Raketenabwehr: Ein Thema für den Rest der Welt aber nicht für Amerika

von Denise Groves
Hintergrund
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Am 7. Juli schlug der dritte Test eines Prototyps des amerikanischen Raketenabwehrsystems (NMD) fehl. Es war nicht das erste Mal, daß die Technologie des Pentagons zum Abschuß feindlicher ballistischer Raketen versagte. Für die Clinton-Regierung war dieser Fehlschlag jedoch sicherlich der bedeutsamste. Das Testergebnis sollte die Grundlage für die Empfehlung des Pentagons an Präsident Clinton liefern, sich für den Bau von NMD zu entscheiden. Clinton hat Anfang September bekanntgegeben, daß er wegen der technischen Unsicherheiten und der nicht ausgeräumten diplomatischen Probleme diese Entscheidung seinem Nachfolger überläßt und nicht über den Baubeginn einer Radarstation auf den Aleuten vor Alaska entscheidet. De facto bedeutet dies eine Verzögerung der ersten Projektphase, die 2005 abgeschlossen sein sollte, um mindestens ein Jahr.

Im Ausland hat Clinton für seinen Beschluß Beifall bekommen, nicht nur von Rußland und China, sondern auch von den NATO-Staaten. Die Republikaner haben Clinton und natürlich Gore erwartungsgemäß kritisiert. In den USA hat die Entscheidung jedoch keine neue öffentliche Debatte ausgelöst. Das Thema "Raketenabwehrsystem" hat für Amerikaner nicht dieselbe Bedeutung wie für den Rest der Welt. Die europäischen Länder haben sich zu einer lautstarken Opposition gegen NMD formiert. Sie argumentieren, daß das Abwehrsystem die NATO belastet, Rußland destabilisiert und zu einem neuen weltweiten Rüstungswettlauf führen könne. Sowohl die russische als auch die chinesische Regierung haben gewarnt, daß sie ihre nuklearen Streitkräfte modernisieren und ausbauen müßten, um NMD zu kontern. Auch die Kanadier als Verbündete und Nachbarn der USA glauben, daß NMD die Welt unsicherer macht.

In den USA dagegen hat NMD nicht eine ähnlich kontroverse Debatte heraufbeschworen. Die Tatsache, daß ein Drittel aller Amerikaner der Meinung sind, daß ihr Land bereits über eine umfassende Raketenabwehr verfügt, ist nicht nur ein Zeichen von Ignoranz, sondern auch von Desinteresse. Im Vergleich zu Themen wie Bildung, Gesundheit oder Abtreibung spielt NMD im Wahlkampf keine Rolle - trotz einiger Versuche, die öffentliche Meinung zur Unterstützung von NMD zu mobilisieren. Eine Wahlkampfspot, der vor einiger Zeit im Fernsehen lief, zeigte beispielsweise Babys in der Krippe oder Kinder beim Baseballspielen, während feindliche Raketen auf amerikanische Städte zu rasten. Dann fragte eine Stimme aus dem Off "Wo werden Sie sein, wenn die Raketen abgeschossen werden?"
 

Auch dieser hollywood-reife Spot, der von der konservativen Interessengruppe "Beschützt Amerikaner - jetzt" gesponsert wurde, konnte das Interesse des Durchschnittswählers nicht wecken. Das Thema NMD ist zu technisch zu kompliziert und zu abstrakt politisch. Sogar die beiden wichtigsten Präsidentschaftskandidaten, Vizepräsident Al Gore für die Demokraten und der texanische Gouverneur George Bush jr. für die Republikaner, gehen nie im Detail auf das Thema ein. In seiner Rede beim republikanischen Parteikongreß sagte Bush lediglich, daß er den 1972 abgeschlossenen ABM-Vertrag für "veraltet" halte und daß er als Präsident ein Raketenabwehrsystem "zum frühest möglichen Zeitpunkt errichten" würde. Bei dem Kongreß der Demokraten erwähnte Al Gore NMD in seiner einstündigen Rede mit keiner Silbe.

