"Abgestufte Abschreckung" - was will die US - Studie?

von Jochen HipplerReinhard Kaiser

Im Januar 1988 wurde in Washington von einer Gruppe prominenter Militärs und Politiker eine Studie unter dem Titel "Discriminate Deterrence" ("Abgestufte Abschreckung") veröffentlicht. Zu den Autorinnen gehörten Persönlichkeiten wie Fred Ikle (Staatssekretär im Pentagon), Henry Kissinger, Zbigniew Brzezinski (Außenminister und Nationale Sicherheitsberater unter Nixon und Carter). Diese Studie, die noch von damaligen Verteidigungsminister Weinberger in Auftrag gegeben worden war, erwies sich als höchst spektakulär.

Dies war eigentlich erstaunlich. Mit großer Selbstverständlichkeit hatten sich die AutorInnen schließlich ans Werk gemacht, von einen rein nationalen US-Interessen (nicht NATO-Bündnis-Interesse) ausgehend und rein militärische Kriterien zugrundeliegend für eine zukünftige US-amerikanische Militärpolitik originelle Vorschläge zu unterbreiten. Dabei wurde - ganz nebenbei - die Axt an die militärpolitischen Grundlagen der NATO gelegt. Die Grundgedanken der Studie sind schnell zusammengefaßt:

Die NATO- und US-Streitkräfte und ihre militärischen Doktrinen seien in hohem Maße auf zwei Bedrohungsfälle ausgerichtet und vorbereitet: auf einen umfassenden Krieg in Mitteleuropa und auf einen nuklearen Schlagabtausch zwischen den USA und der Sowjetunion. Beide Szenarien seien eher unwahrscheinlich, und außerdem basiere die NATO-Doktrin in beiden Fällen letztendlich darauf, eine feindliche Aggression damit abschrecken zu wollen, daß man dem Gegner, praktisch aber auch sich selbst, mit Vernichtung bedrohe. Diese Drohung mit der Selbstvernichtung sei auf Dauer weder praktikabel, noch glaubwürdig.

Davon ausgehend wird nun nicht die Notwendigkeit einer umfassenden regionalen oder globalen Friedenspolitik abgeleitet, sondern das Gegenteil: es komme vielmehr darauf an, die eigenen Streitkräfte und Doktrinen so umzustrukturieren, daß den unterschiedlichen militärischen Bedrohungen tatsächlich und "angemessen" militärisch entgegengetreten werden könne. Mit anderen Worten: die US-Streitkräfte sollen verstärkt in die Lage versetzt werden, mit jeder möglichen Art von Krieg nicht nur "abschreckend" drohen, sondern sie praktisch und siegreich führen zu können.

Dieser Ansatz wird verbunden mit einer Neueinschätzung dessen, was aus US-Perspektive weltweit militärische Priorität haben soll. Es ist beileibe kein Zufall, daß der Bericht nach einem Überblick über mögliche Tendenzen der Weltpolitik (Stichwort: Polyzentrismus) nicht mit der NATO beginnt, sondern sein erstes Kapitel den "Konflikten in der Dritten Welt und den US-Interessen" gewidmet ist. Das nächste Kapitel handelt dann überwiegend vom Nahen und Mittleren Osten als Vorfeld zur Sowjetunion, erst dann wird - kürzer - auf das bisherige Kernstück US- amerikanischer Verteidigungspolitik - die NATO - ausführlich eingegangen. All dies ist kein Zufall. Die Studie unterstreicht Tendenzen gegenwärtiger militärpolitischer Diskussionen in den USA, in denen die Dritte Welt (insbesondere Regionen wie der Mittlere Osten und Mittelamerika) deutlich höher eingeschätzt wird als bisher, während Mitteleuropa - auch vor dem Hintergrund wachsender Interessendifferenzen - in der Bedeutung schrittweise zurückgestuft wird. Das beherrschende Konfliktszenario z.B., das in der Studie mehrmals angeführt wird, sieht nicht Europa als Brennpunkt, sondern den Golf - eine sowjetische Invasion im Iran etwa mit resultierender Konfrontation mit Streitkräften der USA.

Diese Akzentverschiebung führt zu zwei Ergebnissen: einmal muß auch für das europäische Gefechtsfeld aus Sicht dieser Studie eine Veränderung der militärischen Strategie vorgenommen: werden, die die Drohung mit Selbstvernichtung durch praktikable Konzepte der Kriegführungsfähigkeit ersetzt. Europa wird zur Manövriermasse horizontaler Eskalation: Der hypothetische Konflikt am Golf muß "selbstverständlich" mit Truppenverstärkung und ggfs. Kampf in Europa beantwortet werden können - schließlich darf man dem Russen nicht die freie Wahl des Kampffelds überlassen. Ist Krieg in Europa als Möglichkeit zur Austragung des weltweiten Konflikts einmal anerkannt, folgt logisch, daß man diesen Krieg auch gewinnen möchte - und das geht nur durch entschlossenen Angriff. Die NATO muß also für die Zentralfront eine offensive Option entwickeln und durchplanen.

