Von der Kriegsursachenforschung zur Friedensursachenforschung

Friedenswissenschaft am Scheidewege

von Karlheinz Koppe
Schwerpunkt
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Die Sache mit dem Frieden hat etwas Seltsames auf sich: Obwohl Frieden die entscheidende Überlebensbedingung sowohl für den einzelnen Menschen als auch für die gesamte Menschheit ist, weil ohne Frieden der Umweltzerstörung kein Einhalt geboten und keine Strategien gegen Armut zum Tragen gebracht werden können, und obwohl die Mehrheit der Menschen im Alltag in der Regel unter friedlichen Bedingungen leben, wird dem Frieden - von individuellen and politischen Dauerbekundungen ohne jede Verpflichtung und Konsequenz abgesehen - kaum Beachtung geschenkt. Das gilt sogar für weite Bereiche der Friedens- und Konfliktforschung. Sie definiert Frieden nach wie vor und fast ausschließlich über die Gegenbegriffe Krieg und Gewalt, das heißt als "negativen Frieden". Also werden Krieg und Gewalt in Form von Kriegs- und Gewaltursachenforschung untersucht.

Dieter Senghaas hat diese Vorliebe der Öffentlichkeit, der Medien und auch der Friedensforschung für Krieg und Gewalt einmal damit erklärt, daß beides so "aufmerksamkeitsfressend" sei, daß für nachhaltige Überlegungen zum "positiven" Frieden kaum noch Zeit bleibe. Wir können das heute mit dem CNN-Effekt bezeichnen: Krieg und Gewalt, je brutaler und grausamer, sind berichtenswerte Ereignisse. Über Friedensschlüsse wird schon weniger berichtet. Ist Frieden erst einmal "ausgebrochen", dann setzt die Berichterstattung vollends aus. Frieden gilt als etwas Selbstverständliches, was ein positiver Aspekt dieser Überlegungen ist, aber entzieht sich eben deshalb dem Nachdenken, was negative Folgen mit sich bringt.

Dabei läge es nahe, Geschichte und Realität friedlichen Zusammenlebens zu erforschen, um daraus Schlüsse ziehen zu können, wie Frieden gestaltet oder wiederhergestellt werden kann. Dann kann sich herausstellen, daß Kriege gar nicht das Hauptübel vergangener und moderner Gesellschaften sind. Von den klassischen Geißeln der Menschheit - Naturkatastrophen, Seuchen und Krieg, zu denen heute die Umweltzerstörung gerechnet werden muß - ist der Krieg, an der Zahl der Opfer gemessen, die unbedeutendste, nur werden Kriege - im Unterschied zu Naturkatastrophen und Seuchen - vom Menschen veranlaßt. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Butros Butros-Ghali hat darauf hingewiesen, daß seit 1946 mehr als 20 Millionen Menschen durch militärische Waffengewalt zu Tode gekommen sind. Aber schätzungsweise 800 Millionen Kinder wurden im selben Zeitraum durch andere Einwirkungen getötet: Hunger, Verelendung, Umweltzerstörung. Das bedeutet keineswegs eine Verniedlichung des Krieges, wohl aber seine Relativierung, wobei zugestanden werden muß, daß Krieg häufig andere Geißeln verstärkte und noch immer verstärkt: Armut, Hungersnöte und Seuchen. Diese Relativierung ist deshalb wichtig, weil sie das Mißverhältnis verdeutlicht, das zwischen dem Aufwand zur Kriegführung (oder auch nur zur Kriegsverhütung) durch Militär und Rüstung auf der einen Seite und dem sehr viel geringeren Aufwand für die wirtschaftliche Entwicklung in Elendsregionen und für ein Aufhalten der Umweltzerstörung auf der anderen Seite besteht.

Auch eine weitere Überlegung erscheint notwendig: wir übersehen, daß 85 bis 90 Prozent aller Sozialbeziehungen gewaltfrei verlaufen. Und zwar sowohl im Außen- wie im Innenverhältnis. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler, Systemanalytiker und Friedensforscher Kenneth Boulding hat vor ein paar Jahren in einem seiner letzten Beiträge darauf hingewiesen, daß wir zwar die 10 bis 15 Prozent gewaltsamen Konfliktaustrags auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene erkennen, nicht aber die ebenso wichtige, wenn nicht sogar wichtigere Tatsache, daß wir uns im Alltag eben nicht alle den Kopf einschlagen. Hier begegnen wir erneut dem CNN-Effekt. Das hatte bereits Augustinus erkannt, als er feststellte, daß, so wie Leben ohne Schmerz, nicht aber Schmerz ohne Leben vorstellbar seien, es zwar Frieden ohne Krieg, aber keinen Krieg ohne Frieden geben könne. In der Tat hat es selbst während langer und grausamer Kriegszeiten immer Nischen - und zwar große Nischen - des Friedens gegeben. Wäre dem nicht so, dann hätte der Mensch wahrscheinlich nicht überlebt, zumindest nicht seine Zivilisation, denn diese ist kein Ergebnis von zerstörerischer Gewalt, sondern die Folge friedlicher Gestaltung.

