Zur Lage der Kurden im Irak

von Katharina Simon

Kurdistan ist aus den Schlagzeilen der Weltpresse verschwunden. Leise und fast unbemerkt geht das Sterben des kurdischen Volkes weiter. Nachdem der türkische Staat im Oktober 1993 die vollständige Vernichtung  der kurdischen Bevölkerung bis zum Frühjahr 1994 ankündigen und in Angriff nehmen konnte, ohne Proteste aus dem Ausland befürchten zu müssen, stellte sich die Bundesrepublik Deutschland mit dem Verbot der kurdischen Befreiungsbewegung PKK nun mehr offen auf die Seite der Schlächter. Mit deutschen Waffengeschenken wurden bislang über 800 Dörfer in Nordkurdistan dem Erdboden gleichgemacht, hunderte von Oppositionellen ermordet, annähernd zwei Millionen Kurden und Kurdinnen aus ihren Heimatorten vertrieben.

Seit April 1993 geht auch die iranische  Regierung  wieder drastisch gegen die kurdische Opposition vor: Auf beiden Seiten der iranisch-irakischen Grenze zerstörten iranische  Militärs mehrere kurdische Dörfer und Städte. Die Bevölkerung wurde ein weiteres Mal vertrieben, die genaue Anzahl der Toten ist unbekannt.

Irakisch-Kurdistan ist zurzeit politisch wie wirtschaftlich ein Provisorium, errichtet auf der wackeligen Basis der alliierten Schutzzone, die seit Frühjahr 1991 nördlich des 36. Breitengrades die kurdische Bevölkerung vor Luftangriffen irakischer Militärs schützen soll. Nicht alle Gebiete innerhalb dieser Schutzzone sind unter kurdischer Kontrolle. Andererseits wird auch südlich des 36. Breitengrades ein breiter Streifen entlang der iranischen Grenze von Pehmerga (kurdische Partisanen) gehalten. Seit der Etablierung der Schutzzone gelang es den Kurdinnen und Kurden in den befreiten Gebieten Südkurdistans, ihre Parteien zu konsolidieren, freie Parlamentswahlen abzuhalten und eine Regionalregierung zu installieren. Doch wird in Südkurdistan die Lage immer prekärer: Neben dem internationalen Embargo gegen den lrak leidet die kurdische Bevölkerung unter einem innerirakischen Embargo. Die Preise für Grundnahrungsmittel haben astronomische Höhen erreicht, die Infrastruktur ist fast vollständig zusammengebrochen, die Arbeitslosenrate ist bis 85 Prozent gestiegen. Das doppelte Embargo ist für die Kurden und Kurdinnen eine Fortsetzung der irakischen Völkermordpolitik.

Vor allem der Mangel an Ersatzteilen für Maschinen  und technische Geräte hat verheerende Folgen. Durch den Ausfall vieler Wasserpumpen wird der Mangel an sauberem  Trinkwasser immer bedrohlicher. Bei einer völlig unzureichenden medizinischen Versorgung breiten sich zunehmend zahlreiche Infektionskrankheiten aus. Angefangen bei einfachen Bettlaken über Ersatzteile für medizinische Geräte bis hin zu Medikamenten fehlt es den Krankenhäusern und  Gesundheitszentren an allem. Der Medikamentenmangel hat vor allem für Langzeitpatienten katastrophale Folgen: Die Nachsorge bei Operationen kann schon lange nicht mehr gewährleistet werden. Tödlich für die vielen Minenopfer und die bei Massakern und den erneuten Angriffen der iranischen Armee Verwundeten.

