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Die humanistische Union:
40 Jahre organisierte Bürgerrechtsarbeit
vonDie älteste deutsche Bürgerrechtsorganisation beging Mitte September ihren vierzigsten Gründungstag mit einer Festveranstaltung, die von den aktuellen welt- und innenpolitischen Ereignissen überschattet stattfand. Der dokumentierte Text ist ein Auszug der Rede des Bundesvorsitzenden Dr. Till Müller-Heidelberg (Rechtsanwalt aus Bingen und Mitbegründer der deutschen Sektion der IALANA). Informationen über Bundesgeschäftsstelle der Humanistischen Union, Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Str. 4, Tel. 030-204502-56 oder per E-Mail: info [at] humanistische-union [dot] de)
Mit einem Aufruf an "etwa 200 Persönlichkeiten des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens" forderte Dr. Gerhard Szczesny, damals Abteilungsleiter beim Bayerischen Rundfunk, ab 1962 selbständiger Verleger, im Juni 1961 zur Gründung der HUMANISTISCHEN UNION (HU) auf: "...die Befreiung des Menschen aus den Fesseln obrigkeitsstaatlicher und klerikaler Bindungen, die Verkündung der Menschenrechte und Menschenpflichten, der Ausbau von Erziehungs-, Bildungs- und Fürsorgeeinrichtungen, die allen Bürgern offenstehen, die Entfaltung einer freien Wissenschaft, Presse, Literatur und Kunst - dies alles sind nicht Entartungen, sondern Grundbedingungen des Lebens in einer zivilisierten Gesellschaft..." Wenig später gründet sich die HUMANISTISCHE UNION in München, und die linksliberale intellektuelle Elite der Republik versammelt sich in der ersten deutschen Bürgerrechtsorganisation. Der hessische Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer gehört ebenso dazu wie die Professoren Alexander Mitscherlich, René König, Ossip Flechtheim, Helmut Gollwitzer, Hartmut von Hentig, Ulrich Klug, Werner Maihofer, Ludwig Marcuse oder Walter Fabian. 1962 hat die HU bereits Stützpunkte in zahlreichen Städten; 1962 gründet sich die erste Gruppe der HUMANISTISCHEN STUDENTENUNION (HSU) in Marburg, weitere folgten. Ebenfalls seit 1962 gibt die HU die "Vorgänge" heraus, zunächst als "Kulturpolitische Korrespondenz", später als "Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".
Die ersten Stellungnahmen der HU richten sich gegen von der Kirche ausgehende Zensurversuche, für Toleranz und freie Meinungsbildung. Es ist unvermeidlich, dass dieser Kampf gegen einen christlichen Weltanschauungsstaat, der sich in der letzten Phase der Adenauerzeit immer weiter ausbreitet, der HU schnell das Etikett einer antichristlichen Organisation anheftet. Dabei gehörten schon zu den Mitgliedern der ersten Stunde ein Oberkirchenrat und mehrere Pfarrer, denn der HU geht es um: "das Eintreten für die freie Entfaltung der selbstbestimmten Persönlichkeit (...), wenn die Kirchen sich staatlicher Macht bedienen, um den Bürgerinnen und Bürgern ihr kirchlich geprägtes Leitbild aufzudrängen (...). Das Eintreten für die freie Entfaltung der Persönlichkeit beinhaltet selbstverständlich ebenfalls das Eintreten für die freie Entfaltung der religiösen Überzeugungen eines jeden ..."
Für eine Reform des Strafrechts
Das Eintreten für eine pluralistische Gesellschaftsverfassung führte die HU zu einer Ausweitung der Einzelthemen, zur Verteidigung von Meinungsfreiheit und Entfaltung der Persönlichkeit auch auf anderen Gebieten. Der erste Bereich neben Kultur, Schule und Erziehung, auf den sich die Tätigkeiten der HU erweiterte, ist das Strafrecht. Das Gründungsmitglied Heinrich Hannover aus Bremen machte das politische Strafrecht zum Gegenstand kritischer Auseinandersetzung, denn die geistige Auseinandersetzung mit Kommunismus und Sozialismus, mit der DDR und der Sowjetunion, wurde leicht und leichtfertig in den Bereich der demokratischen Unzuverlässigkeit, des Hoch- und Landesverrats, der Strafbarkeit abgedrängt. Weitere für das menschliche Zusammenleben nicht notwendigerweise unter Strafe zu stellende Bereiche im Strafgesetzbuch sind die Tatbestände, die mit Moral und Sitte in Verbindung stehen, also neben der "Gotteslästerung" insbesondere das Gebiet des Sexualstrafrechts, einschließlich der "unzüchtigen Schriften und Sachen." Auch hier vertritt die HU die Auffassung, dass nur der absolute Kernbereich des für die Gesellschaft schädigenden Verhaltens unter Strafe gestellt werden darf, nicht aber Normen und sittliche Vorstellungen, selbst etwa der Mehrheit, wenn deren Verletzung sich nicht konkret gefährdend gegen andere auswirkt. Das erste Memorandum der HU vom November 1964 bezieht sich folgerichtig auf "Vorschläge zur Strafrechtsreform". Damit ist gleichzeitig eines jener Dauerthemen angesprochen, welche die HUMANISTISCHE UNION immer wieder begleitet haben: Der Schwangerschaftsabbruch. Bereits in diesem ersten Memorandum zum Entwurf eines reformierten Strafgesetzbuches 1962 äußert sich die HU zur vorgesehenen Indikationslösung. Insgesamt fünf Mal sieht sie sich in der Folgezeit bis 1993 zu eigenständigen Veröffentlichungen zum Schwangerschaftsabbruch genötigt. Am 21. Juni 1976 eröffnet die HU in Lübeck die bundesweit erste Beratungsstelle für ungewollt Schwangere, die noch heute besteht.
