv beeinträchtigt.“ (5)
Es ist nur einer von mehreren Aspekten, die zeigen, wie Europa bereits massiv aktuell von den Konflikten in Westasien betroffen ist. Sollte es nicht gelingen, den israelisch-palästinensischen ebenso wie den israelisch-iranischen Konflikt mit all den jeweiligen beteiligten Verbündeten auf diplomatischem Wege zu lösen, würden in Europa möglicherweise Proteste ebenso eskalieren wie derzeit an US-Universitäten. Mitte April 2024 riefen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union Iran und Israel auf, keine weiteren gegenseitige Angriffe zu starten und mahnten zu äußerster Zurückhaltung.

Deutschland und Israel
Am 16. August 2020 berichtete n-tv: „Erste gemeinsame Übung überhaupt. Israel schickt Kampfpiloten nach Deutschland“. „Es ist das erste Mal überhaupt, dass Israel auf deutschem Boden eine Militärübung abhält - gemeinsam mit der deutschen Luftwaffe wollen israelische Piloten ab Montag zwei Wochen lang Manöver fliegen. Die Deutschen planen die ‚wärmste Umarmung, die man geben kann‘.“ (6) Die Bundeswehr berichtete bereits am 9. Oktober 2019: „Letzte Vorbereitungen für Blue Flag: Die Luftwaffe übt in Israel“: „Gemeinsam mit der griechischen, italienischen, jordanischen, US-amerikanischen und israelischen Luftwaffe wird der Ernstfall in der Ovda-Airbase im Süden Israels geübt.“ Der Artikel endet mit dem Satz: „Nach dem Briefing spricht Oberstleutnant Gordon Schnitger, der stellvertretende Kommodore des Geschwaders, zu seinen Soldaten: ‚Das ist eines der größten Abenteuer, das unser Verband die nächsten Jahre erlebt.‘“ (7) Vor diesem Hintergrund ist es schwer vorstellbar, dass die deutsche Luftwaffe Israel nicht auch militärisch zu Hilfe kommen würde, sollte es zu einer Eskalation in Westasien kommen.

Ausblick
Um diese Eskalation zu vermeiden, wäre die Einberufung einer „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Westasien“ nach dem Vorbild des KSZE/OSZE eine deeskalierende Maßnahme. Würden sich die Staaten dieser Region auf eine massenvernichtungswaffenfreie Zone, auf die Abrüstung von Raketen- und anderer Waffensysteme verständigen, die das jeweils andere Territorium erreichen kann sowie vertrauensbildende Maßnahmen vereinbaren, hätte dies auch sicherheitspolitisch vorteilhafte Auswirkungen auf Europa. Daher liegt es im Interesse der EU, die Staaten Westasiens bei einer solchen Konferenz zu unterstützen.

 

Anmerkungen:

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Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.