Asyl

Streit um Drittstaaten

von Wolfgang Grenz
Hintergrund
Hintergrund

Vier Tage lang verhandelte das Bundesverfassungsgericht Ende No­vember und Anfang Dezember über das neue Asylrecht in Deutschland. Die Schwächen der Grundgesetzänderung wurden deutlich. Ob das aber ausreicht, das Gesetz entscheidend zu ändern, ist offen.

Hamda al-'Ubaidi* wurde bedroht und unter Druck gesetzt. Sie sollte Arbeits­kollegen bespitzeln und Berichte für den Geheimdienst schreiben. Die Irakerin, heute eine der beschwerdeführenden Asylberwerberinnen vor dem Bundes­verfassungsgericht, weigerte sich. Ihre Familie, syrisch-orthodoxe Christen, war massiver Verfolgung ausgesetzt. Vor ihren Augen haben Mitglieder der regierenden Baath-Partei ihre Eltern zu­sammengeschlagen. Sie starben später an den Folgen der Verletzungen. Einer der Männer, der sie zur Spitzeltätigkeit bewegen wollte, verwickelte Hamda al-'Ubaidi in einen Verkehrsunfall, bei dem sie verletzt wurde. Die Irakerin entschloss sich zur Flucht: Helfer brachten sie über die Türkei nach Griechenland und setzten sie in Athen in ein Flugzeug nach Frankfurt am Main. Es war der "falsche" Fluchtweg.

Ihre politische Verfolgung kam bisher noch gar nicht zur Sprache. Sie muß erst einmal dafür kämpfen, ihre Flucht­gründe überhaupt irgendwo vortragen zu dürfen. Da Griechenland nach deut­schem Recht ein "sicherer" Drittstaat ist, wollen die hiesigen Behörden ihren Asylantrag nicht annehmen. Griechen­land öffnet wiederum nur denjenigen einen Zugang zum Asylverfahren, die direkt aus dem Verfolgerstaat eingereist sind. Von Athen aus würde die Irakerin - immer noch ohne Asylverfahren - vermutlich in die Türkei abgeschoben werden. Die Türkei gewährt aber nur Flüchtlingen aus europäischen Staaten Schutz. Schnell könnte die Klägerin deshalb wieder im Irak landen. Die dro­hende Kettenabschiebung vor Augen, rief ihr Rechtsanwalt das Bundesverfas­sungsgericht an. Ihr Fall ist einer von fünf, der zur Überprüfung des neuen Asylrechts durch die Karlsruher Richter führte.

Ursprünglich waren zwei Tage für die mündliche Anhörung angesetzt. Doch als die Präsidentin des Bundesverfas­sungsgerichts, Jutta Limbach, am 5. De­zember 1995 um 18.50 Uhr die mündli­che Verhandlung schloss, waren vier Verhandlungstage vorbei. Es war die er­ste mündliche Verhandlung in Karlsruhe zum Asylrecht überhaupt. Andere wich­tige Entscheidungen zur Auslegung des Grundrechts auf Asyl, wie etwa die "Tamilen-Entscheidung" aus dem Jahre 1989 zur Frage der Abgrenzung politi­scher Verfolgung von der Verfolgung im Bürgerkrieg, sind im schriftlichen Verfahren ergangen.

Im Vorfeld hatten Bundesinnenminister Manfred Kanther und andere Politiker der Regierungsparteien die Richter ge­warnt, das Asylrecht ganz oder in eini­gen Punkten für verfassungswidrig zu erklären: Auch das Herausbrechen ein­zelner Teile würde das Gesamtwerk zu­sammenbrechen lassen. Anlass für die teilweise heftigen Angriffe hatte vor al­lem die Interview-Äußerung von Ge­richtspräsidentin Limbach gegeben, Teile des neuen Asylrechts seien "mit heißer Nadel gestrickt" worden.

Neben Kanther - er war an allen vier Verhandlungstagen anwesend - war die Bundesregierung durch Staatssekretär Schelter und weitere hohe Beamte des Innenministeriums vertreten. Außerdem waren dort Beamte des Auswärtigen Amtes, des Justizministeriums, des Bundesgrenzschutzes sowie der Präsi­dent und einige leitende Mitarbeiter des Bundesamtes für die Anerkennung aus­ländischer Flüchtlinge. Bevollmächtig­ter der Bundesregierung war Kay Hail­bronner, Professor für Völkerrecht an der Universität Konstanz. Bundestags­abgeordnete, die das neue Recht 1993 beschlossen hatten, waren nur wenige und nur am ersten Tag vertreten.

Schwerpunkt der Verhandlung war die sogenannte Drittstaatenregelung. Bei der Einreise über einen "sicheren" Dritt­staat wird Flüchtlingen der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt. Als "sichere" Drittstaaten gelten alle Mit­gliedstaaten der Europäischen Union sowie Norwegen, Polen, die Schweiz und die Tschechische Republik. Nach der Definition des Grundgesetzes sind Drittstaaten Länder, in denen die An­wendung der Genfer Flüchtlingskon­vention und der Europäischen Men­schenrechtskonvention sichergestellt ist. Der Zugang zum Asylverfahren kann nach diesem Konzept auch dann nicht erreicht werden, wenn die Asylsuchen­den geltend machen, daß der "sichere" Drittstaat für sie wegen drohender Ket­tenabschiebung bis ins Verfolgerland nicht sicher sei.

