Zwischen Frieden und Krieg

von Hannelore Tölke

Auf den ersten Blick scheinen der Krieg im August in Gori keine Spuren hinterlassen zu haben. Nur vereinzelte Panzersperren erinnern an die vorübergehende Besatzung durch russische Truppen. In der Nacht auf den 8. August 2008 hatten georgische Truppen die südossetische Hauptstadt Zchinwali und andere Ortschaften angegriffen und besetzt. Russland bombardierte darauf hin militärisch relevante Anlagen im georgischen Hinterland. Das georgische Militär musste aus Südossetien abziehen und Russland besetzte strategisch wichtige Orte in Georgien.

Zählte Georgien wegen seiner Metall-, Landwirtschafts- und Tourismusindustrie zu den wohlhabenden Sowjetrepubliken, so ist von diesem Reichtum nicht viel geblieben.  Nach dem unverhofften Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte Georgien einen Machtkampf um die Kontrolle des Staates, zwei Sezessionskriege in Südossetien und Abchasien und im vergangenen August den 5-Tage Krieg. All dies hat im Land und bei den Menschen tiefe Spuren hinterlassen. Wenige Schritte entfernt von der repräsentativen Rustavilistraße, der Tifliser Kulturmeile, stehen marode Häuserzeilen neben Rohbauten, an denen die Arbeiten wegen der Finanzkrise nicht mehr vorangehen. Auf den Straßen von Tiflis bewegt sich ein abenteuerlicher Fahrzeugmix aus vom Westeuropa ausgemusterten Opel, VW und BMW, Wolga und Lada aus der Sowjetzeit, schicken  Mercedes S Klassen und allradgetriebenen Jeeps. Eine vierspurig ausgebaute Autobahn führt von Tiflis nach Gori. Während der Fahrt nach Gori überholen uns unzählige türkische LKWs, die auf dem Weg von Aserbaidschan in die Türkei Georgien  durchqueren.

Ana hat mit ihrer Familie die Kriegstage in Gori erlebt. Noch heute sagt sie, seien die Schrecken dieser Tage nicht vergessen, die Kinder seien traumatisiert und hätten Angst vor Flugzeugen. Gregori ist mit seiner Familie Anfang August aus Südossetien geflohen. Das Haus und das ganze Dorf wurde, nachdem es geplündert worden war zerstört, eine Rückkehr noch Südossetien ist in absehbarer Zukunft nicht möglich. Nun säßen sie hier in Gori, mittellos und ohne jede Unterstützung. An der Straße von Tiflis nach Gori  entstehen Siedlungen für die aus Südossetien geflohenen Georgier. Endlos reihen sich einstöckige einfache Häuschen aneinander. Für mehr als 30.000 Menschen ist eine Rückkehr nach Südossetien auf unbestimmte Zeit unmöglich, sie müssen nun in die georgische Gesellschaft integriert werden. Ein knappes halbes Jahr nach dem georgischen Angriff auf Südossetien mehrt sich in Georgien die Kritik am 5 Tage Krieg im August und die Diskussion um Ursachen und Folgen hat längst begonnen.

