100 Jahre Widerstand gegen Krieg

100 Jahre War Resisters‘ International

von Helga Weber-Zucht

Glückwünsche und Bewunderung für das Durchhalten über diesen langen Zeitraum an die War Resisters‘ International (WRI), trotz des bitteren Wissens, dass Krieg, Unterdrückung und Ausbeutung immer noch nicht abgeschafft sind.

Bereits in der Ausgabe 6/2019 berichtete Stephan Brues über die Internationale Konferenz der WRI in 2019, die gemeinsam mit dem Lateinamerikanischen Antimilitaristischen Netzwerk in Bogota in Kolumbien stattfand. Deutlich wurden dabei die vielfältigen Herausforderungen, denen sich gewaltfreie Bewegungen im 21. Jahrhundert auf allen Kontinenten entgegenstellen. Mein Rückblick auf diese 100 Jahre WRI soll Auskunft geben über Entwicklung und Schwerpunkte ihrer Arbeit.

Bilthofen, Niederlande, Ende März 1921: Im Haus einer holländischen Quakerfamilie versammelten sich ca. 25 Menschen zu einer Friedenskonferenz, Mitglieder der Quäker, des Versöhnungsbundes und weiterer unterschiedlicher Friedensorganisationen aus Deutschland, Österreich, Großbritannien und den Niederlanden, alle unter dem Eindruck des verheerenden 1. Weltkrieges. Und alle aufgrund ihrer jeweils eigenen Schwerpunkte und Unterschiede überzeugt, dass es einer internationalen pazifistischen Organisation bedarf, die offen sein muss für alle Menschen ohne Unterschied von Glauben, Religion, Überzeugung oder politischer Meinung – in der Hoffnung, Gleichgesinnte in vielen Ländern zu erreichen, um in Zukunft Kriege verhindern zu können.

So entstand zunächst „Paco“ (Esperanto für Frieden). Als Grundlage für die Mitgliedschaft formulierten die Gründer*innen eine weit über die direkte Kriegsdienstverweigerung hinausgehende Grundsatzerklärung. Hier folgt die noch immer gültige Kurz-Version der WRI-Erklärung, die von allen Mitgliedern weltweit unterschrieben wurde und wird:

“Der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und an der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten.”

Der Name wurde nach einigen Jahren geändert in War Resisters‘ International (Internationale der Kriegsgegner*innen) und die Geschäftsstelle von Holland nach London verlegt.

Bereits wenige Jahre später hatten sich mehr als 20 Organisationen aus Europa und den USA der WRI angeschlossen. Im Protokoll einer der frühen Konferenzen ist festgehalten:

„Kein Zweifel, die meisten der aktiven Menschen in der WRI suchten nach Wegen, gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen, die dazu führen würden, dass Krieg als völlig rückständiges Phänomen gesehen, als illegal deklariert und eine Gesellschaft entwickelt würde, die auf sozialistischen Prinzipien und denen einer aufgeklärten Anarchie aufbaut, d.h. einer Gesellschaft, die menschliches Leben respektiert sowie beschenkt und getragen wird von einem Gefühl von Gleichheit und Freiheit….“. (1)

Die erste internationale Konferenz 1925 verabschiedete u.a. eine Satzung und wählte den ersten Internationalen Rat, der aus Vertreter*innen verschiedener Denkrichtungen innerhalb der WRI bestand. Diese Tradition ist seither stets befolgt worden, mit der Ausnahme, dass mit dem Wachsen der Internationalen gegen Ende der späten 1960er Jahre die Notwendigkeit entstand, neben den 12 gewählten Mitgliedern auch Delegierten der wachsenden Anzahl von Mitgliedsorganisationen im Rat einen Sitz zu geben.

Mitarbeit in der WRI
Ich bin der WRI zuerst in den 1950er Jahren „begegnet“, als ich mit der Naturfreundejugend an einer Demonstration gegen die Wiederaufrüstung Deutschlands teilnahm. Ein Bekannter lud mich ein zur Gruppe der Wehrdienstverweigerer. So unterschrieb ich, empört über die Wiederbewaffnungspläne, die WRI-Erklärung und wurde damit Mitglied der WRI.