Der Streit um den Schwangerschaftsabbruch ist nur eine Facette des von der HU geforderten Selbstbestimmungsrechts der Frau. Eine andere ist die Forderung nach einem Antidiskriminierungsgesetz, welches die HU als erste im November 1977 mit einer Broschüre unter diesem Titel fordert. Die Benachteiligung aufgrund des Geschlechts soll verboten, eine Gleichberechtigungskommission, die die Durchsetzung des Gesetzes überwacht, eingesetzt werden. In der Verfassungsdiskussion nach der deutschen Einigung organisiert die HU eine Postkartenaktion an die Verfassungskommission, um den Artikel 3 des GG zu ergänzen. Es gelingt, dieser Forderung im Rahmen der Verfassungsdiskussion eine ungeheure öffentliche Resonanz zu verschaffen, und 1994 wird in Artikel 3 des Grundgesetzes der Satz eingefügt: "Der Staat fördert die Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin."
Kampf gegen Berufsverbote und Terror-Hysterie
Ab den siebziger Jahren sind es maßgeblich die Sicherheitsapparate der Bundesrepublik Deutschland, die die Freiheitsrechte der Bürger bedrohen. Am 28. Januar 1972 fassen Bundeskanzler Willy Brandt und die Ministerpräsidenten der Länder ihren Beschluss zur "Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst", bekannt als "Radikalenerlass" oder "Extremistenbeschluss", und leiten damit die Praxis der "Berufsverbote" ein, die nun Jahrzehnte lang die Diskussion beherrscht. In insgesamt 3,5 Millionen Fällen wird die sog. Regelanfrage bei den Verfassungsschutzämtern durchgeführt. Erst 1996 stellt die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte letztinstanzlich fest, dass hierin ein Verstoß gegen die Menschenrechte der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit zu sehen ist. Bereits im Geburtsjahr des "Radikalenerlasses" stellte der Verbandstag der HU seine Verfassungswidrigkeit fest.
Die (un)heimliche Staatsgewalt
Nicht nur rechtsstaatliche und strafprozessuale Garantien werden im Zuge des Deutschen Herbstes abgebaut, Polizei und Verfassungsschutz rüsten auf, erhalten zusätzliche Aufgaben und Befugnisse. In den Verfassungsschutzberichten werden angebliche verfassungsfeindliche (ein rechtlich nicht greifbarer Begriff) Personen und Organisationen genannt und damit öffentlich "hoheitliche Verrufserklärungen" (Jürgen Seifert) erlassen. Unter Leitung des Verfassers erarbeitet ein Arbeitskreis der HU ein Memorandum zur Reform des Verfassungsschutzes und veröffentlicht dieses 1981 unter dem Titel "Die (un)heimliche Staatsgewalt". Es stellt den Versuch der Kontrolle und rechtlichen Bändigung des Geheimdienstes Verfassungsschutz dar. Nach zahllosen Stellungnahmen zu weiteren Novellierungen der Verfassungsschutzgesetze stellt die HUMANISTISCHE UNION die Vergeblichkeit dieses Versuchs fest und fordert im April 1990 die Abschaffung des Verfassungsschutzes: "Weg mit dem Verfassungsschutz - der (un)heimlichen Staatsgewalt. Enzyklika für Bürgerfreiheit". Im Mai desselben Jahres entsteht hieraus der erste gemeinsame Aufruf von insgesamt elf ost- und westdeutschen Bürgerrechtsorganisationen: "Es gilt, dem Beispiel der DDR zu folgen. Die Ämter für Verfassungsschutz sind - wie die Stasi - ersatzlos aufzulösen. (...) Wir, Bürgerrechtsorganisationen der Bundesrepublik, wissen um die erheblichen Differenzen zwischen den Befugnissen und Praktiken der Ämter für Verfassungsschutz und der Stasi. Wir wissen aber auch um die Gemeinsamkeiten beider Behörden, d.h. jene Praktiken der Überwachung, Registrierung und offiziellen wie verdeckten Denunziation politischer Gesinnungen."
