Erinnern, um zu versöhnen

80 Jahre Überfall auf die Sowjetunion

von Martin Hoffmann
Initiativen
Initiativen

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben die Deutschen die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in einem langwierigen und schmerzhaften Prozess ausgetragen. Er hat ihnen Anerkennung in der Welt und auch im eigenen Land eingebracht. Vielen gilt die deutsche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und ihrer Folgen als vorbildlich.

Nach der „Bewältigung“ der dunklen Vergangenheit ist die Verantwortung geblieben, die Erinnerung an die Verbrechen der Deutschen und an ihre Opfer wachzuhalten. Sie hat kein Ende: Der Imperativ „Wir dürfen nicht vergessen!“ ist heute unverbrüchlicher Teil deutscher Staatsräson.

Vergessen kann nur passieren bzw. hat zur Prämisse, dass kollektive Gedächtnisbestände vorhanden sind. Für den Krieg im Osten sind diese – 80 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion – eher gering. Die Verbrechen und die Opfer sind im Schatten geblieben.

Mit dem „Unternehmen Barbarossa“ begann am 22. Juni 1941 ein rassistischer Vernichtungskrieg bis dahin ungekannten Ausmaßes. 27 Millionen Menschen bezahlten den deutschen Furor mit dem Leben, über die Hälfte waren Zivilist*innen.

Es ging um Lebensraum für das nationalsozialistische Volk. Für den „neuen Grund und Boden“ hatte Hitler schon 1925 „Russland und die ihm untertanen Randstaaten“ in den Blick genommen. Die slawischen „Untermenschen“ hatten der überlegenen germanischen Rasse zu weichen. Die „jüdisch-bolschewistische“ Führungsschicht sollte umgebracht werden, die Bevölkerung verhungern. Neue, völkerrechtswidrige Weisungen wurden erlassen, die die Konventionen für die Behandlung von Zivilist*innen und Kriegsgefangenen außer Kraft setzten. Nach einer Rede Hitlers hielt der Chef des Generalstabs Franz Halder zum Angriff auf die Sowjetunion fest: „Es handelt sich um einen Vernichtungskampf. … Der Kampf wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen. Im Osten ist Härte zu mild für die Zukunft.“

Das Ausmaß der Gewalt gegen die Menschen der Sowjetunion ist in zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen dokumentiert. In das kollektive Bewusstsein der deutschen Gesellschaft ist es bis heute nicht gedrungen.

Die wenig bekannten Verbrechen
Die Wahrnehmungsmuster des Kalten Krieges ließen in den Nachkriegsgesellschaften der Bundesrepublik und der DDR wenig Platz für die sowjetischen Opfer der nationalsozialistischen Aggression. In der ostdeutschen Gesellschaft dominierte die Heldenerzählung vom Sieg der Roten Armee, die Westdeutschen sahen sich durch den Kommunismus bedroht. Der Gegner war noch immer im Osten.

Erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs gelangten die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Gräuel des Krieges gegen die Sowjetunion in den Blick größerer Teile der deutschen Bevölkerung. In der Ausstellung der Berliner Stiftung „Topographie des Terrors (1990 bis 1991)“ und den beiden Wehrmachtsausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung (1995 bis 1999 und 2001 bis 2004) wurden die wesentlichen Verbrechenskomplexe thematisiert: der Tod von drei Millionen Kriegsgefangenen, die Aushungerung von Leningrad mit einer Million Toten, die Zerstörung Hunderter Dörfer und die Politik der verbrannten Erde, die mehr als eine Million Opfer forderte. Seit 1995 erinnert das Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst an den Vernichtungskrieg im Osten Europas.

In jüngerer Zeit hat auch die Politik dazu beigetragen, die wenig bekannten Orte und Opfer der Verbrechen im Osten stärker in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit zu holen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erinnerte 2018 in Malyj Trostenez bei Minsk, einer Gedenkstätte für Zehntausende ermordeter Juden, Widerstandskämpfer und Kriegsgefangener, an die mehr als 600 vernichteten weißrussischen Dörfer. Anders als das französische Oradour-sur-Glane oder das tschechische Lidice sind sie bis heute blinde Flecken, ihre Namen sind unbekannt, ihre Schicksale unbeachtet geblieben.