Die Korrektheit dieser Überlegung wird inzwischen auch von Verhaltensforschern bestätigt. So meint Irenäus Eibl-Eibesfeldt, ein Schüler von Konrad Lorenz, daß bei aller Aggressivität des Menschen, deren Primärzweck nicht das Töten, sondern die Existenzsicherung in einer lebensfeindlichen Natur sein dürfte, ihn auch - so Eibl-Eibesfeldt - das Bedürfnis nach friedlichem Zusammenleben auszeichne, das als "biologischer Normenfilter" wirkt, der zu töten verbietet, und erst durch einen "kulturellen Normenfilter überlagert" wird, der Feinde zu töten gebietet. Es ist bekannt, daß Soldaten zu allen Zeiten - auch heute noch - unter Alkohol oder Drogen gesetzt werden, um überhaupt fähig zu werden, Tötungsbefehle auszuführen. Die Gestaltung von Frieden ist also kein so hoffnungsloses Unterfangen, wie es oft scheinen will, sondern auch eine Frage der Änderung der kulturellen Normenfilter, das heißt des Wertebewußtseins, sei es durch Erziehung, sei es unter dem Zwang katastrophaler Ereignisse.

Frieden ist längst nicht mehr die Beschreibung von Nichtkrieg, also vom Ruhen militärischer Waffen. Frieden und Sicherheit, die Frieden verbürgen soll, sind von anderen Faktoren weit mehr bedroht als durch Krieg, und zwar von Faktoren, die im Unterschied zur Vergangenheit - etwa seit Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert - von Menschen gemacht sind: Zerstörung der Umwelt und damit der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit und - in engem Zusammenhang dazu - ökonomischer Raubbau, Überkonsum bei etwa 15 Prozent der Menschheit, Normalkonsum bei weiteren 15 Prozent und Unterversorgung der anderen 70 Prozent. Deshalb ist als friedensstörender Faktor an erster Stelle der Mangel an weltweiter und innergesellschaftlicher Verteilungsgerechtigkeit zu nennen.

Daraus kann geschlossen werden, daß nicht militärische Friedenssicherungsaktionen angesagt sind, sondern politische Maßnahmen zur Überwindung ökologischer und ökonomischer Gefährdungen den Vorrang haben müssen. Dort ist der Schlüssel für gegenwärtige und künftige Friedensgestaltung, dort ist Annäherung an Frieden zu suchen, die immer zugleich auch Annäherung an Gerechtigkeit sein muß, wenn sie von Erfolg begleitet sein soll. Die Frage, warum die Mehrheit der Menschen friedlich zusammenlebt, wird in diesem Zusammenhang viel zu wenig, wenn überhaupt beachtet. Warum leben Menschen trotz unterschiedlicher ethnischer Identität, trotz verschiedenartiger Glaubenszugehörigkeit und kultureller Traditionen, trotz höchst unterschiedlicher (häufig sogar als miteinander unvereinbar angesehener) Interessen dennoch friedlich zusammen, als Individuen, als Nationen? Es gibt zu dieser Frage kaum empirisch belegbare Antworten, allenfalls beschreibende Untersuchungen, auch diese nur unvollkommen. Deshalb wäre verstärkt "Friedensursachen- forschung" angesagt.

Was kann beispielsweise mit Blick auf laufende Friedensprozesse - in Europa der KSZE/OSZE-Prozeß, in Südafrika, im Nahen und Mittleren Osten, in Nordirland - gesagt werden? Lassen sich solche Prozesse mit Konflikttheorien, etwa mit der Theorie der graduellen wechselseitigen Annäherung (Etzioni /Osgood: GRIT - Graduated Reciprocation in Tension Reduction) erklären? Sind sie lediglich die Folge von Ermüdungserscheinungen? Welchen Einfluß haben Bewußtseins- und Einstellungsveränderungen in Bevölkerungen, welchen Einfluß die modernen Medien und Kommunikationsprozesse, oder auch die Erkenntnis, daß entscheidende Fragen nicht mehr allein national lösbar sind, usw.? Andere Fragen wären: Wieviel Wohlstand (zumindest Deckung von existentiellen Grundbedürfnissen), wieviel ökonomischer Ausgleich (Verteilungsgerechtigkeit), wieviel Demokratie sind für Aufbau und Erhalt von Friedensstrukturen tatsächlich erforderlich?