Bei der Verhandlung betonte die Bun­desregierung, daß alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union und auch die anderen "sicheren" Drittstaaten Rechts­staaten seien, und es keine Fälle gebe, die darauf hindeuteten, daß diese Kon­ventionen nicht beachtet würden. Dabei berücksichtigt wurde aber lediglich das Verbot der Zurückweisung, Auswei­sung, Abschiebung und Auslieferung von Flüchtlingen nach Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Re­gierung verneint, daß nach völkerrecht­lichen Grundsätzen ein Verfahren statt­finden und daß sich dies an bestimmten Mindeststandards ausrichten müsse. Die Empfehlungen des Exekutivkomitees des Hohen Flüchtlingskommissars wür­den in der Staatenpraxis nicht als bin­dend anerkannt.

Leider erhielt das Hohe Flüchtlings­kommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), das ebenso wie amnesty in­ternational als Sachverständige geladen war, nicht die Gelegenheit, sofort zu antworten. Erst einen Tag später konn­ten Judith Kumin vom UNHCR und Reinhard Marx von amnesty internatio­nal die Bedeutung der Beschlüsse des Exekutivkomitees des UNHCR und an­derer anerkannter Standards des inter­nationalen Flüchtlingsrechts für den Schutz von Flüchtlingen darstellen.

Der Berner Völkerrechtler Walter Kälin erläuterte, daß es zwar in vielen Staaten eine Drittstaatenregelung gebe, aber nur in Finnland und Deutschland beim Vor­bringen ernsthafter Gründe nicht die Möglichkeit gegeben sei, die Vermu­tung der "Sicherheit" im Drittstaat für den Einzelfall überprüfen zu lassen. Kay Hailbronner versuchte, das zu widerle­gen. Er behauptete, daß die Niederlande keine Überprüfungsmöglichkeit böten. Das konnten Kälin und später auch die Rechtsanwälte der Beschwerdeführer mit Hilfe von Dokumenten, unter an­derem einer Auskunft des Asylgerichts in Den Haag, widerlegen.

Hailbronner wies zudem die von den Anwälten geschilderten Einzelfälle, in denen es zu Rückschiebungen aus dem "sicheren" Drittstaat ohne ein faires und umfassendes Asylverfahren gekommen war, als "Literaturprobleme" zurück. Am letzten Verhandlungstag mußte der Rechtsvertreter der Bundesregierung aber einräumen, daß es bei "Koordinationsmängeln" in der Praxis doch dazu kommen könne. Dann würde aber schon eine Lösung gefunden wer­den. Auf welcher Grundlage eine solche Maßnahme erfolgen könnte, konnte der Völkerrechtler allerdings nicht erklären. Vollends in die Defensive geriet er, als Richter Böckenförde mitteilte, daß der Fall einer Iranerin beim Bundesverfas­sungsgericht anhängig ist, die über die Tschechische Republik in die Bundes­republik eingereist war und wegen der Drittstaatenregelung in die Tschechische Republik abgeschoben wurde. Dort hatte sie wegen der Versäumnis der 48-Stunden-Frist nach der ersten Einreise keinen Asylantrag mehr stellen können und wurde von den tschechischen Be­hörden zur Ausreise innerhalb von fünf Tagen aufgefordert - andernfalls würde sie in den Iran abgeschoben. Sie kam dann wieder in die Bundesrepublik und sollte vom Bundesgrenzschutz erneut in die Tschechische Republik abgeschoben werden. Erst auf Intervention des Bun­desverfassungsgerichts habe der Bun­desgrenzschutz von der Abschiebung Abstand genommen. Zur Rechtslage und Praxis in den "sicheren" Drittstaaten Österreich und Griechenland wiesen Vertreterinnen von UNHCR und amnesty international auf erhebliche Defizite im Asylverfahren beider Län­der hin, die im Widerspruch zum inter­nationalen Flüchtlingsrecht stehen.

Eindringlich schilderte der stellvertre­tende Leiter des Frankfurter Flughafen-Sozialdienstes, Clemens Niekrawitz, am dritten Verhandlungstag die Situation im "Flughafenverfahren". Der Rechts­schutz für Asylsuchende in diesem Schnellverfahren besteht nur noch, weil der Flughafen-Sozialdienst als private Initiative in Zusammenarbeit mit eini­gen Juristen dafür sorgt, daß die Asylsu­chenden in ihrem Verfahren von ver­sierten Anwälten vertreten werden. Der Bundesgrenzschutz räumte ein, daß er auf dem Frankfurter Flughafen eine Li­ste aller im Gerichtsbezirk Frank­furt/Main zugelassenen Anwälte vor­legt, ohne daß erkennbar ist, welcher Anwalt auf Asylverfahren spezialisiert und willens ist, ein Mandat in einem solchen Verfahren zu übernehmen. Pi­kanterie am Rande: Als wenige Tage vor der Verhandlung drei Verfassungs­richter den Frankfurter Flughafen be­suchten, war die Liste des Bundesgrenz­schutzes nicht auffindbar.