Georgien ist für den Westen von großer geostrategischer Bedeutung, darüber spreche ich mit Valeri. Er war Regierungssprecher unter Schewadnase, zum Bruch kam es, als Valeri die Waffenlieferung an tschetschenische Separatisten durch die Regierung Schewadnase kritisierte. In der  Schwarzmeerregion, erklärt er, grenzt der Einflussbereich der NATO direkt an den Russlands. Die NATO misst der Schwarzmeerregion große geostrategische Bedeutung bei, weil hier mehrere wichtige Ölpipelines enden, zudem betrachtet die NATO diese Region als Transitraum für Menschen, Waffen und Drogen. Daher drängen einige NATO-Staaten auch auf Ausdehnung der Operation Active Endeavour auf das Schwarze Meer. Active Endeavour wurde 2001 als Operation als Teil des Kriegs gegen den Terror gestartet. Nach dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens hatte sich der Einfluss der NATO  im Schwarzen Meer erheblich erhöht. Russland droht weiter an Einfluss zu verlieren, nachdem es durch den Beitritt Polens und der Baltischen Staaten seinen Einfluss in der Ostsee verloren hat. Gegen die Ausdehnung  von Active Endeavour gibt es jedoch nicht nur Widerstand von Russland, auch die Türkei ist dagegen. Sie führt seit 2004 die Operation Black Sea Harmony durch, die vergleichbar mit Active Endeavour ist und der sich Russland 2007 angeschlossen hat. Im Schwarzen Meer haben die Türkei und Russland offenbar gemeinsame Interessen und auch die Anerkennung Abchasiens mit seiner 200 km langen Schwarzmeer Küste erklärt sich so. Der Konflikt um Abchasien, so die Befürchtung Vieler in Georgien, sei ebenso wie der um Südossetien nicht lösbar, wenn Georgien der NATO beitritt. Viele Georgier sehen Abchasien und Südossetien auch jetzt noch als integralen Bestandteil ihres Landes an. Bei einem Beitritt zur NATO würde die Teilung Georgiens besiegelt, glauben sie, Georgien täte deshalb besser daran neutral zu bleiben.

Gocha Pipia, Chef der Union for Citizens, ist einer der wenigen Politiker, der von Anfang an gegen den Beitritt Georgiens zur NATO war. Er hat in Moskau Politikwissenschaft studiert, war an der georgischen Botschaft in Washington Botschaftssekretär und hat als Geschäftsmann viel Geld verdient. Seit fünf Jahren ist er mit seiner Union für Georgien im georgischen Parlament. Er sagt: „Ich bin fest davon überzeugt, dass Georgien sich zur Zeit mit dem Beitritt zu Bündnissen zurückhalten sollte.“ Er erinnert sich an die 90er Jahre, in denen Georgien eine bittere Zeit durchlebte. Diese Zeit wurde von den Nachbarn dazu genutzt, um ihre Waren in Georgien abzusetzen. In Georgien, einst selbst bevorzugter Produzent von Obst und Gemüse, wurde die Landwirtschaft zerstört und es wurde Importeur von Waren minderer Qualität. Er befürchtet, dass Georgien auch für die EU nur als Absatzmarkt und Durchgangsstraße von West nach Ost interessant ist. Gegen einen Beitritt zur NATO ist aber  nicht nur, weil Georgien von den NATO-Staaten benutzt werden könnte, sondern auch weil ein NATO-Beitritt nach seiner Überzeugung der territorialen Integrität Georgiens schaden würde. Er tritt dafür ein, dass Georgien neutral bleibt und sagt: „Daran wie die Staaten unseren Wunsch nach Neutralität aufnehmen und ihn respektieren, wird sich auch zeigen, welches Verhältnis sie tatsächlich zu uns haben.“

Gegen den Beitritt zur NATO und für Neutralität ist inzwischen auch die Labourparty. Josef Shatberashvili, Abgeordneter der Labourparty im georgischen Parlament ist auf dem Weg zu einer Kundgebung der Bauarbeiter, die gegen schlechte Arbeitsbedingungen und menschenunwürdige Unterbringung auf den Baustellen protestieren und die Auszahlung ihrer Löhne fordern. Die Labourparty unterstützt diese Forderungen. Weil die Gewerkschaften in Georgien schwach sind und nur vereinzelt in großen Werken arbeiten, sagt Shatberashivili, nehmen wir die Aufgaben der Gewerkschaft wahr. Die Labourparty hat 6 Sitze im Parlament, nimmt aber aus Protest gegen die Wahlfälschungen bei der letzten Wahl nicht an den Parlamentssitzungen teil.