Hinzu kommt noch die mangelnde Stromversorgung in den kurdischen Gebieten seit der Etablierung des kurdischen Regionalparlaments im Sommer 1992.  Das irakische Regime kontrolliert den größten Teil der Stromversorgung Kurdistans. Im Sommer 1993 war die Stromversorgung einiger Städte im Norden der Region monatelang unterbrochen. Dutzende von Säuglingen starben in den Krankenhäusern. Bei Temperaturen um 50 Grad Celsius ohne Klimaanlage konnten sie nicht überleben. Die Generatoren der Krankenhäuser und anderer öffentlicher Gebäude können wegen des Mangels an Dieseltreibstoff immer seltener in Betrieb genommen werden. Durch das doppelte Embargo wird auch die landwirtschaftliche Selbstversorgung Südkurdistans unmöglich gemacht. Ohne Düngemittel und Insektizide kann sich die ehemalige Kornkammer des Irak nicht von der jahrelangen Verwüstung durch die irakische Armee erholen. Drei Viertel der Ernten werden durch Schädlingsbefall vernichtet. Das Giftgas zur Vernichtung der kurdischen Zivilbevölkerung konnte als "Insektizid" teuer an den Irak verkauft werden; für die überlebenden Opfer könnten Dünger und Insektizide die Unabhängigkeit von ausländischen "Kurdenfütterungsprogrammen" bedeuten. Doch selbst eine leichte Lockerung des Embargos fällt der UNO schwer: Nicht  einmal eine Lieferung Zigarettenpapier für die Tabakfabrik in Sulaimaniya fand Gnade vor ihren Augen.

Aufgrund ihres Mandats können große internationale Organisationen wie die UNO und das Internationale Rote Kreuz nur mit der Genehmigung Baghdads in Südkurdistan arbeiten und da auch nur Hilfsprogramme durchführen. Entwicklungshilfe ist für sie kein Thema. Der größte Teil der Hilfslieferungen verbleibt im Irak und nur ein kleiner Teil erreicht - zudem auch meist verspätet -  die kurdischen Gebiete. Die UNO-Hilfe nimmt zum Teil groteske Formen an: Die Kerosinspenden für den Winter 1992/93 gelangten zum Teil erst Ende März an die bedürftigen Familien. Vor dem Erfrieren retteten sie nur der leidlich milde Winter und das Abholzen der restlichen Bäume der Region.

Die ökonomische Krise führt zur rapiden Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten; Baghdad zahlt gut, und so werden die Kollaborateure des irakischen Regimes zu einem immer größeren Problem. Die ständigen Anschläge auf die Bevölkerung und auf Mitarbeiter ausländischer Hilfsorganisationen geben Anlaß zur Sorge. An den Kontrollpunkten der Ausfallstraßen entdecken die Peshmerga immer wieder größere Mengen an Sprengstoff, die nach Kurdistan geschmuggelt werden sollen. Auch hierbei wird die passive Mitwirkung der UNO beklagt: Ihre Hilfslieferungen gelangen nur über irakische Kontrollpunkte nach Kurdistan. Hier werden von den Grenzbeamten häufig Zeitbomben in die LKWs eingebaut, die dann kurze Zeit später explodieren. Schon so manche Ladung ist auf diese Weise nicht an ihr Ziel gelangt.

Leidtragende der internationale Embargopolitik sind wie überall auf der Welt in erster Linie die Kinder. Viele hungern. Gemüse, das ehemals billigste Nahrungsmittel, ist für viele Familien nicht mehr erschwinglich, da die Ernten wegen des Wassermangels auch im letzten Jahr sehr knapp ausgefallen sind. In den Flüchtlingslagern für die annähernd eine Million Flüchtlinge aus den irakisch kontrollierten Gebieten Südkurdistans haben manche über Tage nichts zu essen. Oft bilden Brot und Tee die einzige Mahlzeit. Fehl- und Mangelernährung macht die Kinder sehr anfällig für Infektionskrankheiten. Viele zeigen Wachstums- und Entwicklungsstörungen.

Durch den Vernichtungskrieg des irakischen Regimes gegen die Kurdinnen und Kurden ist die Anzahl von Waisen und Halbwaisen in Südkurdistan sehr hoch. Viele Familien sind oftmals ökonomisch völlig überfordert, zusätzlich auch die Kinder ihrer ermordeten Verwandten zu versorgen. So sind die Kinder auf sich alleingestellt, viele müssen zu ihrem Lebensunterhalt beitragen. Die ökonomischen Probleme haben die traditionellen Großfamilienstrukturen zerstört; das ehemals starke Netz sozialer Beziehungen existiert kaum noch. Finanzmittel für den Aufbau von Waisenhäusern und Kinderheimen sind nicht vorhanden.