Dieses neue Europabild ist auch in konservativen militärpolitischen Kreisen in der Bundesrepublik nicht unbemerkt geblieben, und hat dort blankes Entsetzen hervorgerufen. Der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Wimmer, hat beispielsweise kommentiert, daß mit den Konzepten der Studie, "der Zusammenhalt des westlichen Bündnisses auf Dauer in Frage gestellt" sei. Diese Einschätzung ist völlig realistisch.

Das zweite Element zielt auf die Dritte Welt. Hier sind US-Interessen in Zukunft vorrangig bedroht, darum müssen die Bewaffnung und die Einsatzart der US-Truppen stärker darauf ausgelegt werden. Hier heißt das· Stichwort: "low-intensity warfare", "Kriegführung mit niedriger Intensität". Hier ist leider nicht der Ort, auf diese Konzepte inhaltlich näher einzugehen, dies ist an anderer Stelle bereits geschehen (ein entsprechendes Arbeitspapier kann für 5 DM plus Porto bezogen werden bei: Institut für Internationale Politik, Neue Friedrichstr. 12, 5600 Wuppertal). Es soll nur festgestellt werden, daß es einen Bestandteil der Verlagerung der Kriegsgefahr in die Dritte Welt ausmacht, und von der US-Regierung heute als "die zentrale strategische Herausforderung über die Jahrtausendwende hinaus" betrachtet wird. Dieser Diskussionsstrang wurde bisher in der Bundesrepublik viel zu wenig beachtet.

Eine Schlußbemerkung: Der Stellenwert der Studie ist ein doppelter. Sie zielt einerseits auf die laufende militärpolitische Diskussion. In diesem Rahmen haben sich die Hardliner zu Wort gemeldet und legen Konzepte vor, die konsequent auf militärische Überlegenheit setzen und in denen selbst klassische Rüstungskontrollkonzepte nur noch ein Schattendasein fristen: Rüstungskontrolle ist nur da sinnvoll, wo sie hohe sowjetische Investitionen wertlos macht und deshalb für die USA günstig ist.

Neben diesem konzeptionellen Aspekt ist ein anderer von überragender Bedeutung: das innenpolitische Interesse der Autorinnen innerhalb der USA. Dieses Interesse ist sowohl rückwärts, als auch vorwärts gerichtet: nach hinten, weil die Studie die flexiblere Politik der Reagan-Administration implizit massiv kritisiert, und sozusagen den "frühen" Reagan gegen den "alten" ausspielen möchte. Hier melden sich - zum Teil schon abgehalfterte - Falken zu Wort, Weinberger ließ noch ein letztes Mal gezielt zuschlagen, um der neuen, weichen Welle etwas entgegenzusetzen. Zweitens zielt das Papier zugleich nach vorn: auf die nächste Präsidentschaft. Eine Riege gestandener Militaristen macht einen klaren Schnitt mit den letzten Jahren und legt Konzepte vor, die - von einer Kritik der letzten Reagan-Jahre ausgehend - sie einem zukünftigen Präsidenten empfehlen sollen.

Abschließend stellt sich die Frage, wie westeuropäische Verteidigungspolitiker mit solchen Konzepten umgehen. Wichtig ist es zu sehen, daß die Studie gerade von klassischen Atlantikern wie Kissinger mitgetragen wird, von Leuten, die sehr wohl wissen was es bedeutet, den Europäern in aller Offenheit Offensivplanungen anzuempfehlen - und die es trotzdem tun. Wesentliche Akzente der Studie wurden ja auch in Europa einhellig zurückgewiesen - was für die inneramerikanische Diskussion ironischerweise nur dazu·beitrug, den Stellenwert der Studie zu erhöhen. Es steht zu befürchten, daß die westeuropäischen Regierungen sich in Erkenntnis ihres abnehmenden Gewichts für die US-Außenpolitik verstärkt bemühen werden, das transatlantische Verhältnis zu stabilisieren und dabei zu vielen konzeptionellen Zugeständnissen bereit sein werden (z.B, in der Out-of-Area-Frage der NATO).

Komplementär verstärkt die US-Diskussion natürlich die Anstrengungen, eine funktionierende westeuropäische Militärkooperation auf die Beine zu stellen - auch dies von den USA jedenfalls bisher durchaus gewollt. In jedem Fall verändert sich aber das Diskussionsfeld: Die einhellige Zurückweisung offensiver Optionen für die europäische Zentralfront macht völlig vergessen, daß wesentliche Elemente dieser Offensivoption schon eingeführt sind bzw. es gerade werden - die Air-Land-Battle-Doktrin, das Konzept der Follow-on Force-Attack (FOFA), oder schlichte Tatsachen wie das Operationsgebiet der Bundesmarine - es umfaßt die ganze Ostsee bis hinauf nach Leningrad - und keineswegs nur den "Schutz der Nordseezugänge".

Vielleicht weniger die Studie selbst, aber sehr wohl die sich darin zeigenden Umbrüche im transatlantischen Verhältnis dürften eine wesentliche Rolle für die sicherheitspolitische Diskussion aller etablierten Parteien in den nächsten Jahren spielen - und für die Diskussion in der NATO als ganzer.

 

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Jochen Hippler, Institut für Entwicklung und Frieden, Universität Duisburg-Essen. E-Mail: kontakt (at) forumzfd (Punkt) de Website: www.friedenbrauchtfachleute.de
Mitarbeiter der grünen Bundestagsfraktion