60 Jahre Grundgesetz – Friedensverfassung außer Kraft!

von Martin Singe
Im Blickpunkt
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Kaum sind die herrschaftlichen Feiern zum 60. Gründungstag der NATO vorüber (samt der Proteste, die wegen der Redaktionsschluss-Überschneidung in diesem FriedensForum noch nicht bedacht werden können), stehen die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes (GG) am 23. Mai vor der Türe. Unkritische Jubelfeiern in Berlin und Bonn sollen die Verfassung folkloristisch hochleben lassen. Grund genug, hier einen friedenspolitischen Blick auf die Verfassung zu werfen.

„... dem Frieden in der Welt zu dienen“
Schon in der Präambel des GG wird der Frieden feierlich beschworen: „... von dem Willen beseelt, ... in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ habe sich das deutsche Volk eine neue Ordnung gegeben. Die DDR-Verfassung vom 7.10.1949 hatte in ihrer Präambel eine ähnlich formulierte Friedensverpflichtung aufgenommen. Im Grundgesetz folgt nach der Würde-Erklärung in Artikel 1 direkt anschließend in Artikel 2 die Bindung der Verfassung an die Menschenrechte als Grundlage „des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Die weiteren friedensrelevanten Bestimmungen des GG finden sich hauptsächlich in den Artikeln 24-26: Art. 24 Abs. 2 regelt den Anschluss an kollektive Sicherheitssysteme „zur Wahrung des Friedens“, Art. 25 erklärt die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zum Bestandteil des Bundesrechts und deren Vorrangigkeit gegenüber anderen Gesetzen. Art. 26 enthält das Verbot friedensstörender Handlungen, insbesondere des Angriffskrieges; diese seien unter Strafe zu stellen. Von Anfang an enthielt die Verfassung auch das aus der Unverletzlichkeit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1) abgeleitete und eigens betonte Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Art. 4 Abs. 3. Erst 1956 wurde im Rahmen der Remilitarisierung Art. 87a ins GG eingefügt, mit dem die Aufstellung von Streitkräften „zur Verteidigung“ geregelt wurde. Diese Bestimmung wurde 1968 mit den Notstandsgesetzen auf Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr für den Inneren Notstand ausgeweitet.

„... die Interessen der Bundesrepublik ohne Rücksicht auf das Völkerrecht weltweit militärisch durchzusetzen“
So ähnlich müsste heute die Präambel des GG neu gefasst werden, sollte sie ehrlich die aktuelle Verfassungswirklichkeit widerspiegeln. Mit der Remilitarisierung und der Notstandsgesetzgebung beginnend hat die Bundesrepublik ihre 1949 erklärte Friedens-Verfasstheit immer weiter aufgegeben. Das Verfassungsgericht hat das übrige dazu beigetragen, um sämtliche Festlegungen auf das Friedensgebot und die strikten Bindungen an Völker- und Menschenrecht aufzulösen. Verfassungsrechtlich lag der schwerste Sündenfall im „out-of-area“-Urteil von 1994. Damals wurde die NATO von einem Verteidigungsbündnis zu einem kollektiven Sicherheitssystem uminterpretiert, um diese mit Art. 24 (s.o.) kompatibel zu machen. Seitdem kann die Bundeswehr entsprechend der neuen NATO-Strategie von 1991 weltweit eigeninteressiert eingesetzt werden. Von dort zieht sich ein blutroter Faden bis zum Tornado-Urteil des Verfassungsgerichts von 2007, mit dem der Bundesregierung endgültig ein Freibrief für weltweites völkerrechtswidriges militärisches Agieren ausgestellt wurde. Es ging um den Einsatz der Tornados der Bundeswehr in Afghanistan, die zwar unter ISAF-Flagge fliegen, aber für den OEF-Krieg Zieldaten übermitteln. Schon 1999, genau zum 50. Jahrestag der NATO, hatte die Bundesrepublik unter rot-grüner Regierung (Schröder/Fischer) ihre von der Verfassung gebotene Friedensbindung endgültig aufgegeben, indem sie mit der NATO völkerrechtswidrig Jugoslawien angriff. Das Gewaltverbot der UN-Charta war mit 78 Tagen NATO-Luftkrieg durchlöchert worden. Artikel 26 der Verfassung, das Verbot des Angriffskrieges, setzte der an Regierungsweisungen gebundene Generalbundesanwalt außer Kraft: Nur die Vorbereitung, nicht das Führen eines Angriffskrieges stehe unter Strafe. Der Grundgesetzauftrag, friedensstörende Handlungen insgesamt unter Strafe zu stellen, wird auf absehbare Zeit uneingelöst bleiben. Die Bundesregierung bleibt nicht dem Friedensauftrag der Verfassung, sondern einer NATO verpflichtet, die sich vom Gewaltverbot der UN-Charta und damit von Völker- und Menschenrecht losgesagt hat. - Vielleicht hätte man die 60-Jahr-Feiern von Grundgesetz und NATO zusammenlegen sollen?

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".