Viele Kinder verwahrlosen, ihre Straffälligkeit ist vorprogrammiert. Die (eine!) Zelle für Kinder zwischen 11 und 18 Jahren in dem Gefängnis der Hauptstadt Hawler ist mit 72 Jungen hoffnungslos überbelegt. Öffentliche Gelder für eine Renovierung gibt es nicht, die ehemaligen Rehabilitationszentren sind alle zerstört; eine angemessene soziale und psychologische Betreuung der Kinder ist zurzeit nicht zu gewährleisten. Wegen des doppelten Embargos und per Priorität des Wiederaufbaus der über 4000 zerstörten Dörfer ist an einen Aufbau  der Rehabilitationszentren nicht zu denken.

Es grenzt fast an ein Wunder, daß nicht auch das Erziehungssystem in Südkurdistan zusammengebrochen ist. Es fehlt fast alles, was für einen geregelten Schulbetrieb notwendig wäre. In den wenigen Schulen, die nicht zerstört bzw. mittlerweile wiederaufgebaut wurden, gibt es häufig keine Möbel, keine Tafeln und kaum Lehrmaterial. Der Unterricht findet zum Teil in drei Schichten am Tag statt, da zu wenig Schulgebäude existieren.  Es ist dem Idealismus vieler Lehrerinnen und Lehrer zu verdanken, die für ein Hungergehalt die Kinder unterrichten und zum Teil eigenhändig in den Schulferien die Klassenzimmer renovieren, daß die Ausbildung der Kinder nicht schon längst zum Erliegen gekommen ist.

Aber immer weniger Familien können es sich leisten, alle Kinder zur Schule zu schicken. Die Jungen arbeiten hauptsächlich auf den Bazaren als Kleinhändler und Schuhputzer und tragen so zu dem Familieneinkommen bei. Viele Kinder betteln um Geld oder auch nur um ein Stückchen Brot. Vor allem die  Mädchen müssen ihren Müttern im Haushalt helfen. Die Haushaltsführung wird durch das  Embargo erheblich kompliziert: Wasser fließt nicht mehr aus der Leitung, sondern muß von Tankwagen in die Häuser geschleppt werden. Elektrische Herde sind bei Stromausfällen nutzlos, Kerosin ist knapp und teuer, also müssen Brennholz und Reisig über weite Strecken herangeschafft werden. Die Frauen müssen bei der Nahrungsmittelzubereitung wieder auf die traditionellen zeitaufwendigen Methoden zurückgreifen, die zwar sehr malerisch wirken können, in Wirklichkeit aber Knochenarbeit bedeuten. Sie können auf die Mithilfe ihrer Kinder nicht verzichten. Und so wächst in Kurdistan wieder eine Generation heran, deren Kindheit geprägt ist von Angst, Hunger und der täglichen Sorge ums Überleben. Die kurdischen Autoritäten sehen sich außerstande, ohne politische und wirtschaftliche Unterstützung des Auslands die Probleme des Landes in der nächsten Zeit zu bewältigen. Die kurdische Politik ist ein gefährlicher Drahtseilakt zwischen dem Versuch, ein für ein islamisches Land relativ demokratisches  System zu etablieren und dem Pokern mit Baghdad. Der irakische Nationalkongress, ein Zusammenschluß aller irakischen  Oppositionsgruppen, versucht mit Hilfe der kurdischen Parteien eine gesamtirakische Exilregierung aufzubauen. Sie soll in der Lage sein, nach dem ersehnten Sturz Saddam Husseins ein demokratisches System im gesamten Irak im Rahmen eines Föderalismuskonzeptes zu verwirklichen, um so einer Diktatur im Windschatten Saddams zuvorzukommen. Es ist der Wunschtraum der irakischen Opposition, daß sich die junge Demokratie in Südkurdistan als ein Sprungbrett für eine Demokratisierung des gesamten Irak erweist.

Doch für die westliche Politik scheint es zurzeit nicht opportun zu sein, die Freiheits- und Demokratiebestrebungen der seit Jahrhunderten kolonialisierten, besetzten und blutig unterdrückten Kurdinnen und Kurden zu unterstützen.

"Ema Kurd kas hawreman niya" - Wir Kurden haben keine Freunde. Sollte sich dieses alte kurdische Sprichwort ein weiteres Mal bewahrheiten?

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Katharina Simon arbeitet in einer Flüchtlingsberatungsstelle in Süd-Niedersachsen.