Nino, die für eine NRO in Tiflis arbeitet und bei der letzten Wahl als Wahlbeobachterin tätig war, spricht ebenfalls von Wahlfälschungen in großem Stil. Sie berichtet: „Für manche Wohnungen waren plötzlich 15 Personen und mehr eingetragen. Die eigentlichen Bewohner haben sich sehr darüber gewundert, wer alles bei ihnen wohnt. In den Wahllokalen sind Leute mit Papieren aufgetaucht, auf denen nicht einmal eine Adresse stand, so dass nicht ersichtlich war, wo sie wahlberechtigt sind, sie haben aber trotzdem gewählt. Andere wurden ganz offensichtlich für die Abgabe ihrer Stimme bezahlt“. Besonderes enttäuscht ist Nino darüber, dass die Wahl von der OSZE auch nach Bekanntwerden dieser Fälschungen als rechtens anerkannt wurde.

Auch Anzor zeigt sich von der OSZE und ihrer Zustimmung zu ganz offensichtlich manipulierten Abstimmungsergebnissen enttäuscht. „Die Beteilung an dem Referendum zum NATO-Beitritt war zunächst sehr gering, doch plötzlich tauchten ganz andere Zahlen auf.“ Es stimme nicht, dass 80 % der Bevölkerung in Georgien für den NATO-Beitritt seien. Er schätzt die Zustimmung zum NATO-Beitritt auf höchsten 20 % und berichtet von einer Gruppe, die inzwischen mehr als 1,5. Mio Unterschriften gegen den NATO Beitritt gesammelt hat. Anzor lebt mit seiner Frau Lale und seinen beiden Kindern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in einer der heruntergekommenen Vorstädte von Tiflis. Anzor und Lale haben studiert, doch nach Ende ihres Studiums konnten sie keine Arbeit in ihrem Beruf finden. Anzor betreibt jetzt mit seiner Familie mehrere kleine Läden im Stadtzentrum von Tiflis. Die Einkünfte, berichtet er, reichen für Essen und Kleidung, „wir kommen so über die Runden“. „Für mich“, bemerkt Lale, „wäre eine Berufstätigkeit wegen der Kinder sowieso nicht möglich, Kinderbetreuungsplätze gibt es hier nicht mehr.“ Rita, die bei den beiden zu Besuch ist, ist Lehrerin an einer Musikschule in Rustvali und erzählt, früher seien die Kurse für alle Kinder kostenlos gewesen, die Musikschule habe 300 Schüler gehabt, jetzt sei sie privat und habe nur noch 60 Schüler. „Wer hat schon noch Geld für Musikunterricht. Jeder der Geld hatte und es sich leisten konnte ist weggezogen, nach Russland oder nach Westeuropa. Geblieben sind nur die, die sich nicht leisten konnten wegzuziehen.“ Gutnachbarschaftliche Beziehungen zu allen Nachbarnländern, auch zu Russland, sind ihr wichtig, denn mehr als 1.5 Mio Geogier leben in Russland und unterstützen ihre Angehörigen in Georgien.

Anzor arbeitet in einer Friedensgruppe. In einem Land, das seinen Bürgern keinen Schutz gewährt ist schon dies ein Risiko. Während des 5-Tage-Krieges gerieten er und seine Freunde massiv unter Druck, als sie den Angriffskrieg gegen Südossetien öffentlich kritisierten. Sie  wurden zu Polizeiverhören abgeholt, verprügelt und bedroht. Danach wurden sie vom Geheimdienst wochenlang bespitzelt und überwacht. „ Frieden“, sagt er, „ist für uns jetzt das wichtigste“ Auch er ist gegen den Beitritt zur NATO und schlägt ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung aller Kaukausstaaten vor. „Jetzt ist es für uns wichtig, dass sich alle, die gegen einen NATO-Beitritt sind, vernetzen und dass wir Kontakt mit Friedensorganisationen in Europa knüpfen. Wir können nicht zu der Anti-NATO Demonstration am 4. April nach Straßburg kommen, aber wir werden ganz sicher hier etwas tun.“

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Krisen und Kriege
Hannelore Tölke ist im Vorstand des Deutschen Friedensrat und u.a. für das Sekretaritat des Weltfriedensrats tätig.