Entwicklungstendenzen

Modernisieren statt ächten?

von Regina Hagen

Mehr als die Hälfte aller Staaten der Erde versprachen in den letzten Monaten, „angesichts der unannehmbaren humanitären Folgen und damit verbundenen Risiken […] zusammenzuarbeiten, um Atomwaffen zu stigmatisieren, zu verbieten und abzuschaffen“. Einigkeit über dieses Thema herrscht aber nicht: Die Mitgliedstaaten des Atomwaffensperrvertrags (NVV) zeigten sich bei ihrer jüngsten Konferenz im Mai 2015 tief zerstritten. Und nun wird sogar am Fortbestand des Mittelstreckenvertrags gerüttelt.

Der Riss in der Staatengemeinschaft zwischen den „nuclear haves“, die an ihren nuklearen Arsenalen festhalten, und der große Mehrheit der „nuclear have-nots“,, die Atomwaffen als unverantwortlich einstufen und deren Abschaffung einfordern, hat sich in jüngerer Zeit vertieft. So unüberbrückbar sind aktuell die Differenzen, dass die vierwöchige NVV-Überprüfungskonferenz Ende Mai 2015 in New York im Streit zu Ende ging. Auch zwischen den Atomwaffenstaaten, vor allem den USA und Russland, knirscht es gewaltig.

Dafür gibt es vielfältige Gründe; einige davon werden nachfolgend benannt.

Atomwaffen - unannehmbar oder unverzichtbar?
Zwischen März 2013 und Dezember 2014 fanden auf Einladung der norwegischen, mexikanischen und zuletzt österreichischen Regierung drei hochkarätig besetzte und von mehr als 150 Staaten besuchte Konferenzen zu den katastrophalen Folgen eines Atomwaffeneinsatzes statt. Die Staaten waren sich in ihrer Schlussfolgerung einig: Die Folgen eines Atomkrieges, selbst eines „kleinen“, wären so grauenhaft, die Hilfsmöglichkeiten so unzureichend, die Folgen für Gesundheit, Umwelt und Klima so inakzeptabel, dass jeglicher Einsatz von Atomwaffen im Interesse des Überlebens der Menschheit unbedingt zu verhindern sei.

Bei der Konferenz in Wien wurde ein „Humanitäres Versprechen“ (Humanitarian Pledge) vorgestellt, das bereits durch 108 Staaten Unterstützung fand. Darin erklären die Unterzeichner, „das Risiko von Atomwaffen mit ihren unannehmbaren Folgen kann nur vermieden werden, wenn alle Atomwaffen abgeschafft sind“, und versprechen, „zusammenzuarbeiten, um, Atomwaffen zu stigmatisieren, zu verbieten und abzuschaffen“.

Den Kontrapunkt dazu setzt das Verhalten der Atomwaffenstaaten. Alle neun – China, Frankreich, Großbritannien, Indien, Israel, Nordkorea, Pakistan, Russland und die Vereinigten Staaten – investieren in den Ausbau oder die Optimierung ihrer Kapazitäten. Wer dachte, mit US-Präsident Obamas Rede in Prag im April 2009 würde eine neue Phase nuklearer Abrüstung eingeleitet, hatte seine Bekräftigung ignoriert, die USA würden „ein sicheres, zuverlässiges und effektives Arsenal“ aufrecht erhalten, „solange diese Waffen existieren“.

Die US-Planung geht davon aus, dass dies langfristig der Fall sein wird– sehr langfristig sogar. Die US-Regierung rechnet für die nächsten 30 Jahre mit einer Billion US$ (das ist eine eins mit zwölf Nullen!) für die Aufrechterhaltung des Arsenals, die Modernisierung des Atomwaffenkomplexes und die Entwicklung und den Bau neuer Sprengköpfe, Langstreckenbomber, U-Boote und Raketen. Hohe Milliardensummen für den Ausbau von Raketenabwehr kommen noch dazu.