In 1968, ich lebte bereits in London und hatte oft im WRI-Büro geholfen, verlegte die WRI ihr Büro aus einem Vorort ins Londoner Zentrum, um für Besucher*innen aus dem Ausland, besonders aber für hilfesuchende amerikanische Vietnam-Kriegs-Deserteure, leichter erreichbar zu sein. Mir wurde im neuen Büro ein Job angeboten, den ich gern annahm. Obwohl ich nach drei Jahren Mitarbeit beim Verband der Kriegsdienstverweigerer und dem Ostermarsch mit geschäftigen Bewegungsbüros vertraut war, erlebte ich die Herausforderungen der folgenden fünf Jahre als etwas ganz Besonderes.

Zum einen änderte sich in dieser Zeit in vielen Organisationen, so auch bei der WRI, die Art des miteinander Arbeitens langsam weg vom Von-Oben-nach-Unten-Entscheiden zum gleichberechtigten Arbeiten in Teams. Zum anderen vermittelte der Austausch mit den Mitgliedern aus Europa, Indien und den USA ständig neue Erfahrungen und erforderte oft Solidaritätsaktionen, die in Rundbriefen und in der auf Deutsch, Englisch, Französisch und Esperanto erscheinenden Quartals-Zeitung „Das zerbrochene Gewehr“ verbreitet wurden.

Durch den „Eisernen Vorhang“ nach dem 2. Weltkrieg waren Kontakte nach Osteuropa fast unmöglich geworden. (Aber die Esperanto-Zeitung erreichte den einen/die andere.) In den 1960ern gab es einige vorsichtige Begegnungen zwischen WRI und dem Weltfriedensrat in Moskau. Erste Vorgespräche zwischen Vertreter*innen beider Organisationen führten zur gemeinsamen Studienkonferenz „Erziehung für eine Welt ohne Krieg“ in Warschau und später zu zwei gemeinsamen Seminaren anlässlich der Gandhi-100-Jahr-Feiern, eines in London, das andere in Osteuropa.

Besonders in Erinnerung sind mir aus dieser Zeit im WRI-Büro:

  • 1968 der Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei und die daraufhin von der WRI organisierten Flugblattaktionen in Moskau, Warschau, Budapest und Sofia. Flugblätter gleichen Inhalts in der jeweiligen Landessprache – eine Seite enthielt die Namen der Flugblattverteiler*innen und ihre antimilitaristischen Aktivitäten zu Hause. Die andere enthielt eine Korrektur der in Osteuropa verbreiteten Narrative, warum man die Tschechoslowakei vor dem Westen schützen müsse. Alle wurden nach wenigen Minuten festgenommen, am folgenden Tag ausgewiesen, nur in Budapest nach kurzer Inhaftierung etwas später. Die Folge: Bruch mit dem Weltfriedensrat in Moskau auf dessen Initiative.
  • Der Krieg der USA in Vietnam brachte Ende der 1960er eine schnell wachsende Zahl amerikanischer Deserteure nach Europa, so auch nach London zur WRI. Nur Schweden gewährte Zuflucht. Überall sonst mussten sie mit Ausweisung rechnen. Die Wahl zwischen ständig auf der Flucht sein und Gefängnisstrafen hat viele bis zum Suizid getrieben. Offiziell war keine Beratung erlaubt. Vorsicht war geboten gegenüber Jedem, der bei der WRI Hilfe suchte – man konnte nie wissen, ob es nicht ein Agent der Gegenseite war. In England, Deutschland und darüber hinaus wurden durch WRI-Mitglieder hunderttausende Flugblätter an amerikanische Tourist*innen und an US-Soldaten verteilt mit Hilfsangeboten. Ein kleines Buch fasste später alles zusammen unter „They love it but leave it“.
  • Ähnlich war es während des Nordirlandkonfliktes. Viele britische Soldaten wollten nicht in Nordirland eingesetzt werden und desertierten. Die WRI wurde zu einer der inoffiziellen Anlaufadressen, die eigentlich nicht beraten durften.
  • Operation Omega, eine durch die von der WRI mitgegründete Kampagne, um in Bangladesh den Menschen zu helfen, die Jahrzehnte nach der Abtrennung Pakistans von Indien ihre Unabhängigkeit von Pakistan erklärt hatten. Es folgten unvorstellbare Bombardierungen und Zerstörungen durch die pakistanische Armee. Durch intensive Pressearbeit erschienen täglich mehr Menschen, die ihre Hilfe anboten. Schließlich konnten von London aus mehrere Hilfskonvois mit Kleidung, Nahrungsmitteln und Medikamenten auf dem Landweg nach Bangladesh gesandt werden, unterstützt auch von fast 300 bengalischen Restaurants. Alle an dieser Aktion Beteiligten wurden in Bangladesch von den westpakistanischen Militärs vor Gericht gestellt, eine Weile inhaftiert, aber schließlich wieder freigelassen.