Das Wahlprogramm der Republikaner und die Wahlkampfstrategie von Bush werden da schon um einiges deutlicher. Die Republikaner behaupten, daß die Clinton/Gore-Regierung bei der Aufrechterhaltung der militärischen Stärke Amerikas versagt habe und daß die amerikanische Bevölkerung den Anschlägen von Nuklearterroristen deshalb schutzlos ausgeliefert sei. Den Republikanern zufolge klammern sich Clinton und Gore an einen obsoleten Vertrag, um zu verbergen, daß sie während ihrer Regierungszeit unfähig waren, ein effektives Raketenabwehrsystem zu entwickeln. Bush griff diesen Punkt am 8. Juli nach dem peinlicherweise fehlgeschlagenen Test des Abwehrsystems auf, als er nicht ohne Überheblichkeit behauptete, daß "Amerika mit der richtigen Führungsmannschaft ein effektives Raketenabwehrsystem bauen könne.

Laut Bush und seinen Beratern soll ein effektives Abwehrsystem feindliche Raketen schon in der Startphase zerstören und nicht wie das nun geplante System erst dann, wenn sie sich kurz vor dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre befinden. Für das Bush-Team ist dieses sogenannte "boost-phase system" aus zwei Gründen die bessere Alternative: Erstens scheint diese Technologie langfristig einen umfassenderen Schutz zu bieten, als das komplexe aber begrenzte System der Clinton-Administration. Zweitens glaubt Bush, daß Rußland einem Startphase-System und den notwendigen Änderungen des ABM-Vertrages eher zustimmen würde.

Die öffentliche Unterstützung von Al Gore für NMD sind für die Menschen außerhalb der Vereinigten Staaten wahrscheinlich sehr entmutigend, die gehofft hatten, daß die Demokraten mehr Vernunft in die NMD-Debatte bringen würden. In der Tat ist ziemlich deutlich geworden, daß Gore sich mit dem gesamten Projekt sehr unwohl fühlt. Der Vizepräsident wird von vielen als kenntnisreich und erfahren in Verteidigungsfragen eingeschätzt, speziell bei Nuklearthemen und Rüstungskontrollfragen. Gore weiß jedoch auch, wie hat es ist, in den USA einen Präsidentschaftswahlkampf zu führen. Aus diesem Grund weiß er, daß er es sich politisch-taktischen Gründen nicht leisten kann, sich gegen das Raketenabwehrsystem auszusprechen. Mit einer Opposition gegen NMD würde er sich dem Vorwurf aussetzen "weich in der Verteidigungspolitik" zu sein und die Sicherheit des amerikanischen Volkes aufs Spiel zu setzen. Solche Anschuldigungen haben zum Beispiel auch Präsident Carters Wahlkampf 1980 ruiniert. Gore hat sich statt dessen entschlossen, der Linie seiner Partei zu folgen und sich für ein begrenztes Abwehrsystem auszusprechen, das vereinbar mit dem ABM-Vertrag sein soll.

Gores zögerliche Unterstützung für NMD reflektiert in vielerlei Hinsicht die nur hinter vorgehaltener Hand geäußerte Skepsis innerhalb verschiedener Institutionen der Regierung. Berichte des CIA und anderer Institutionen geben ein deutliches Signal, daß NMD die weltweiten Nichtproliferationsbemühungen gefährdet und zu größerer Instabilität führen könnte. Einige Verantwortliche im Pentagon stellen die Verläßlichkeit von des hochkomplexen NMD in Frage. Auch wenn NMD in der Öffentlichkeit als verläßliches System dargestellt wird, glauben Experten, daß die Militärs aufgrund des Restrisikos so planen würden, als ob das System nicht existiere.

Der Beschluß von Präsident Clinton, eine Entscheidung über NMD an seinen Nachfolger weiterzugeben, wird wenig Auswirkung auf Al Gores Chancen bei der Präsidentschaftswahl haben. Jetzt ist es offiziell, daß über das Schicksal des amerikanischen Raketenabwehrsystems der neue Präsident bestimmen kann. Egal wer zum Präsidenten gewählt wird, die Frage ist nicht ob, sondern wann und in welchem Umfang NMD gebaut wird.

(Übersetzung von Steffen Wagner)

Informationen über die beiden Kandidaten sind zu finden unter: http://www.georgewbush.com oder http://www.algore2000.com

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Denise Groves hat einen MA in National Security Studies und ist Mitarbeiterin am Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).