Die US-Pläne sind maßlos überzogen und unbezahlbar, zugleich aber symptomatisch für die Bestrebungen anderer Atomwaffenstaaten. So teilte die britische Außenministerin, Baroness Joyce Anne Anelay, den konsternierten ZuhörerInnen bei der Generaldebatte der NVV-Konferenz am 27.4.2015 mit: „Meine Regierung wird […] eine glaubwürdige und effektive […] Abschreckung so lange aufrecht erhalten, wie es die globale Sicherheitssituation erfordert.“ Entsprechend hat Premierminister Cameron vor, das komplette Trident-System – U-Boote, Raketen und Atomsprengköpfe – für 100 Mrd. ₤ zu erneuern. Frankreichs Modernisierungsprogramm ist bereits seit Langem im Gang. Russland setzt die Arbeit an einem optimierten Atomwaffenarsenal mit Fähigkeiten zum Überwinden von Raketenabwehr stetig fort. Auch China rüstet sein weiterhin relativ klein gehaltenes Arsenal technisch auf. Die Zweitschlagfähigkeit – also die Möglichkeit, auch nach einem Erstschlag und trotz US-Raketenabwehr glaubwürdig einen Vergeltungsschlag durchführen zu können - soll durch eine verbesserte U-Boot-basierte nukleare Seestreitkraft und die Einführung von Mehrfachsprengköpfen gewährleistet werden.

Beschäftigen sich die etablierten und unter dem NVV anerkannten Atomwaffenmächte vorwiegend mit technischen Optimierungsprogrammen, so streben die „inoffiziellen“ Atomwaffenstaaten vor allem eine Verbreiterung ihrer Fähigkeiten an. Indien arbeitet an größeren Reichweiten seiner ballistischen Raketen und Marschflugkörper sowie an mobilen Startvorrichtungen; demnächst soll außerdem ein erstes nuklear bewaffnetes U-Boot in Betrieb gehen und damit die Zweitschlagfähigkeit deutlich erhöhen. Pakistan baut seine neuen Sprengköpfe mit Plutonium, anstatt wie bisher mit hoch angereichertem Uran, und hat eine Mittelstreckenkapazität seiner Raketen erreicht, die zunehmend mit Festtreibstoff betrieben werden, d.h. flexibler einsetzbar sind. Und Nordkorea teilte kürzlich mit, es meistere inzwischen den Bau von Atomsprengköpfen mit kleineren Abmessungen und könne damit nun Raketen bestücken. Bleibt Israel. Dort unterliegen sämtliche Informationen zum Atomwaffenkomplex strikter Geheimhaltung, ExpertInnen gehen aber davon aus, dass einige von Deutschland gelieferte U-Boote inzwischen für den Abschuss von Atomwaffen ausgerüstet sind, und Israel damit über eine Triade (Bomber, Raketen, U-Boote) an nuklearen Trägersystemen verfügt.

Abrüstung im Rückwärtsgang?
Die Modernisierungswelle und das Fehlen jeglicher Abrüstungsgespräche sind besorgniserregend genug. Nun deutet manches darauf hin, dass nach der Kündigung des Raketenabwehr- (ABM-) Vertrags durch die USA im Jahr 2002 sogar an einem weiteren Pfeiler des Abrüstungssystems gerüttelt wird.

US-Außenminister John Kerry brachte bei der Generaldebatte der NVV-Konferenz in New York eine schon länger im Raum stehende Anschuldigung vor: „Ich möchte unsere tiefe Sorge betonen über Russlands eindeutige Verletzung seiner Verpflichtungen aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme“ (Intermediate-range nuclear forces treaty = INF-Vertrag von 1987, der in den 1980er Jahren zum Abzug nuklear bestückter Pershing-II-Raketen und Marschflugkörper aus Deutschland führte). Damit griff Kerry eine nicht näher präzisierte Aussage eines im Juli 2014 von seiner Behörde vorgelegten Berichtes auf, Russland habe gegen die Bestimmungen des INF-Vertrages verstoßen, keine bodengestützten Marschflugkörper mit 500 bis 5.500 km Reichweite zu besitzen, zu fertigen oder Flugtests zu unterziehen. Vom Verdacht eines Tests im Jahr 2008 hatte die US-Regierung die NATO-Verbündeten schon einige Monate zuvor unterrichtet, die Einstufung als Vertragsverletzung damals aber noch vermieden. Aus gutem Grund: Der INF-Vertrag untersagt zwar Mittelstreckenwaffen inklusive Tests, nicht aber die Erprobung von Trägersystemen im fraglichen Kilometerspektrum, solange das getestete System (auch) für höhere Reichweiten ausgelegt ist.