Der Deutsche Bundestag lud 2014 den russischen Schriftsteller Daniil Granin, einen Überlebenden der Blockade von Leningrad, ein, um über seine Erinnerungen an den stillen Völkermord zu sprechen. Anders als Stalingrad war Leningrad in der deutschen Erinnerung jahrzehntelang kaum von Bedeutung.

Bundespräsident Joachim Gauck gedachte 2015 im ehemaligen Stammlager für Kriegsgefangene in Schloss Holte-Stukenbrock der Millionen in deutscher Gefangenschaft ums Leben gebrachten Soldaten der Roten Armee mit dem Hinweis, dass ihr Schicksal „in Deutschland nie angemessen ins Bewusstsein gekommen“ sei.

Im Oktober 2020 hat der Bundestag beschlossen, eine Erinnerungsstätte für die „Opfer des deutschen Vernichtungskriegs und bisher weniger beachtete Opfergruppen“ einzurichten. Die Initiative kommt spät. Hoffentlich nicht zu spät, um den Menschheitsverbrechen im Osten noch einen festen Platz in der Erinnerung der Deutschen zu verschaffen.

Gräben werden vertieft, statt sie zu überbrücken
Die Zeichen dafür stehen nicht gut: Der ehemalige Leiter des Museums Berlin-Karlshorst, Peter Jahn, fasste es vor einigen Jahren so zusammen: „Mit der neuen Konfrontation zwischen der Russischen Föderation und der NATO seit 2014 sinkt anscheinend auch die Bereitschaft, die eigene Täterrolle im Krieg gegen die Sowjetunion anzuerkennen. In den gegenwärtigen Vereinfachungen sind,die Russen‘ wieder ausschließlich die Täter – und damit tendenziell auch in der Geschichte.“

Jahns Befürchtung hat sich bestätigt. Im September 2019 verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution zur „Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas“. Von der Perzeption osteuropäischer EU-Mitglieder geprägt – vor allem Polen und Balten sehen verständlicherweise das Kriegsende nicht nur als Befreiung, sondern auch als Beginn einer neuen Diktatur und Unfreiheit im sowjetischen Machtbereich – deuten diese die Geschichte neu: Der Sowjetunion wird eine Mitschuld am Zweiten Weltkrieg zugewiesen. Die nationalsozialistischen und die stalinistischen Verbrechen werden gleichgesetzt. Die Russen, die mit Ukrainern, Weißrussen und den anderen Sowjetvölkern den höchsten Blutzoll für die Niederschlagung Hitler-Deutschlands zahlten, erscheinen nicht als Opfer und Befreier von nationalsozialistischem Terror, sondern nur noch als Täter und Besatzer.

So dient heute Erinnerung dazu, die neu aufgeworfenen Gräben auf unserem Kontinent weiter zu vertiefen statt sie einzuebnen, sie spaltet statt zu versöhnen.

Die Aussöhnung mit dem Osten war ein Kern der Neuen Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr. Sie hat aus den Gegensätzen des Kalten Krieges hinausgeführt bis hin zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten, dem Geschenk der Sowjetunion an die Deutschen. Heute lebt der Versöhnungsgedanke vor allem bei den deutschen und russischen Bürgerinnen und Bürgern weiter, zuallererst in den über 100 Partnerschaften zwischen deutschen und russischen Städten und Gemeinden.

„Die Jungen“, hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner historischen Rede am 8. Mai 1985 gesagt, „sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“ Heute scheint es, dass wir schon einmal weiter waren: Die alten Rezepte – erinnern, um zu verstehen, um zu vergeben und zu versöhnen – waren die fruchtbareren für eine gemeinsame, friedliche Zukunft in Europa.

Ausgabe

Rubrik

Initiativen
Martin Hoffmann ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutsch-Russischen Forums e.V.