Ebenso ist die Bürgerrechtsorganisation gezwungen, sich gegen immer weiter ausufernde Aufgaben, Zuweisungen und Befugnisse der Polizei zu wenden. Gegen den beamteten Straftäter, den unter einer Legende verdeckt arbeitenden Polizeibeamten, veröffentlicht die HU im Januar 1984 das Memorandum "Auf dem Wege zu einer halbkriminellen Geheimpolizei", 1988 bringt der Verfasser als Mitglied des Bundesvorstandes die Broschüre heraus "Sicherheitsgesetze - Notstandsgesetze für den alltäglichen Gebrauch?" und im April 1994 das Heft 20 der Schriftenreihe der HU mit dem Titel "Innere Sicherheit. Ja - aber wie? Plädoyer für eine rationale Kriminalpolitik" mit u.a. der Enttarnung des Begriffs der "organisierten Kriminalität" als politischen Kampfbegriff und Schlüssel zur Beseitigung von Bürgerfreiheiten, der Entzauberung des Großen Lauschangriffs als nicht nur gefährlich, sondern auch untauglich und einem Gutachten von Jürgen Seifert über die verfassungswidrigen Lauschbefugnisse des Bundesnachrichtendienstes.
Der Fritz-Bauer-Preis, den die HUMANISTISCHE UNION seit 1969 im Andenken an ihren Mitgründer, den hessischen Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer, an unbequeme und unerschrockene Frauen und Männer verleiht, die sich um Recht und Gerechtigkeit verdient gemacht haben (frühere Preisträger sind u.a. Gustav Heinemann, Heinrich Hannover, Gerald Grünwald, Ruth Leuze, Ossip Flechtheim, Eckart Spoo und Lieselotte Funcke, später auch Günter Grass, Regine Hildebrandt und zuletzt die Erstunterzeichnenden des Aufrufs zur Verweigerung an die Soldaten im Kosovo) geht im Jahre 1995 an den Polizeipräsidenten von Düsseldorf, Prof. Dr. Hans Lisken, der sich auch als Polizeipraktiker engagiert gegen neue Befugnisse der Polizei, gegen Vorfeldbeobachtung, Großen Lauschangriff und under-cover-agents wendet.
Die Vielfältigkeit der Bürgerrechtsarbeit
Wer sich für Meinungs- und Kulturfreiheit sowie die freie Entfaltung jedes Einzelnen einsetzt, der muss sich gegen alle Machtansprüche, gegen alle Bedrohungen der Bürgerfreiheiten wehren. So entstand eine umfassende Bürgerrechtsorganisation, die auch in zahllosen anderen Zusammenhängen, oft an vorderster Spitze, für die Bürger und Menschenrechte kämpft. Bereits gegen die Volkszählung 1983 ist die HUMANISTISCHE UNION zur Verteidigung der Verfassung aufgetreten, zur Volkszählung 1987 hat sie gemeinsam mit dem Komitee für Grundrechte und Demokratie 700.000 "Bürgerinformationen zur Volkszählung" und gemeinsam mit dem Republikanischen Anwaltsverein eine Volkszählungs- Rechtsschutzfibel herausgebracht, der maschinenlesbare Ausweis und das Personenkennzeichen waren Gegenstand ihrer Kritik, der Schutz des Demonstrationsrechts und die Durchsetzung des zivilen Ungehorsams als nicht strafbare Nötigung haben ihre Arbeit geprägt, gegen die Diskriminierung und menschenunwürdige Behandlung von Ausländern und Asylbewerbern hat sie gekämpft. Neben den bereits erwähnten Themen hat die HU seit ihrer Gründung Veröffentlichungen herausgegeben zu: Patientenverfügung, Psychatrie, Kinderrechten, Volkszählung / Datenschutz / Freie Akteneinsicht, Soldaten sind Mörder, Innere Sicherheit mit Geheimdiensten und Polizei, Rechtlicher Status von Prostituierten, Entkriminalisierung von Drogen, Eine neue deutsche Verfassung nach 1990 und eine Europäische Verfassung.
Wo die HUMANISTISCHE UNION heute steht
Das ganze Spektrum der Bürgerrechtsarbeit und ihre Notwendigkeit zeigen sich im "Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland", den die HU seit 1997 jährlich gemeinsam mit anderen Bürgerrechtsorganisationen herausgibt. Im programmatischen Einleitungsartikel "Wer schützt die Verfassung?" des ersten Bandes heißt es, hierdurch solle deutlich werden, "dass die Grundrechte und die freiheitlich demokratische Grundordnung nicht von Bürgern und ihren Organisationen gefährdet und vom Staat (den Verfassungsschutzbehörden) geschützt werden, sondern dass umgekehrt die Gefährdungen von öffentlichen Institutionen ausgehen und der Schutz der Verfassung durch die Bürger selbst geleistet werden muss!"