Als der Vertreter des Bundesgrenz­schutzes angab, alle Entscheidungen des Bundesamtes würden den Asylantrag­stellern in vollem Umfang übersetzt, lö­ste das Erstaunen aus. Nachdem die Vereidigung des BGS-Vertreters bean­tragt worden war, räumte dieser in einer Zusatzerklärung ein, daß dies nicht für alle Fälle gesagt werden könne.

Am letzten Tag der mündlichen Ver­handlung stand das Konzept "sicherer" Herkunftsländer auf dem Programm. Kritik hatte sich an der Aufnahme Gha­nas auf die entsprechende Liste entzün­det. Die Vertreterin des UNHCR er­klärte, daß ihre Organisation zu Ghana nicht arbeite, aber aufgrund allgemeiner Erkenntnisse keine Bedenken gegen die Einstufung Ghanas als "sicheres" Her­kunftsland bestünden. Katja Krikowski-Martin von amnesty international schil­derte anhand der vom Gericht vorge­legten Fragen zur Menschenrechtssitua­tion in Ghana seit 1983 die Entwicklung nach Inkrafttreten der neuen Verfassung und nach Beginn des Demokratisie­rungsprozesses. Als sie die Vollstrec­kung von zwölf Todesurteilen im Jahre 1993 und die Verhängung der Todes­strafe 1995 dokumentierte, widersprach sie damit den Angaben des Auswärtigen Amtes. Das hatte in seinen Lageberich­ten dargestellt, daß es seit Ende der 80er Jahre in Ghana nicht mehr zur Verhän­gung und Vollstreckung der Todesstrafe gekommen sei. Während die Vertreterin von amnesty international auf Nach­frage des Gerichts ihre Aussage bestä­tigte und detaillierte Angaben dazu ma­chen konnte, mußte der Vertreter des Auswärtigen Amtes einräumen, daß die bisherigen Lageberichte hinsichtlich der Todesstrafe nicht zutreffend gewesen seien. Erst in einem Nachtrag vom No­vember 1995 zum Start der Verhand­lung in Karlsruhe hat das Auswärtige Amt seinen Bericht korrigiert. Während somit ein negatives Bild über die Verlässlichkeit der Auskünfte des Auswärti­gen Amtes entstand, konnte sich amnesty international als eine verlässliche Quelle zur Menschenrechtssituation in den Herkunftsländern präsentieren. Vorher hatte die Bundesregierung ge­schildert, daß es bei der Einschätzung von "sicheren" Herkunftsländern auch die Jahresberichte von amnesty interna­tional berücksichtige.

Für die Bundesregierung bezweifelte ihr Rechtsvertreter Hailbronner aber, daß die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe überhaupt von Bedeutung für die Qualifizierung eines Herkunfts­landes als "sicher" sei. Die Todesstrafe sei nicht als unmenschliche und ernied­rigende Bestrafung und Behandlung im Sinne von Artikel 16a Absatz 3 Grund­gesetz zu verstehen, da sie international nicht geächtet sei. Auf Einwand der Richter mußte er allerdings einräumen, daß die Todesstrafe auf europäischer Ebene durch das 6. Fakultativprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskon­vention geächtet ist. Die Formulierung "unmenschliche Bestrafung und Be­handlung" im Grundgesetz ist aus dieser Konvention übernommen.

In seinem Abschlussplädoyer wieder­holte Minister Kanther, das neue Asyl­recht stehe im Einklang zum nationalen Verfassungsrecht und zu den völker­rechtlichen Grundsätzen und habe als handhabbares Recht Vorbildcharakter für Europa. Die Rechtsanwälte der Ge­genseite listeten noch einmal die im Verfahren deutlich gewordenen Mängel des Asylrechts auf und appellierten an das Gericht, zugunsten des Rechts­schutzes von Flüchtlingen zu entschei­den.

Die Entscheidung der Karlsruher Rich­ter wird im Frühjahr 1996 erwartet. Es ist damit zu rechnen, daß das Verfas­sungsgericht einige Nachbesserungen beim Flughafenverfahren verlangen wird. Es wird sich auch ernsthaft mit der Frage befassen, ob Ghana zu Recht auf die Liste "sicherer" Herkunftsländer ge­kommen ist. Beim Konzept "sicherer" Drittstaaten könnte das Gericht dem einzelnen Asylsuchenden die Möglich­keit einräumen, im Einzelfall die Ver­mutung der Sicherheit im Drittstaat in einem begrenzten Verfahren zu wider­legen. Aber in diesem umstrittensten Punkt sind die Verfassungsrichter allem Anschein nicht einer Meinung.

 

(* Name geändert) Dieser Artikel ist zuerst in "ai-Journal" 1/96 erschien.

 

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