Was die politische Praxis anbelangt, so sind Abgeordnete der etablierten Parteien offensichtlich wenig geneigt, neue friedenspolitische Wege zu gehen. Die Angst vor Strukturwandel, vor Infragestellung jahrhundertealter patriarchalischer Privilegien ist für die Aufrechterhaltung von Militär und damit der "Option Krieg", neben dem Selbsterhaltungstrieb des Militärs selbst, ein offensichtlich entscheidenderer Faktor als alle anderen Überlegungen. Die Sorge, daß der Reformdruck, vor allem im Zeichen zunehmender öffentlicher und individueller Armut bei gleichzeitig zunehmendem Reichtum einer Minderheit der Bevölkerung sowie im Zeichen anhaltender Zerstörung der Umwelt, zu einer "anderen Republik" (sprich: gerechteren) führen könne, ist offensichtlich für die gesellschaftlichen Akteure ein so erschreckender Gedanke, daß sie auf Militär nicht verzichten wollen.

Wenn diese Überlegungen der Kritik standhalten, dann haben sie Konsequenzen für die Friedensforschung ebenso wie für die Friedenspolitik. Die Wissenschaft - und nicht allein die Friedensforschung - wäre herausgefordert, die vorhandenen Untersuchungen über Krieg und Krisen, über Gewalt und neue Bedrohungen mehr als bisher durch Erforschung jener Mechanismen zu ergänzen, die schon immer und auch heute die vorfindlichen gewaltfreien beziehungsweise gewaltarmen Beziehungen zwischen Staaten und auch das friedliche Zusammenleben von Menschen innerhalb der Gesellschaften ermöglichen und bedingen. Auf dieser Grundlage wäre nach neuen Erkenntnissen zu suchen, wie die ohne jeden Zweifel noch vorhandene Gewalt in den zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Beziehungen weiter eingedämmt und schließlich auf eine nicht völlig auszuschaltende Restgewalt reduziert werden kann, die wir mit rechtsstaatlichen Mitteln unter Kontrolle halten können, wie dies in demokratischen Staaten der Fall ist. Die Politik wäre herausgefordert, Konflikte, in welcher Form und an welchem Ort sie auch immer gewaltträchtig zum Ausbruch kommen können, schon im Vorfeld mit politischen zivilen Mitteln einzuhegen. Das bedeutet den Verzicht auf Streitkräfte, die - wie es nach wie vor der Fall ist - die Tötung von Menschen einüben und sanktionieren, und ihr schrittweiser Ersatz durch internationale Polizeikräfte, die nicht dem einzelnen Staat oder Staatenbündnis, sondern den Vereinten Nationen zugeordnet und internationaler rechtsstaatlicher Kontrolle unterworfen sind.

Das alles heißt:

- Friedenswissenschaft muß die in Vergangenheit und Gegenwart zu beobachtende und geglückte Annäherung an die Zielvorstellung Frieden aufweisen und öffentlich sichtbar machen.

- Friedenswissenschaft muß die Funktion des Militärs als innergesellschaftliches Instrument zur Erhaltung überkommener Macht- und Herrschaftsstrukturen - auch in Demokratien - und seine Rolle zur Erschwerung oder gar Verhinderung gesellschaftlicher Reformen aufdecken.

- Friedenswissenschaft muß die Gründe, die friedliches Zusammenleben von Individuen, Gruppen, Nationen und Gesellschaften ermöglichen, analysieren und für Friedenswahrung durch Konfliktprävention und Friedensgestaltung anwendbar machen.

- Friedenswissenschaft muß die friedensrelevanten Aspekte gesellschaftlichen Handelns aufdecken und zu Modellen einer in sich stimmigen Friedenspolitik verknüpfen.

Alles dies zusammen erfordert die Abkehr vom traditionellen Denken in Machtkategorien und die Hinwendung zu einer Kultur des Friedens, die allein in der Lage ist, allen Menschen ein sicheres Leben zu gewährleisten.

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Karlheinz Koppe ist ehemaliger Leiter der Bonner Arbeitsstelle Friedensforschung.