75 Jahre Internationaler Versöhnungsbund

von Konrad Lübbert

In diesem Jahr feiert der Internationale Versöhnungsbund sein 75 jähriges Bestehen. Der Verband ist in Deutschland und auf unserem Kontinent die älteste christliche Friedensorganisation. Den Anstoß zur Gründung der Organisation gab die Rüstung Europas zum 1. Weltkrieg 1914 hatten sich Friedrich Siegmund Schultze aus Deutschland und der englische Quäker Henry Hodgkin nach einer Konferenz des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen auf dem Kölner Bahnhof zum Abschied das Versprechen gegeben, in ihren Ländern aktiv gegen den wachsenden Haß und die zunehmende Militarisierung einzutreten.

Als Ende 1914 an der Universität Cambridge eine erste Gründungsversammlung stattfand, verbrachten die versammelten 130 Personen einen Großteil der Nacht damit, über den Namen der Organisation zu debattieren. Sie vermieden das Wort "Frieden", da sie nicht mit der Londoner Friedensgesellschaft verwechselt werden wollten, die kurz zuvor angesichts der Unvermeidbarkeit des Krieges resigniert hatte. Sie entschieden sich für das Wort "Versöhnung" und wollten damit auch aussagen, daß Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg ist. Die Namenswahl sollte die Aufgabe beschreiben, "nach einer Entfremdung" wieder "freundschaftliche Beziehung" herzustellen. Ebenso wie der Einsatz gegen Militarisierung und Krieg wurde damit die Verpflichtung benannt, gegen die bestehenden Spaltungen der Gesellschaft durch Ungerechtigkeit und Unterdrückung aktiv zu werden.

Die erste große internationale Zusammenkunft des Versöhnungsbundes fand 1919 im holländischen Ort Bilthoven statt und wird als die offizielle Gründungsfeier angesehen. Christen aus zahlreichen Ländern und Konfessionen schlossen sich dort nach dem 1. Weltkrieg zu einem Verband zusammen, der sich die Aufgabe stellte, für internationalen Frieden und für soziale Gerechtigkeit zu arbeiten. Der Grundgedanke der gemeinsamen Arbeit, so wurde formuliert, sei die "Überzeugung, daß die Nachfolge Jesu Christi uns in den Dienst sozialer Gerechtigkeit und des Friedens unter den Völkern stellt und zur Überwindung des Krieges aufruft."

Die Initiative sollte Aufbruch in eine Christenheit sein, die sich in der Vergangenheit deutlich vom herrschenden Nationalismus, vom Militär Und den Interessen der besitzenden Schichten hatte einbinden Jassen. Nicht die richtige Dogmatik auf der Kanzel, sondern die notwendige Praxis zur Erneuerung von Kirche und Gesellschaft wurde als Aufgabe der Zukunft beschrieben. Die Christen müssen wieder, so hieß es, zu "Tätern des Wortes“ werden. Die Bergpredigt wurde zur Orientierung, und ihre Geltung sollte nicht auf den privaten Bereich eingegrenzt, sondern die Geltung muß auch für den gesellschaftlichen und politischen Bereich wirksam gemacht werden: Nächstenliebe muß über festgeschriebene Grenzen hinaus praktiziert werden; Feinde müssen zu Freunden werden; der Widerspruch zwischen Glauben an Gott und Unterwerfung unter den Mammon (in heutigem Deutsch: Kapital) muß verdeutlicht werden; jede Form von Gewalt - sowohl im persönlichen, als auch im politisch-gesellschaftlichen Feld, sowohl die unmittelbare als auch die strukturelle - gilt es zu überwinden.

Der Internationale Versöhnungsbund begann sein Leben als christliche Organisation, und er wurde zu einer der wichtigen Wurzeln des Ökumenischen Rates der Kirche. Inzwischen hat sich ihm jedoch ein weites Spektrum auch anderer religiöser und humanitärer Gruppen und Menschen angeschlossen. Weltweit hat der Versöhnungsbund seine Zweige in fast vierzig Ländern der Erde, und zu ihm zählen rund 100.000 Mitglieder. Die bekanntesten von ihnen, deren Arbeit zugleich repräsentativ für den Verband, sind Martin Luther King, der für die gewaltfreie Veränderung der Gesellschaft eintrat, der Häuptling Albert Luthuli, der in Südafrika den ANC gründete, die bekannte Pädagogin Maria Montessori, der süd-amerikanische Friedensnobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel, der italienische Sozialreformer Danilo Dolci, der brasilianische Erzbischof Dom Helder Camara, die Nordamerikaner Dan Berrigan und Joan Baez und aus Deutschland Josef Metzger, der Gründer der Una-Sancta-Bewegung, sowie Martin Niemöller.

In den verschiedenen Ländern arbeitet der Versöhnungsbund über regionale Verbände und durch örtliche Gruppen. In Deutschland führt der Verband Tagungen und Seminare zu aktuellen Sachfragen durch, gibt mit den Zeitschriften "Versöhnung" und "Gewaltfreie· Aktion" regelmäßige Veröffentlichungen und von Fall zu Fall zusätzliches Informationsmaterial heraus, versucht, über öffentliche Erklärungen auf politische und kirchliche Vorgänge einzuwirken und versteht sich ebenso als Teil der internationalen Friedensbewegung wie auch der deutschen Friedensbewegung. Die Arbeit des Verbandes hat in der Vergangenheit zur Gründung unterschiedlicher Initiativen Anstoß gegeben, beispielsweise zur Gründung der Zentralstellstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer, von Bildungs- und Begegnungsstätten, von Trainingsmöglichkeiten gewaltfreien Handelns, zu Freiwilligendiensten und Friedensorganisationen, und außerdem ist der Versöhnungsbund zusammen mit anderen Friedensinitiativen in Kampagnen, in Solidaritätsaktionen (z. B. für   Lateinamerika oder das ehemalige Jugoslawien) und durch die Entwicklung neuer Praxis- und Handlungsmodelle, etwa dem der Sozialen Verteidigung oder des zivilen Friedensdienstes, wirksam.

Im vielfarbigen Spektrum der Friedensbewegung in unserem Land liegt die Besonderheit des deutschen Versöhnungsbundes darin,

  • daß er Teil einer internationalen Friedensorganisation ist,
  • daß er eine spirituelle Grundhaltung mit gesellschaftlichem Engagement verbindet,
  • daß er unterschiedliche Aufgaben wahrnimmt, aber in radikal pazifistischer Haltung strikt gewaltfrei orientiert ist
  • und daß er aufgrund seiner langjährigen Tradition die Erfahrungen der verschiedenen Generationen miteinander zum Austausch bringt.

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Hintergrund
Konrad Lübbert ist Pfarrer und Vorsitzender des Versöhnungsbundes.