Die Replik des russischen Delegationsleiters folgte noch am selben Tag: Die Startvorrichtung MK-41 des Aegis-Raketenabwehrsystems, das die USA in Rumänien und Polen stationieren wolle, sei beim Einsatz auf einem Schiff für den Start von Marschflugkörpern des mittelweitreichenden Typs Tomahawk geeignet. Auch Zielraketen, die für Raketenabwehrtests abgefeuert würden, würfen zahlreiche INF-relevante Fragen auf und deuteten auf verdeckte Mittelstreckentests hin. Überdies seien bewaffnete Drohnen der USA als Marschflugkörper zu werten und daher gemäß des INF-Vertrags verboten. Nebenbei bemerkt, so brachte der russische Vertreter ein weiteres langwährendes Ärgernis vor, sei die von der NATO gepflegte nukleare Teilhabe (in deren Rahmen US-Atomwaffen in Deutschland sowie vier weiteren NATO-Staaten stationiert sind) unter dem Atomwaffensperrvertrag verboten und stelle eine schwerwiegende Vertragsverletzung dar.

Es liegt nahe, diesen Schlagabtausch dem gestörten Verhältnis zwischen den USA und Russland infolge des Ukrainekonflikts zuzuschreiben, wird dem Thema aber kaum gerecht. Bereits 2009 hatte Russland angeboten, den INF-Vertrag durch Einbindung weiterer Vertragspartner zu multilateralisieren. Das wäre im Interesse Russlands, liegen die USA aufgrund ihrer geografischen Lage doch außerhalb des Mittelstreckenbereichs potenzieller Gegner, während Russland in Reichweite der Mittelstreckenraketen Frankreichs, Großbritanniens, Pakistans, Indiens und Chinas liegt.

Dem russischen Präsidenten Putin wird der Spruch zugeschrieben, der Abschluss des INF-Vertrages sei ein großer Fehler gewesen. Aber auch im US-Kongress regen sich vermehrt Stimmen für eine Kündigung des Vertrags, die gemäß Artikel XV mit sechs Monate Frist möglich ist. Die gegenseitigen Anschuldigen könnten also das Vorspiel zu einer Aufgabe des INF-Vertrages sein und damit die US-russische Abrüstungsmaschinerie – das ist die einzige, die es im Atomwaffenbereich überhaupt gibt - in den Rückwärtsgang versetzen.

Verärgert, aber nicht entmutigt
Die Unterzeichnerstaaten des “Humanitären Versprechens” und die Zivilgesellschaft sind nach der NVV-Konferenz 2015 zwar verärgert, aber keineswegs entmutigt. Viele Nichtregierungsorganisationen machen sich für einen einfachen Verbotsvertrag stark, der zunächst ohne die Atomwaffenstaaten in Kraft treten könnte und Atomwaffen, ähnlich wie Landminen, völkerrechtlich ächten soll. Andere Gruppierungen und ein Großteil der Staatenwelt sieht die Zukunft eher in einer Nuklearwaffenkonvention, die neben einem Verbot zugleich einen detaillierten Fahrplan in die atomwaffenfreie Welt festschreibt und mit den Atomwaffenstaaten zusammen ausgearbeitet wird. Wofür auch immer sich die Akteure entscheiden: dass die „unannehmbaren humanitären Folgen und damit verbundenen Risiken“ der Abrüstung aller Atomwaffen Dringlichkeit verleihen, daran kann gar kein Zweifel bestehen.

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Sprecherin der Kampagne "Büchel ist überall – atomwaffenfrei.jetzt“ und ehemals verantwortliche Redakteurin der Quartalszeitschrift "Wissenschaft & Frieden".