Die WRI heute
Seit den 1970er/80er Jahren hat sich die WRI weiter entwickelt und ist auf großes Interesse in Lateinamerika, teils auch in Afrika gestoßen. Sie hat jetzt mehr als 90 Sektionen in 48 Ländern, darunter Korea, Türkei, Eritrea, Israel, Nepal und Georgien. Und doch gibt es viele Regionen in der Welt, z.B. China und Taiwan, mit denen die WRI bislang keine Kontakte knüpfen konnte.
Mehr Energie ist in die Entwicklung von eigenen Programmen investiert worden. Damit können die vielfältigen Arbeitsschwerpunkte unterschiedlicher Mitgliedsorganisationen unterstützt werden. Nach wie vor dient die umfangreiche Grundsatzerklärung mit ihrem Ziel der Beseitigung von Krieg und Kriegsursachen als Leitlinie. Zu diesen Programmen gehören:

  • Angebote von Trainings für gewaltfreie direkte Aktionen und die Einführung in die zugrunde liegende Weltanschauung. Dafür wurde von erfahrenen Trainer*innen das in mehr als 10 Sprachen, auch auf Deutsch erhältliche Handbuch für Gewaltfreie Kampagnen veröffentlicht. https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/handbuch-fuer-gewaltfreie-kampagnen/
  • Die War Profiteers‘ News  werden zur Unterstützung von Aktionen gegen die Rüstungsindustrie veröffentlicht.
  • The Right to Refuse to Kill (Das Recht, das Töten zu verweigern) bietet Weiterbildung bezüglich Kriegsdienstverweigerung.
  • Die CO Alerts (KDV-Alarmnachrichten) übermitteln Infos über Inhaftierungen, Prozesse von KDVern und werden für Soli-Aktionen genutzt.
  • Neben der Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung in einzelnen Staaten setzt sich die WRI auch für deren Anerkennung als Asylgrund ein.
  • Schon lange gibt es den A Conscientious Objector’s Guide to the International Human Rights System für die UN-Lobbyarbeit für das Recht auf Militärdienstverweigerung.
  • Für den Tag der Gefangenen für den Frieden am 1. Dezember erstellt die WRI seit 1956 Namenslisten und lädt dazu ein, den Gefangenen Kartengrüße zur Ermutigung zu senden. Sie sind jetzt ganzjährig im Internet verfügbar.
  • Seit 1985 ruft die WRI am 15. Mai zu Aktionen am Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerer für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung auf. Schwerpunkt dieses Jahr ist die Türkei.
  • Über die in 2012 entwickelten, in Abständen durchgeführten Aktionswochen gegen die Militarisierung der Jugend gibt dieser link Auskunft: https://wri-irg.org/de/story/2014/die-militarisierung-der-jugend-und-was....

Bei weiterem Interesse an der WRI sei das oben erwähnte Buch (in englischer Sprache) von Devi Prasad empfohlen, das etwa 70 Jahre abdeckt. Eine total spannende Ausgabe der Graswurzelrevolution 208/209 entstand zum 75-jährigen Bestehen der WRI (abo [at] graswurzel [dot] net). Ein ausführlicher Überblick über ihre letzten 40 Jahre findet sich in der GWR März 2021 https://www.graswurzel.net/gwr/2021/02/widerstand-gegen-den-krieg-kriegs.... Ein Büchlein zu 100 Jahre WRI: Widerstand gegen den Krieg ist außerdem bei der IdK erschienen: https://www.idk-info.net/shop/idk-publikationen/

Anmerkung
1 Devi Prasad in: War is a Crime against Humanity - The Story of War Resisters‘ International – 2005, 555 Seiten – www.wri-irg.org

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Rubrik

Friedensbewegung international
Helga Weber-Zucht war u.a. von 1975 – 1979 zweite Vorsitzende der WRI. Von 1974 – 1980 arbeiteten sie und ihr Mann Wolfgang Zucht im ersten Koordinationsbüro der Gewaltfreien Aktionsgruppen und waren bis 1982 in dessen Nachfolge bei der Föderation gewaltfreier Aktionsgruppen tätig. Durch diese Arbeit entstanden (1979 – 2013) Verlag und Versandbuchhandlung Weber & Zucht. Sie ist außerdem im Herausgeber*innenkreis der Graswurzelrevolution aktiv und lebt in Kassel.